Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Johann Scheerer „Unheimlich nah“
Was danach geschah

Der Autor und Musikproduzent Johann Scheerer erzählt dort weiter, wo Geschichten über wahre Verbrechen eigentlich aufhören. Nach der Entführung seines Vaters Jan Philipp Reemtsma hadert Teenager-Sohn Johann mit seinem Aufwachsen unter strengen Sicherheitsvorkehrungen.

Von Shirin Sojitrawalla | 22.01.2021
Der Schriftsteller Johann Scheerer
In seinem ersten, 2018 erschienen Roman „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ rekapitulierte Johann Scheerer die Entführung seines Vaters aus der Sicht eines Heranwachsenden. Nun erzählt er weiter. (Foto: © Stefan Schmid / Piper Verlag)
Seinen Debütroman hat er seinen Eltern gewidmet, das neue Buch ist "Für die, die wissen, wie es war". Vermutlich handelt es sich wiederum um seine Eltern, seinen Vater Jan Philipp Reemtsma und seine Mutter Ann Kathrin Scheerer. In "Wir sind dann wohl die Angehörigen" erzählte Johann Scheerer von den langen Tagen der Entführung seines Vaters im Jahr 1996. In "Unheimlich nah" schildert er, was danach geschah: Aus der Befürchtung, dass sein Leben niemals wieder so sein werde wie vor der Entführung ist Gewissheit geworden. Rund um die Uhr hat er Sicherheitspersonal auf den Fersen:
"Sechs Jahre nach meiner ersten Klassenfahrt im Gymnasium, drei Jahre nach der Entführung meines Vaters, ein Jahr vor der Jahrtausendwende, war ich nirgendwo mehr allein. Ich bewegte mich in einem Ring professionell organisierter Sicherheit, den ich immer weiter zu dehnen versuchte. Wie ein angeschlagener Boxer, der sich in die Seile fallen lässt, versuchte ich, die Unnachgiebigkeit meiner Bewacher aufzuweichen."

24-Stunden-Dauerüberwachung

Es gibt Schlimmeres, könnte man meinen, doch Johann Scheerer versteht es, den Verlust der Privatsphäre als unheimlichen Zustand zu schildern. In seinem Fall kommt erschwerend hinzu, dass er sich in der Pubertät befindet, und wie die meisten Teenager nach Freiheit und Unabhängigkeit strebt. Ein mit 24-Stunden-Überwachung schlecht zu vereinbarendes Streben. Spontaneität Fehlanzeige.
Scheerers Roman setzt im Jahr 2003 ein, der Ich-Erzähler ist erwachsen geworden und befindet sich noch immer in den Fängen der Ereignisse von damals. Rückblickend fasst er die entscheidenden Jahre nach der Entführung zusammen. Wer das liest, mag sich zunächst über den enormen technischen und finanziellen Aufwand der Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz der Familie wundern. Relativ spät wartet der Autor mit der Information auf, dass die Gefahr einer abermaligen Entführung erfahrungsgemäß immens hoch sei.
"Unheimlich nah" firmiert als Roman, doch die Parallelen zur eigenen Biografie von Johann Scheerer liegen auf der Hand. Viel von der Faszination dieser Geschichte ergibt sich aus dem Umstand, dass nur wenige sie erzählen könnten. Doch es hieße den Roman zu unterschätzen, wollte man ihn auf das Alleinstellungsmerkmal der tatsächlich miterlebten Entführung festnageln. Es ist vielmehr seine erzählerische und psychologische Kraft, die ihn besonders macht.
Buchcover: Johann Scheerer: „Unheimlich nah“
Johann Scheerer war 13 Jahre alt, als sein Vater entführt wurde. Danach wächst er mit privatem Sicherheitsdienst auf. (Piper Verlag)

Men in Black

Die Sicherheitsleute werden für das Einzelkind Johann zu Ersatzvätern und -brüdern. Der Junge fängt an, ihnen nachzueifern, trägt ab sofort auch Schwarz und schwere Stiefel.
"Ich verbrachte nun jede Minute meines Lebens in Begleitung dieser Männer. Wir unterhielten uns, scherzten und ich begann mich mit ihnen anzufreunden. Sie waren das Gegenteil meiner Eltern und somit Menschen, die mich extrem faszinierten. Auf den ersten Blick schienen sie die perfekte Hilfestellung für die Abnabelung von den Eltern zu sein, auf den zweiten Blick wurde es aber gleich unerträglich kompliziert."
Im Buch erlebt Johann Scheerer die erste Liebe und Küsse, die nach Erdbeer-Lipgloss und Zigarettenrauch schmecken. Immer wieder streut er Jugendslang und Songtexte in seine Erzählung. Refrains, die sein damaliges Lebensgefühl in Worte packen. Über allem dräut die Frage "Wer bin ich?". Die Beantwortung geht nicht ohne Redundanzen vonstatten, manch ein Gedanke wiederholt sich, etwa der nach der Größe der Bedrohung angesichts der aufwändigen Sicherheitsmaßnahmen. Scheerer erzählt auch davon mit untergründigem Witz, immer nach der Devise, dass Humor ein wichtiges Mittel der Traumabewältigung sei, wie es in "Wir sind dann wohl die Angehörigen" hieß.

Brutal zärtlicher Vater-Sohn-Konflikt

Wie dort erzählt Scheerer auch in "Unheimlich nah" von der Tektonik einer besonderen Vater-Sohn-Beziehung. Das, was für den Vater Bücher, Lesen und Schreiben bedeutet, ist für den Sohn das Musik machen, Gitarren, Verstärker. Zwei Welten zwar, aber dasselbe manische Verlangen. Der Vater erscheint im neuen Buch als gleichzeitig präsente und abwesende, zusehends kränkliche Einsiedlerfigur, die Scheerer mal brutal, mal zärtlich in den Blick nimmt.
"Ich hatte meinen Vater nie rennen gesehen. Wenn ich ihn früher mal aufgefordert hatte, schneller zu laufen, sah es aus, als ob seine Knie aneinander festgebunden wären. Und jetzt schien er die Möglichkeit, dies noch zu lernen, gänzlich verloren zu haben. 'Ein Gentleman', pflegte er zu sagen, 'rennt nicht.'"
Die meiste Zeit des Buches kreist das erzählende Ich um sich selbst und zeichnet den Weg von einem zarten Jungen zu einem exzentrischen Erwachsenen nach. Es ist auch die Geschichte einer Herkunft, die sich mental zu den klassenbewussten Erzählungen à la Didier Eribon fügt. Johann Scheerer ist zwar kein Arbeiterkind, aber eines, das weiß, was Scham bedeutet und wie es sich anfühlt, angestarrt zu werden, nicht weil man etwas machte, sondern weil man etwas war.
Johann Scheerer: "Unheimlich nah"
Piper Verlag, München, 329 Seiten, 22 Euro