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Jérôme Ferrari: "Nach seinem Bilde"
Die Erforschung der menschlichen Seele

Der neue Roman des Franzosen Jérôme Ferrari zeigt vieles zugleich: Die Insel Korsika als Schauplatz für die gewalttätigen Konflikte der Menschheit und ein Panorama vom Ersten Weltkrieg bis in die Gegenwart anhand der Geschichte der Fotografie. Entstanden ist ein philosophischer Roman über die Macht der Bilder.

Von Dirk Fuhrig | 28.08.2019
Buchcover: Jérôme Ferrari: „Nach seinem Bilde“
Korsika ist ein weiteres Mal der Schauplatz: in Jérôme Ferraris Roman "Nach seinem Bilde" (Hintergrundfoto: imago stock&people/blickwinkel, Buchcover: Secession Verlag)
"Du sollst dir kein Bildnis machen" - dieses im zweiten Buch Mose formulierte Verbot stellt Jérôme Ferrari als Motto an den Beginn des Romans. Doch er macht das Gegenteil. Denn es geht ihm genau darum: anhand von Bildern und Fotografien sowohl vom Grauen als auch von der Banalität der Welt zu erzählen - etwa anhand eines scheinbar harmlosen Schnappschusses vor einem Café auf Korsika.
"Beim Entwickeln stellte Antonia überrascht fest, dass das Foto perfekt war – und lernte auf diese Weise, dass sie niemals an der Verschwendungssucht des Zufalls verzagen brauchte: Man sieht darauf die Jungs, mit angeekelter oder missbilligender Miene, allesamt die Köpfe in Richtung des linken Bildrands streckend, an dem gerade die unbekümmerten Touristen erscheinen, wie sie unter dem Schild der Bar voranschreiten. Pascal B. schaut gleichfalls in ihre Richtung, aber sein Blick drückt mehr als nur Missbilligung oder Ekel aus."
Antonia, die Protagonistin des Romans, macht ein Foto der Dorfjugend, die ihre postpubertären Aggressionen an harmlosen Touristen - an Fremden, Leuten, die nicht von der Insel kommen - auslässt.
"Sie gingen lächelnd ihres Weges, als gäbe es die außergewöhnlich feindselige Welt, die sie umgab, gar nicht. Man kann unmöglich entscheiden, ob ihre Verblendung aus Unschuld oder Verachtung erwachsen ist. Das Foto, obgleich es die Möglichkeit dazu erahnen lässt, zeigt nicht, wie der Mann, eine Sekunde später, in einer abrupten Hinwendung zu seiner Frau, Pascal B. anrempelte, der daraufhin seinen Kaffee verschüttete und einen kurzen Moment lang mit dem Ausdruck ungläubiger Verblüffung die braunen Flecken besah, die sein weißes Ensemble besudelten. Der Schuldige öffnete den Mund, vielleicht, um nutzlose Entschuldigungen hervorzubringen, Pascal B. jedoch ließ ihm keine Zeit zu reden und versetzte ihm einen Schlag gegen den Kopf."
Der scheinbar richtige Moment
Der scheinbar richtige Moment kann genau der falsche sein. Das Foto zeigt einen Augenblick der Wirklichkeit, die in der nächsten Sekunde eine ganz andere Wendung nimmt, in Brutalität umschlägt.
"Ihr Mund war trocken, ihr war leicht schwindelig, sie fühlte einen Anflug von Scham und war zugleich von dem, dessen Zeugin sie soeben geworden war, unfassbar erregt, diesem Ausbruch purer Gewalt, der so unverhältnismäßig war, dass er vollkommen willkürlich wirkte, sie hatte die Nähe daran gemocht, sie hatte den Sinn darin erfasst, und als Pascal B. schließlich aus der Bar trat, wo er vergeblich versucht hatte, mithilfe eines feuchten Tuchs die Kaffeeflecken zu entfernen, fand sie ihn noch viel anziehender."
Pascal B., Antonias ungelenker und ungestümer Liebhaber, entwickelt sich zu einem fanatischen Nationalisten, der die korsische Unabhängigkeitsbewegung mit Morden und Entführungen vorantreibt. Antonia ist die einzige aus ihrer Gruppe, die den begrenzten Horizont der Insel verlässt. Sie nimmt ihre Kamera, die sie als Jugendliche geschenkt bekommen hat, und fährt nach Ex-Jugoslawien, in den Krieg.
"Das zweite Foto von Ron H. wird publiziert. Man sieht darauf einen von Arkans Männern, wie er sich anschickt, drei bosnischen Zivilisten, die er eben erst abgeschlachtet hat, einen Tritt zu versetzen. Der Milizionär scheint sehr jung zu sein. Er trägt, hochgeschoben in sein Haar, eine Sonnenbrille, deren Gestell weiß ist und somit ganz klar darauf hindeutet, dass der Abzug sich nicht auf etwas Historisches, sondern auf etwas Gegenwärtiges bezieht. Er steht auf sein linkes Bein gestützt, er hält den Körper leicht nach hinten gebeugt, das rechte Bein ist angewinkelt, bereit, gleich zuzutreten. In seiner Linken hält er, zwischen kraftlos gespreizten Fingern, eine Zigarette mit der eleganten Geste aristokratischer Gelassenheit. Ein Mann und zwei Frauen liegen ausgestreckt auf dem von frischem Blut glänzenden Bürgersteig. Man weiß nicht, auf welche der Leichen der Fußtritt gerichtet ist."
