Dienstag, 23. April 2024

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Jo Leinen zur Krim-Krise
"Wir brauchen eine neue Osteuropapolitik"

Man habe Russland nach dem Zusammenbruch des Sowjetreichs "zeitweise ziemlich hochnäsig behandelt", sagte SPD-Europapolitiker Jo Leinen im Deutschlandfunk. Die aktuelle Krise sollte Anlass für einen neuen Anlauf sein, "EU-Russland-Gespräche auf der Ebene jenseits der Ukraine zu führen".

Jo Leinen im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 06.03.2014
    Dirk-Oliver Heckmann: In Brüssel sind die Staats- und Regierungschefs der EU vor einer dreiviertel Stunde zu einem Sondergipfel zusammengekommen, um über Konsequenzen aus der Ukraine-Krise zu beraten und aus der Weigerung Moskaus, sich mit der neuen Regierung in Kiew an einen Tisch zu setzen.
    Telefonisch zugeschaltet ist uns jetzt aus Kiew Jo Leinen von der SPD. Er sitzt im Auswärtigen Ausschuss des Europäischen Parlaments und ist soeben in der Hauptstadt der Ukraine gelandet. Schönen guten Tag, Herr Leinen.
    Jo Leinen: Guten Tag!
    Heckmann: Herr Leinen, Litauens Präsidentin Grybauskaite sagt, Europa versteht immer noch nicht was passiert, wir müssen verstehen, dass Russland gefährlich ist. Hat Europa also die Gefahr noch nicht ausreichend erkannt, die von Moskau ausgeht?
    Leinen: Nun, es kann sein, dass wir auf verschiedenen Ebenen miteinander sprechen. Putin auf der Ebene der Macht und in der Krim auch mit der Gewalt und wir auf der Ebene des Dialogs und des Gesprächs. Man muss jetzt wirklich die Ebenen noch mal anpassen, testen natürlich, ob ein Dialog möglich ist mit Russland, und wenn nicht, dann werden ja heute die Gipfelteilnehmer auch über weitere Maßnahmen beraten.
    Heckmann: Grybauskaite sagt, Russland wolle die Nachkriegsgrenzen Europas neu ziehen. Werner Schulz, der Bündnis-Grüne, sprach heute früh hier im Deutschlandfunk von Putin als einem Despoten, einem Kriegstreiber und einem Verbrecher, und die ehemalige amerikanische Außenministerin Hillary Clinton, die hat das Verhalten Putins mit dem Hitlers verglichen.
    Leinen: Nun, ich halte nichts von solchen Verbalinjurien. Man muss, glaube ich, doch eher realistisch sehen, was ist in Europa los. Das Sowjetreich ist zusammengebrochen, Russland wurde auch zeitweise ziemlich hochnäsig behandelt und hat sicherlich auch Interessen in seiner Nachbarschaft, die EU und die NATO rücken immer näher ran. Also ich glaube, wir brauchen eine neue Europapolitik, insbesondere eine neue Osteuropapolitik, und irgendwie sind wir Nachbarn. Es müsste letztendlich auch zusammen gehen und vielleicht ist jetzt diese Krise ein Anlass, noch mal einen neuen Anlauf für EU-Russland-Gespräche auf der Ebene jenseits auch der Ukraine zu führen.
    Heckmann: Wenn ich ganz kurz einhaken darf, Herr Leinen. Sie sagen, Russland ist hochnäsig behandelt worden und greift sich jetzt die Krim sozusagen. Und Sie haben dafür Verständnis?
    Leinen: Nein, ich habe überhaupt kein Verständnis dafür, und ich glaube, wir müssen jetzt auch wirklich Stoppschilder aufstellen. Wir haben schon die schlechten Erfahrungen mit Georgien gehabt, jetzt probiert Putin dasselbe bei der Krim und der Ukraine, und wir dürfen nicht vergessen Transnistrien und Moldawien. Ich glaube, eine Gesamtpolitik ist jetzt notwendig. Wir müssen Stärke zeigen, aber sicherlich auch mit Russland über wechselseitige Interessen sprechen.
    Heckmann: Wir müssen Stärke zeigen, sagen Sie. Die Amerikaner, die denken ja über harte Sanktionen gegen Moskau nach und haben teilweise auch schon Schritte eingeleitet, was die militärische Zusammenarbeit angeht beispielsweise. Die Europäische Union, die will es offenbar erst mal bei weichen Maßnahmen belassen. Ist die Europäische Union zu feige, Moskau die Stirn zu bieten?
    Leinen: Wir haben auch natürlich eine andere Lage. Die Amerikaner haben gerade mal zwei Prozent Handelsvolumen mit Russland. Bei Europa und insbesondere bei Deutschland ist das wesentlich anders, viel höher. Trotzdem bin ich der Meinung, dass die Wirtschaftsinteressen jetzt nicht im Vordergrund stehen dürfen. Europa muss sich entscheiden, ob wir auf der Seite des Freiheitswillens der Ukraine und der Menschen in der Ukraine stehen, und die Antwort kann nur ja sein, und wir müssen alles tun, diesen Freiheitswillen auch über die nächsten Wochen und Monate zu begleiten, hin zu einer neuen Regierung und natürlich auch zu all den Hilfen, die das dann braucht.
    Alle 28 müssen an einem Strang ziehen
