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Philipp Schönthaler: "Die Automatisierung des Schreibens"
Jenseits der Genie-Ästhetik

Vom Federkiel zum Laptop: Philipp Schönthaler zeigt in "Die Automatisierung des Schreibens", wie technische Neuerungen das Schreiben verändern – und warum Autorinnen und Autoren vor künstlicher Intelligenz keine Angst haben müssen.

Von Frank Kaspar |
Der Autor Philipp Schönthaler und das Cover seines Buchs  „Die Automatisierung des Schreibens“
Philipp Schönthaler sieht das Erzählen durch die Technisierung des Schreibens nicht in Gefahr. (Cover: Matthes & Seitz / Autorenportrait: Julia von Vietinghoff)
1845, Annette von Droste-Hülshoff schimpft über kratzende Stahlfedern. Mit Gänsekiel und Tintenfass war es doch schon schwer genug. Der neumodischen Alternative kann die Dichterin nichts abgewinnen. 1882, Friedrich Nietzsche kauft sich eine Schreibmaschine. Damit gilt der Philosoph als Pionier. Aber als das Gerät kaputtgeht, kehrt er zurück zum Federhalter. Ein ganz bestimmter muss es sein, denn nur mit diesem Modell kann Nietzsche schreiben.

Poeten im Blaumann

1920, Tristan Tzara braucht überhaupt kein Schreibgerät. Die Wörter sind doch schon überall, man braucht sie nur einzusammeln. „Nehmt Zeitungen. / Nehmt Scheren“, schreibt Tzara in seiner Anleitung zur Herstellung eines dadaistischen Gedichts. Seine Dada-Kollegen John Heartfield und George Grosz treten am liebsten im Blaumann auf…
„… um auch dem Letzten klar zu machen, dass Monteure am Werk sind, die mit vorgefertigtem Material hantieren. – Gegenüber dem Schreiben als schöpferischem Prozess setzen die Avantgarden auf materielle und regelgeleitete Verfahren.“

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Wie hat sich das Schreiben verändert im Zeichen von technischem Fortschritt und wechselnden ökonomischen Anforderungen? Und wie hat sich diese Entwicklung auf das Selbstverständnis von Dichterinnen und Dichtern ausgewirkt? Diesen Fragen hat der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Philipp Schönthaler eine umfangreiche Studie gewidmet.

Konkurrenz für Hand- und Kopfarbeit

Die Avantgarden der 1910er- und 20er-Jahre – Dada, Futurismus, Surrealismus – bilden dabei die erste Etappe. Die Mechanisierung des Schreibens unter dem Diktat einer immer strafferen Taktung von Industrie- und Büroarbeit wird für sie zur Quelle der Inspiration: Autorinnen und Autoren erproben neue Formen im beschleunigten Rhythmus der Zeit und grenzen sich ab vom romantischen Ideal des schöpferischen Genies.
Nicht die innere Haltung, Weltsicht und Aussageabsicht steht im Fokus, sondern die äußere, handwerkliche Verfertigung von Texten, die prinzipiell auch von Maschinen übernommen werden kann. Dieser Trend spitzt sich zu, als nach dem Zweiten Weltkrieg Computer Einzug in die Arbeitswelt halten. Zunächst als Großrechner vor allem für das Militär eingesetzt, bieten sie sich allmählich auch für zivile Anwendungen an. Und schon kommt die Frage auf, ob auch der Kopfarbeit eine technische Konkurrenz erwächst.
„Noch bevor sie von Unternehmen angekauft werden, lösen die Anlagen auf beiden Seiten des Atlantiks heftige Debatten aus. Nach der Ersetzung der Hand, so die Befürchtungen, schaffen die ‚elektronischen Gehirne‘ nun die geistige Arbeit ab. Was in der Öffentlichkeit als Bedrohungsszenario diskutiert wird, geht durch die Maschine als positive Vision in die computergenerierte Literatur der Zeit ein.“

Experiment und Eigensinn

Schönthaler zeigt, dass der Siegeszug des Computers in den Nachkriegsjahren unter Autorinnen und Autoren Experimentierfreude und Skepsis gleichermaßen freisetzt. Der Stuttgarter Physiker und Philosoph Max Bense entwickelt eine „Informationsästhetik“, die darauf abzielt, das subjektive, künstlerisch gestaltende Autoren-Ich möglichst vollständig auszuklammern.
Benses Schüler, der spätere Informatiker Theo Lutz, lässt sich davon zu „stochastischen Gedichten“ anregen: Er schreibt ein Programm, das Textfragmente aus Franz Kafkas Roman „Das Schloss“ neu arrangiert. Wie bei Schönthaler nachzulesen ist, bessert Lutz dann allerdings hier und da von Hand noch nach.

Wenn du denkst, du fühlst…

Demgegenüber greifen Schriftsteller wie Samuel Beckett, Georges Perec oder Konrad Bayer zwar ebenfalls Prinzipien der Automatisierung auf, sie legen es aber von vornherein nicht darauf an, die Kontrolle komplett an Algorithmen abzugeben. In Perecs Hörspiel „Die Maschine“ analysiert ein Computer Goethes Gedicht „Wanderers Nachtlied“ und schreibt es auf amüsante Weise weiter. Beckett nutzt das Verfahren der Permutation in seinem Roman „Watt“, wenn er über den Titelhelden schreibt: er fühlte sich zwar nicht ruhig und froh und frei, aber er dachte, dass er sich vielleicht ruhig und froh und frei fühlte…
„… oder, wenn nicht ruhig und frei und froh, wenigstens ruhig und frei oder frei und froh oder froh und ruhig, oder, wenn nicht ruhig und frei oder frei und froh oder froh und ruhig, wenigstens ruhig oder frei oder froh, ohne es zu wissen.“

Ausblicke in Wirtschafts- und Sozialgeschichte

Schönthaler schreibt pointiert aber gleichzeitig hoch verdichtet und reich an Referenzen. Allein 100 der knapp 600 Seiten entfallen auf Anmerkungen und Quellenverzeichnis. Es ist ein Buch für Leute, die es genau wissen wollen, ein Buch, das auch seinen Leserinnen und Lesern ein bisschen Arbeit zumutet. Dem subjektiven Erzählen attestiert Schönthaler gute Überlebenschancen – schon deshalb, weil das Storytelling in der Welt der Wirtschaft hoch im Kurs steht, wie der folgende Anzeigentext bezeugt:
„Wir helfen zweckorientierten Organisationen […], die Menschen, denen sie dienen – Mitarbeiter, Kunden und Ökosystempartner – durch die Kunst und Wissenschaft des modernen Storytellings effektiver und effizienter einzubinden.“
In einer der wirkmächtigsten Erzählungen unserer Tage lebt der Netzwerkgedanke der Computereuphorie fort: Mit der Aussicht, in ökologisch-kybernetische Netzwerke eingebunden zu sein, verbinden viele die Hoffnung auf eine gerechtere Gesellschaft. Philipp Schönthalers anregendes Buch erzählt auch ihre Vorgeschichte.
Philipp Schönthaler: „Die Automatisierung des Schreibens & Gegenprogramme der Literatur“
Matthes & Seitz Berlin, Berlin. 575 Seiten, 38 Euro.