Bildunterschriften als Ausgangspunkt
Schon Ferraris erfolgreicher und mit dem Goncourt-Preis ausgezeichneter Roman "Predigt auf den Untergang Roms" begann mit einer Bildbeschreibung. Damals diente ein Familienfoto als Ausgangspunkt, von dem aus er sowohl die Verwicklung von Korsen in die Kolonialkriege Frankreichs als auch den gewalttätigen Separatismus eines Teils der Inselbewohner beschrieb. Im neuen Buch stellt Jérôme Ferrari jedem Kapitel ein Bild voran - allerdings sind keine Fotos abgedruckt, sondern lediglich die Bildunterschriften, aus denen der Leser die Abbildung erahnen kann. Aufnahmen aus der Frühzeit der Farbfotografie, von vor dem Ersten Weltkrieg auf dem Balkan oder in den Kolonialgebieten Nordafrikas, mit Motiven von Kriegsverbrechen und Gemetzeln - aber auch Alltagsfotografien von großer Belanglosigkeit.
"Er zeigte auf die Kamera, die ihr über der Schulter hing. Gibt es hier was Interessantes zu fotografieren? Sie lachte auf. Nein. Nichts Interessantes, wirklich nicht. Sie mache mittlerweile Hochzeitsfotos. Fotos von Eheschließungen. Von gerührten Familien. Von Pärchen natürlich, von wahnsinnig vielen Pärchen, vor Blumengebinden, Luxuslimousinen oder Sonnenuntergängen am Mittelmeer. Jedes Mal dieselben und dabei seltsam grotesken, sich wiederholenden und flüchtigen Dinge. Sie verdiene gut, aber interessant sei es ganz gewiss nicht. Sie schwieg. Sie fürchtete, er könnte den Grad ihrer Verbitterung erfassen."
Ein Foto kann vom größten Menschheits-Elend, aber auch nur den Abgründen des Familienglücks erzählen. Dabei ist die Handlung des Romans vor der Erfindung des Dauer-Bilder-Machers Smartphone angesiedelt. Ferrari hat sich von realen Fotos und von realen Gestalten inspirieren lassen. Dass außer Antonia fast alle Figuren mit abgekürzten Nachnamen - Pascal B., Simon T. etc. - benannt werden, verleiht dem Text eine Aura von journalistischer Recherche. Antonia ist ja Reporterin, wenn auch für ein korsisches Lokalblättchen, das sich nur für die wohl arrangierten Familien- und Vereinsfotos interessiert und nicht für die Dokumente aus dem Krieg.
Vibrierende Lakonie
Die stilistische Kunst Jérôme Ferraris liegt darin, die Höhen der Reflexion über Wesen und Ursprung der Fotografie mit den Niederungen des Voyeurismus und menschlicher Niedertracht zu verknüpfen. Die Monstrosität von Kriegsgräueln findet ihr Pendant in den von Fanatismus, Verblendung und Verrohung geprägten Ritualen der korsischen Unabhängigkeitskämpfer. Ferraris kühle, prägnante Sätze sind mal von zarter Ironie, mal von bitterem Spott durchzogen. Manche wirken auf den ersten Blick einfach konstruiert und scheinen sich an Nebensächlichkeiten aufzuhalten. Man spürt jedoch hinter fast jeder Silbe einen geheimen Hintersinn. Diese vibrierende Lakonie hat der Übersetzer Christian Ruzicska kongenial ins Deutsche gebracht.
Wie schon in früheren Werken, bringt Ferrari auch hier wieder die Zeitgeschichte und die des gesamten 20. Jahrhunderts - eben vom Vorfeld des Ersten Weltkriegs bis hin zum Balkankonflikt - in einen Zusammenhang mit Philosophie und Religion. Er bezeichnet sich selbst als nicht gläubig, jedoch erkennt er die suggestive Kraft der bildhaften Vorstellung, derer sich Religionen - trotzt des mosaischen Verbots - stets bedient haben:
"Die Bilder sind eine offene Tür hin zur Ewigkeit. Aber die Fotografie besagt nichts über die Ewigkeit, sie schwelgt in Flüchtigkeit, attestiert das Unabänderliche und schickt alles zurück ins Nichts. Hätte es sie bereits zu Jesu Zeiten gegeben, das Christentum hätte sich nicht entwickelt oder wäre bestenfalls eine grauenhafte Religion der Hoffnungslosigkeit geworden. Damals hätte man Bilderstürmer sein und nichts bestehen lassen müssen. Die noch so realistischen bildlichen Darstellungen der Kreuzigung lassen in der Verletzung des Fleisches, wie in einer Umkehrung, das Wunder der Auferstehung flüchtig erkennen. Hätte es eine Fotografie vom Tode Christi geben können, sie hätte nichts anderes gezeigt als einen zu Tode gefolterten und dem ewigen Tod ausgelieferten Körper. Auf den Fotografien sind die Lebenden selbst zu Leichen verwandelt, da jedes Mal, wenn der Auslöser klickt, der Tod bereits eingetreten ist."
Das Foto als Gegenteil des Bildes
Das Foto, so wie es in unserer heutigen Mobiltelefon-Welt täglich die Sinne vernebelt, ist für Jérôme Ferrari das Gegenteil des "Bildes", das wir uns von einem Ereignis machen. Eine Geschichte, Literatur also, kann den Dingen besser auf den Grund gehen - so mag man nach der Lektüre dieses anregenden, intellektuell herausfordernden Romans folgern. "Nach seinem Bilde" ist das Gegenteil einer leichten korsischen Sommerlektüre. Jérôme Ferrari hat damit sein Projekt der Erforschung der menschlichen Seele - begonnen mit "Ein Mensch ein Tier" und fortgesetzt in "Predigt auf den Untergang Roms" - auf eindrucksvolle Weise weitergeschrieben.
Jérôme Ferrari: "Nach seinem Bilde"
aus dem Französischen von Christian Ruzicska
Secession Verlag, Berlin/Zürich. 217 Seiten, 20 Euro.