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Jörn Leonhard
"Der überforderte Frieden"

Als der erste Weltkrieg vorbei war, wollten Diplomaten und Politiker aus aller Welt in Versailles eine neue Friedensordnung errichten. Ein Vorhaben, das scheiterte. Warum und wie, beschreibt der Freiburger Historiker Jörn Leonhard detailliert in seinem neuen Werk über die Jahre 1918 bis 1923.

Von Otto Langels | 03.12.2018
    Collage: Buchcover Jörn Leonhard "Der überforderte Frieden", C.H.Beck Verlag. Hintergrundbild: Die Unterzeichnung des Versailler Vertrages im Versailler Schloss am 28.06.1919.
    „Es steht sozusagen die ganze alte Welt zur Disposition", schreibt Jörn Leonhard in seinem neuen Buch (Buchcover: C.H.Beck Verlag. Hintergrund: dpa-Bildarchiv)
    Als sich Anfang 1919 Diplomaten und Politiker aus aller Welt in Versailles versammelten, wollten sie nicht nur den Ersten Weltkrieg beenden, sondern eine neue Friedensordnung errichten. Diese sollte möglichst gerecht sein und lange währen. Ein Vorhaben, das, wie sich bald zeigte, zum Scheitern verurteilt war. Warum und wie es dazu kam, beschreibt der Freiburger Historiker Jörn Leonhard detailliert in einem voluminösen Werk mit dem bezeichnenden Titel "Der überforderte Frieden".
    Dabei schöpft der Autor noch einmal aus den Quellen, die er für sein überaus erfolgreiches Buch "Die Büchse der Pandora" über den Ersten Weltkrieg verwendete:
    "Die klassischen Darstellungen beschränken sich ja meistens auf die Monate von Januar bis Juni 1919, dann ist man eben in Paris", sagt Leonhard:
    "Und mir ging es um etwas Anderes. Mir ging’s darum, dieses Kriegsende aus dem Krieg heraus zu erzählen. Und dann aber auch mit allen Konsequenzen, und eben nicht nur den Vertrag von Versailles, sondern auch den von Lausanne oder Sèvres und Saint Germain. Insofern verändert es vielleicht auch noch mal unseren Blick darauf, wann welcher Krieg eigentlich endet und wo sich welche Gewalt wie fortsetzt."
    Leonhards Darstellung setzt nicht im November 1918 ein, sondern er geht zurück bis in die Jahre 1916/17, um zu erklären, warum viele Friedensinitiativen scheiterten.
    Siegfrieden, Kompromissfrieden, Niederlage
    Er schreibt: "Je mehr Opfer der Krieg forderte, desto schwieriger wurde es, einen Kompromissfrieden durchzusetzen. Der Krieg sollte sich um immer neue Anläufe verlängern, um einen Siegfrieden zu erreichen, der nach einem totalisierten Krieg die vielen Opfer und Belastungen an der militärischen und an der Heimatfront rechtfertigen und damit die politischen Ordnungen bestätigen würde."
    So ließ sich ein verlustreicher Krieg über Jahre hinweg mit der Aussicht auf erfolgversprechende ökonomische und territoriale Gewinne führen. Leonhard spricht von der paradoxen Ökonomie der Opfer.
    Doch es ging nicht nur um einen militärischen Konflikt. Das Jahr 1918 markierte auch einen universellen Umbruch, so Jörn Leonhard:
    "Es steht sozusagen die ganze alte Welt zur Disposition, und das ist den Zeitgenossen auch bewusst. Und genau aus diesem Umbruch folgen natürlich enorme Erwartungen an diesen neuen Frieden, der nicht nur den Krieg beenden soll, sondern eben auch eine neue politische, eine neue soziale, vielleicht sogar so etwas wie eine neue kulturelle Ordnung hervorrufen soll."
    Was sich freilich als schwere Hypothek erweisen sollte, war der Zusammenbruch von Großreichen wie der Habsburger Monarchie, dem Osmanischen- und dem Zarenreich sowie dem Deutschen Reich, ohne dass daraus stabile Ordnungen hervorgingen.
