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John Bercows Abschied
Der letzte "Order"-Ruf

John Bercow gibt nach zehn Jahren sein Amt als Speaker im britischen Unterhaus auf. Er hat sich als Anwalt der Abgeordneten verstanden. Mit dem, was er in Debatten zugelassen hat, ist er bei der Regierung kräftig angeeckt. Befürworter loben, dass er so die Demokratie in unruhigen Zeiten bewahrt habe.

Von Christine Heuer | 31.10.2019
John Bercow, Sprecher des britischen Unterhauses
John Bercow, Sprecher des britischen Unterhauses (imago/Jessica Taylor)
Wie muss ein Porträt über John Bercow beginnen? – Na klar, so: Sogar die Katze der Bercows heißt Order, verrät der legendäre Unterhaussprecher in dieser Talkshow. Vorher dekliniert er noch rasch verschiedene Betonungen seines berühmten Ordnungsrufs durch.
Zehn Jahre lang hat Bercow die Sitzungen im britischen Parlament geleitet. Wie er das tat, hat ihn berühmt gemacht. Wer heute "The ayes have it" hört, hat den kleinen Mann mit den bunten Krawatten und der lauten Stimme sofort vor Augen. Dabei zelebriert er eigentlich nur ein parlamentarisches Ritual, das es lange vor und natürlich auch bei John Bercows Wahl zum Speaker 2009 gab.
Von Anfang an versteht Bercow sich als Anwalt der Abgeordneten, als Diener des Parlaments, vor allem der Hinterbänkler und der kleinen Fraktionen. Rücksicht auf die Regierung nimmt er nicht. Seine Mitgliedschaft bei den Tories ruht, solange er dem Unterhaus vorsitzt. Im Lauf der Jahre ist der Sohn eines Taxifahrers vom rechten zum liberalen Flügel seiner Partei gewechselt.
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Beim Referendum hat Bercow für die EU gestimmt. Als Privatmann. Als Unterhaussprecher ist er strikt zur Überparteilichkeit verpflichtet. Ärgerliche Tory-Abgeordnete werfen ihm vor, dagegen zu verstoßen.
- "Wir alle haben in den letzten Monaten an Ihrem Auto einen abfälligen Aufkleber gegen den Brexit bemerkt. Hier geht es um Parteilichkeit. Das ist eine ernste Sache."
- "Haben Sie das Auto mit diesem Aufkleber gefahren?"
- "Dieser Aufkleber klebt zufällig am Auto meiner Frau. Sie hat ein Recht auf ihre eigene Meinung. Es ist nicht mein Aufkleber. Ende der Geschichte."
Meinungen über Bercow gehen auseinander
Trotzdem: Mit dem, was dieser Speaker zulässt oder nicht zulässt in parlamentarischen Debatten und Abstimmungen, macht er sich nicht zufällig Freunde auf der einen und Feinde auf der anderen Seite des Brexit. Die gesammelte rechte Presse jubelt dieser Tage über seinen Abgang. Die Remainer im Parlament sind voll des Lobes. Bercow, sagen sie, habe die Demokratie bewahrt in unruhiger Zeit. Und in tumultartigen Debatten. Mal kam er kaum durch mit seinen Ordnungsrufen, mal hatte er seine Stimme verausgabt.
Immer hat der Vater dreier Kinder Reformen angestoßen: Es gibt keine Perücken mehr im Unterhaus, dafür eine Betreuung für die Babies von Abgeordneten. John Bercow hat das älteste Parlament der Welt modernisiert.
Was der Brexit konkret bedeutet
Stichtag für den Brexit ist derzeit der 31. Oktober 2019. Immer noch sind verschiedene Brexit-Szenarien möglich. Und immer deutlicher wird, was dies für EU-Bürger und Großbritannien bedeutet.
Hinter den Kulissen soll der Exzentriker allerdings ziemlich unausstehlich sein können. Frühere Mitarbeiter klagen über Wutausbrüche, Beleidigungen, auch über anzügliche Bemerkungen gegenüber Frauen. John Bercow räumt ein, auch mal schlechte Tage zu haben.
"Ich glaube, ich bin ein Marmite-Charakter. Wie der englische Brotaufstrich: Manche lieben ihn, manche hassen ihn. Aber mir ist das total egal."
Politisch liegt Bercow mit Boris Johnson über Kreuz
Nun geht der Marmite-Charakter also. Begleitet von Abschiedsreden voller Lob und Dank, die Bercow öffentlich zu Tränen rühren. Und vom fröhlichen Cheerio eines anderen Marmite-Charakters. Politisch liegt Boris Johnson mit John Bercow über Kreuz. Aber ihren Humor, den teilen sie.
"Sie haben da oben in Ihrem Stuhl gesessen, Mr. Speaker, und locker Ihre persönlichen Gedanken und Meinungen eingestreut. Wie eine Ballmaschine außer Kontrolle, haben Sie immer wieder Volleys und Schmetterbälle gespielt, die buchstäblich nicht zu halten waren."
Ja, die Regierung hatte es nicht immer leicht mit diesem Speaker. Nun tritt er also seinen Ruhestand an. Schon 2020 könnte der Tennisfan seinen Traum verwirklichen und alle Grand-Slam-Turniere in einem Jahr besuchen.
Es könnte dasselbe Jahr sein, in dem in Großbritannien Bercows Albtraum wahr wird: der Brexit.