    Heckmann: Die Verhandlungen über Visa-Erleichterungen könnten möglicherweise auf Eis gelegt werden mit Moskau, auch das neue Grundlagenabkommen. Das sind insofern allerdings auch wirklich weiche Maßnahmen, als diese Gespräche ohnehin kaum vorankommen. Macht sich da Europa einen schlanken Fuß?
    Leinen: Ich gebe dem Dialog immer noch eine Chance. Ich glaube, dass Putin natürlich auch testet, wie einig Europa ist, und wir können nur wirklich etwas bewirken, wenn heute Nachmittag bei dem Gipfel alle 28 an einem Strang ziehen. Wenn da die einen in die eine Richtung und die anderen in die andere Richtung ziehen, dann wird da nichts draus. Die Einigkeit macht stark und da kann man Schritt für Schritt vorgehen. Wir können heute schon einige Maßnahmen beschließen, von Visa-Beschränkungen auch über das Nachdenken, welche Personen wie auch welche Wirtschaftseinheiten aus Russland mit im Spiel sind in der Ukraine, und da nenne ich mal ganz bewusst auch Gazprom. Gazprom ist keine normale Firma, sondern ist eine politische Waffe in der Hand von Putin und da muss man auch mal nachdenken, wie diese Beziehung zu dieser Firma ist.
    Heckmann: In Washington gibt es bereits Überlegungen, ich habe es gerade eben schon erwähnt, wirklich Reisebeschränkungen aufzuerlegen bis hin zum russischen Präsidenten Wladimir Putin. Auch von Seiten der Grünen hier in Deutschland kommen entsprechende Forderungen, auch Konten von russischen Oligarchen einzufrieren. Können Sie sich solche Schritte auch vorstellen?
    Leinen: Ja. Wenn die nächsten Tage und Wochen nichts bringen und diese militärische Aktion völkerrechtswidrig auf der Krim weitergeht, dann muss Europa bereit sein, mit den USA zusammen auch die nächste Stufe der Konfrontation einzugehen. Ich glaube nur, man sollte den ersten Schritt immer zuerst tun und dann erst den nächsten. Aber Europa muss auch bereit sein, die Muskeln anzuspannen, und kann sich nicht das erlauben, dass derart mit einem Volk an unserer Grenze der EU verfahren wird.
    Heckmann: Sie sprechen von militärischen Aktionen, Herr Leinen. Moskau, der russische Präsident sagt, das sind überhaupt gar keine russischen Soldaten, die da eingesetzt sind, wir haben damit gar nichts zu tun.
    Leinen: Nun, da haben sich ja einige verplappert. Es gibt ja Video-Aufzeichnungen, wo diese Soldaten ohne offizielles Kennzeichen gesagt haben, dass sie russische Soldaten sind. Auf der Krim gibt es entweder nur ukrainische Soldaten oder russische Soldaten, und die ukrainischen sind es bestimmt nicht, ergo können es nur die russischen sein. Also alles spricht dafür, dass diese Kompanien da vorgeschickt werden, um die Krim unter Kontrolle zu haben und natürlich auch zu testen, ob sich Kiew provozieren lässt, was die Übergangsregierung Gott sei Dank bisher nicht getan hat.
    "Sezession ist nicht grundsätzlich verboten"
    Heckmann: Das Parlament auf der Krim, Herr Leinen, das hat bereits einstimmig übrigens dafür gestimmt, sich Russland anzuschließen. Am 16. März soll es dazu eine Volksabstimmung geben. Zum zweiten Mal würde sie sozusagen vorgezogen. Ist das ein Schritt, sind das Schritte, die akzeptabel sind, denn der Wille der Bürger, der soll ja in Europa immer zählen, oder?
    Leinen: Ja, die Sezession ist nicht grundsätzlich verboten. Wenn ein Volk eindeutig sich zu einer Seite bekennt, dann ist das irgendwie zu akzeptieren. allerdings sind die Umstände in der Ukraine mehr als dubios und ich glaube, Russland kann sich auch nicht auf den Vorfall im Kosovo vor über zehn Jahren beziehen. Immerhin sind diese Umstände so, dass ein militärischer Zwang dahinter steckt und man nicht so genau erkennen kann, dass da ein freier demokratischer Wille sich geäußert hat. Die Menschen sind auch gar nicht richtig informiert. Sie haben die Protestanten in Kiew als Banditen, als Terroristen, als Faschisten bezeichnet, so einseitig war die Information auf den Fernsehkanälen in Russland und auch auf den Auslandskanälen wie Russia Today. Also ich glaube, hier liegt eine fürchterliche Missinformation vor und ob man das akzeptieren kann, das ist doch höchst fraglich.
    Heckmann: Jo Leinen war das live hier im Deutschlandfunk. Der SPD-Politiker, er ist Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des Europaparlaments, war uns per Mobiltelefon aus Kiew zugeschaltet. Dort ist er gerade mit dem Flugzeug gelandet. Herr Leinen, danke Ihnen für das Gespräch!
    Leinen: Auf Wiederhören nach Deutschland.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.