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Arbeitslose wehren sich gegen Meldepflicht

"Arbeitslose haben sich während der Zeit, für die sie einen Anspruch auf Arbeitslosengeld erheben, bei der Agentur für Arbeit persönlich zu melden", steht im Sozialgesetzbuch. Das findet nicht jeder Jobcenter-Kunde fair. Die häufigen Aufforderungen zum Jobcenter-Besuch sind in ihren Augen Schikane.

Von Dieter Nürnberger | 23.08.2018
    Die Eingangstür des Jobcenters in Schwerin.
    Führt die Meldepflicht für Arbeitslose zu sinnvoller Beratung - oder ist sie Schikane? (dpa/Jens Büttner)
    Seit heute Nachmittag weiß die Musikwissenschaftlerin Beate Kutschke, dass sie auch in zweiter Instanz gegen die Bundesagentur für Arbeit verloren hat. Das Landessozialgericht in Potsdam wies zwei Klagen der Berlinerin zurück - zum einen ihren Widerspruch gegen Meldeaufforderungen der Arbeitsagentur, zum anderen auch ihre Anfechtung gegen bereits verhängte Sanktionen beim Arbeitslosengeld.
    Eine Auseinandersetzung, die bereits seit über 4 Jahren läuft. Die 50jährige Musikwissenschaftlerin hat in Deutschland immer nur befristete Arbeitsverträge bekommen, mitunter auch im Ausland als Dozentin gearbeitet. Diese Anstellungen dauerten manchmal nur wenige Monate, im besten Fall auch ein oder zwei Jahre. War die Wissenschaftlerin vorübergehend ohne Einkommen, blieb nur der Weg zur Arbeitsagentur und die damit verbundene Beantragung von Arbeitslosengeld 1.
    Meldeaufforderung - Phrase ohne Sinn?
    Für Beate Kutsche ist es eine grundsätzliche Auseinandersetzung: Sie bezweifelt Sinn und Zweck der Meldeaufforderungen der Arbeitsagentur. In ihrer ersten Meldeaufforderung stand der schlichte Satz, dass man über ihre - so wörtlich - berufliche Situation sprechen wolle:
    "Dieser Satz ist so allgemein, dass er nicht bloß für jeden Arbeitslosen passt. Gleichgültig in welcher Situation er ist. Er passt auch für jede Person, die generell in einem arbeitsfähigen Alter ist. Es gibt somit einen riesigen Adressatenkreis, dem man per Verwaltungsakt vorschreiben kann, zu einem bestimmten Termin an einem bestimmten Ort zu erscheinen und ein Gespräch zur beruflichen Situation zu führen. Ohne, dass erkennbar ist, welcher Zweck mit diesem Gespräch überhaupt verfolgt werden soll. Das ist das Kernproblem: Der eigentliche Zweck wird überhaupt nicht genannt."
    Oft dauerten solche Gespräche ohnehin nur wenige Minuten, sagt sie - eine Art ziellose Plauderei. Im Grunde könnte vieles auch schriftlich oder per Telefonat geklärt werden. Und als Akademikerin geht sie davon aus, dass ihr persönlich auch nicht zielführend geholfen werden kann.
    "Die Agentur für Arbeit kann nicht in Arbeit vermitteln. Sie kann nicht konkret an Hochschulen anrufen und eine Arbeitslose anbieten, damit diese dann eine Professur bekommt. Sie kann auch nicht bei Forschungsförderungsinstitutionen anrufen und vorschlagen, dass doch bitte ein gestellter Forschungsantrag positiv beschieden werden soll. Das sind ganz absurde Szenarien. Und vor dem Wissen, dass die Behörde tatsächlich nicht tätig werden kann, frage ich mich, welchen Sinn das Ganze macht."
    Petition gegen Behördenwillkür
    Neben der juristischen Auseinandersetzung hat Beate Kutschke auch eine Petition an das Bundesministerium für Arbeit und Soziales verfasst. Rund 1.500 Personen haben bisher unterschrieben. Unterstützt wird sie dabei von regionalen Arbeitslosenzentren ebenso wie beispielsweise von der Bürgerinitiative bedingungsloses Grundeinkommen. Sie alle wollen erreichen, dass die Meldeaufforderungen präziser begründet werden, es gehe auch um Verwaltungskontrolle und einen effektiven Schutz der Bürger gegen Behördenwillkür.
    In Fachkreisen ist der Fall umstritten. Stefan Sell ist Direktor des Instituts für Sozialpolitik und Arbeitsmarktforschung an der Hochschule Koblenz. Seiner Meinung nach gibt es stets zwei Seiten bei den Meldeaufforderungen der Arbeitsagenturen:
    "Wenn jemand in das Jobcenter einbestellt wird, dann kann man das nachvollziehen, wenn es darum geht, den Betroffenen bestimmte Angebote zu machen oder konkrete Veränderungen zu besprechen, um aus der Hilfebedürftigkeit herauszukommen. Es gibt aber auch Jobcenter, die setzen die Einbestellung ein, um gleichsam Sanktionen auszulösen. Im Wissen, dass möglicherweise ein Termin versäumt wird. Da geht es also nicht um irgendwelche Inhalte. Es geht darum Leute zu sanktionieren."
    Stefan Sell äußert deshalb ein "gewisses Verständnis" für den Fall - besonders, weil die Vermittlung von Akademikern in den Agenturen ohnehin ein Schwachpunkt sei.
    "Die Vermittlung und Beratung von Hochschulabsolventen war schon immer ein Problem. Aber die Chancen für Akademiker vermittelt zu werden, ist nochmals deutlich niedriger als für "normale Arbeitslose". Die meisten Akademiker finden auch ihre Beschäftigungen über andere Netzwerke oder Eigenbemühungen. Weniger oder gar nicht über die öffentliche Arbeitsvermittlung."
    Ein Fall für die Verfassungsrichter?
    Die Sanktionen der Arbeitsagentur infolge der Meldeversäumnisse belaufen sich bei Beate Kutschke inzwischen auf rund 1.500 Euro. Hinzu kämen rund 12.000 Euro an Anwalts- und Gerichtskosten. Eine streitbare Musikwissenschaftlerin - doch einer oder eine müsse es ja machen, begründet sie ihre Motivation. Arbeitslos ist Beate Kutschke derzeit nicht, sie hat eine Forschungsstelle in Österreich. Die ausführliche Begründung des Landessozialgerichts in Potsdam wird sie erst in ein paar Tagen erhalten. Nach der wiederholten Abweisung ihrer Klage erwägt sie nun sogar eine Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht.
    Auch Professor Stefan Sell sieht einen Grundsatzkonflikt beim System der Meldeaufforderungen und den damit verbunden Sanktionen. Das müsse von den obersten Richtern auch einmal entschieden werden. Seit über zwei Jahren liege beispielsweise ein solches Verfahren schon in Karlsruhe.