    Revolten und instabile Systemwechsel
    Die Vorstellungen des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson vom Selbstbestimmungsrecht der Völker führten in der Realität zu neuen Konflikten und entwickelten eine enorme Sprengkraft. Internationale Gremien wie der Völkerbund waren heillos überfordert, sie litten unter einem Mangel an Glaubwürdigkeit und allseits akzeptierten Kompromissen. Die Folgen sind bis heute spürbar, sagt der Historiker:
    "Das Interessante ist, dass wir an vielen Stellen sehen können bis in die Gegenwart, dass an die Stelle dieser Großreiche keine stabile Staatlichkeit getreten ist. Ohne diesen Hintergrund können wir die Geschichte der Ukraine nicht erklären - wir können den Zerfall Jugoslawiens nicht erklären, mit der Rückkehr ethnischer Gewalt, denn Jugoslawien ist ein Ergebnis dieses Zerbrechens der Habsburger Monarchie. Und im Mittleren und Nahen Osten haben wir die Situation bis heute. Und da, glaube ich, ist diese Vergangenheit sehr viel näher an unserer eigenen Gegenwart, als wir das vielleicht oft annehmen."
    Jörn Leonhard auf einer Lesung in Berlin im November 2018 zu seinem neuen Buch "Der überforderte Frieden, Versailles und die Welt 1918 - 1923, erschienen im C.H. Beck Verlag.
    Der Historiker Jörn Leonhard analysiert in einem wuchtigen Buch die Zeit zwischen 1918 und 1923 (imago/Gerhard Leber)
    Jörn Leonhard illustriert seine Ausführungen mit Ausflügen in die Literatur und Kunst, er zitiert Franz Kafka, Stefan Zweig und Robert Musil, er weitet den Blick über die europäischen Kriegsschauplätze hinaus nach Afrika oder in den Nahen Osten, und er richtet sein Augenmerk auch auf Phänomene wie die Spanische Grippe, ein welthistorisches Ereignis globalen Ausmaßes, das von den Zeitgenossen kaum wahrgenommen wurde. Leonhard schreibt:
    "Insgesamt forderte die Pandemie etwa 20 Millionen Tote, mehr als die militärischen und zivilen Opfer des gesamten Krieges. Doch für die demographische Gobalkatastrophe bei Kriegsende gab es kaum ein Bewusstsein und schon gar keine angemessene Reaktion der staatlichen Behörden. Der österreichische Minister für Volksgesundheit glaubte, die Öffentlichkeit allein mit der Ankündigung von drei Tonnen Aspirin beruhigen zu können."
    Parallelen zur Gegenwart
    Der Autor beschränkt sich in seiner Darstellung nicht ausschließlich auf die Jahre 1918 bis `23, er weist auf gewisse Parallelen zwischen der damaligen und der heutigen politischen und soziale Lage hin, zum Beispiel in Hinsicht auf das Gefühl der Unübersichtlichkeit:
    "Wir haben nach dem Ende des Kalten Krieges, nach dem Ende dieser Bipolarität der Welt auch heute eine multipolare Welt, die sehr unübersichtlich wirkt, auch mit Aufsteigern, Absteigern, mit dem großen Element, dass die Wahrnehmung eine wichtige Rolle spielt", so Leonhard.
    "Das sind eigentlich Dinge, die auch 1918/19 eine große Rolle spielen. Aber ich würde auf keinen Fall sagen, wir stehen sozusagen vor einer ähnlichen Krise wie damals. Mir geht es in dem Buch eigentlich eher darum zu zeigen, wie offen, aber auch wie belastet diese Zukunft war."
    Jörn Leonhard legt mit seinem neuen Buch "Der überforderte Frieden" ein materialreiches Werk über eine aus den Fugen geratene Welt nach dem "Großen Krieg" vor. Doch der Detailreichtum des Werks hat seine Kehrseite: Bei der Lektüre von knapp 1300 Seiten Text und einem Anhang von noch einmal 200 Seiten stellt sich mitunter ein Gefühl der Ermüdung ein, manche Redundanz schmälert das Lesevergnügen. Gleichwohl überzeugt Leonhard mit seiner anspruchsvollen und informativen Darstellung über Versailles und die Welt in den Jahren 1918 bis `23.
    Jörn Leonhard: "Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918-1923",
    C.H.Beck Verlag, 1.531 Seiten, 39,95 Euro.