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José Eduardo Agualusa: "Die Gesellschaft der unfreiwilligen Träumer"
Die Sprengkraft der Träume

Der angolanische Journalist Daniel Benchimol träumt von Menschen, die er später kennenlernt, und findet so seine große Liebe. Sein Freund, der Hotelier und ehemalige Guerillero Hossi kann nicht mehr träumen, taucht aber in den Träumen anderer Menschen auf - was zu politischen Verwicklungen führt.

Von Birgit Koß | 14.06.2019
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Der Schriftsteller José Eduardo Agualusa und sein Roman “Die Gesellschaft der unfreiwilligen Träumer“ (Buchcover C.H. Beck Verlag / Autorenportrait (c) privat)
Träume stehen im Mittelpunkt des neuen Romans von José Eduardo Agualusa "Die Gesellschaft der unfreiwilligen Träumer". Und auch der Autor selbst bekennt sich ganz eindeutig zu seinen Träumen.
"Ganz klar träume ich, in zweierlei Hinsicht. Ich bin jemand, der zum einen die Utopien sucht, und zum anderen träume ich ganz praktisch im Alltag. Ich benutze die Träume für meine Arbeit. Ich träume manchmal von ganzen Handlungen, ich träume von Figuren, von Titeln und von Handlungssträngen und deshalb war und ist das Träumen für mich als Schriftsteller immer grundlegend."
Aus sehr vielfältigen, verschlungenen Handlungssträngen setzt José Eduardo Agualusa diesen poetischen, teils surrealen Roman kunstvoll zusammen. Erst allmählich wird daraus ein zusammenhängendes, überaus spannendes Bild, das zu einer Geschichte mit realem politischem Hintergrund führt. Es beginnt mit dem Ich-Erzähler Daniel Benchimol. Er ist ein Journalist, der sich in seinen Recherchen auf verschwundene Dinge aller Art spezialisiert hat. Gerade ist seine Ehe an seiner politischen Unbestechlichkeit zerbrochen. In seinen Träumen begegnet Daniel Benchimol Unbekannten, die er oft später im realen Leben kennenlernt.
"Ein Traum. Der, aus dem ich erwacht war, an dem Tag, als ich geschieden wurde. Teile daraus fielen mir wieder ein, als ich am Morgen danach mit der Kamera am Handgelenk zurück zum Strand schwamm. Die dunkle Bühne, die nackte Frau, ihre schlaffen, faltigen Brüste. Ich träume nicht selten von Leuten, die ich nicht kenne. Manchmal ihr ganzes Leben, von der Geburt bis zum Tod. Nach dem Konzert ging ich zur Bühne hinab, um mich der Frau vorzustellen. Sie umarmte mich zärtlich. Und sagte: ‚Es geht alles vorüber, lieber Freund. Mit der Zeit legt sich der Rost über alles. Alles, was glänzt, alles, was heute noch Flamme ist, wird zu Asche und vergeht.‘"
Brutale Verhöre und andere Gräueltaten
Um sich von den Folgen seiner unerfreulichen Scheidung zu erholen, fährt Daniel Benchimol in ein kleines Hotel am Meer. Beim Schwimmen findet er eine Unterwasserkamera. Auf dieser entdeckt er Bilder der mosambikanischen Künstlerin Moira Fernandes, in denen sie ihre eigenen Träume fotografisch inszeniert. Daniel ist völlig fasziniert und erkennt, dass Moiras Fotos bereits in seinen Träumen aufgetaucht sind.
Unter dem Vorwand, die Kamera zurückzugeben, sucht er die Künstlerin in Brasilien auf, wo sie mit dem Traumforscher Hélios zusammenarbeitet. Hélios hat mit seinem Team eine Maschine entwickelt, die Träume in Filme umwandelt. Daniel verliebt sich in Moira und es beginnt eine Romanze. Außerdem freundet sich der Journalist mit dem Hotelbesitzer Hossi Apolónio Kaley an. Dieser war als führender Guerillero in der UNITA an brutalen Verhören und anderen Gräueltaten beteiligt. Doch durch zwei Blitzschläge, die er erlitten und erstaunlicherweise überlebt hat, verlor Hossi einen großen Teil seines Gedächtnisses und kann nicht mehr träumen. Dafür taucht er in den Träumen der Menschen seiner Umgebung auf – immer in einem purpurfarbenen Jackett.
"Die Leute träumten von mir, wenn ich in der Nähe war. Träume, ja, Träume! Eine Freundin sagte einmal, dass Träumen genau wie Leben sei, nur ohne die große Lüge des Lebens. Vielleicht ist es das. Vielleicht auch das Gegenteil. Ich kann es nicht sagen. Manchmal glaube ich an etwas und genauso leidenschaftlich an dessen Gegenteil, manchmal auch leidenschaftslos. In letzter Zeit gehen mir übrigens Haare und Leidenschaft aus. Auch die Ideen und Ideale. Vielleicht ist es das Alter? Vielleicht das Nirvana? Was glauben Sie?"
Träume und ihre politischen Verwicklungen
Um seinen Gedächtnisverlust zu behandeln, wird Hossi nach Kuba gebracht. Dort gerät er schnell in die Fänge des dortigen Geheimdienstes. Man unterstellt ihm, dass er Menschen manipulieren könne, indem er in ihre Träume eindringe – eine hintergründige, urkomische Episode des Romans. Durch eingestreute Eintragungen aus Hossis Tagebuch lässt der Autor die Zeiten des brutalen angolanischen Bürgerkrieges sehr plastisch wieder auferstehen. Danach wendet sich José Eduardo Agualusa in seinem Roman der jüngsten politischen Vergangenheit Angolas zu.
"Dieses Buch entstand aus einer Episode der angolanischen Geschichte, der Inhaftierung von jungen Aktivisten, die sich für Demokratie eingesetzt haben. Diese Gefangennahmen haben eine Solidaritätswelle hervorgerufen, die letztendlich die gesamte angolanische Zivilgesellschaft mobilisiert hat, insbesondere junge Intellektuelle, junge Kreative. Schon der Unabhängigkeitsbewegung war eine Bewegung von Literaten vorausgegangen. Leute haben sich getroffen, um über Poesie zu reden und daraus entstand dann die Unabhängigkeitsbewegung. Man braucht sich nur die Geschichte Angolas anzuschauen, um festzustellen, dass die Literatur die Aufgabe hat, das Reale zu diskutieren und Debatten anzustoßen. Deswegen haben Diktaturen ja auch Angst vor Büchern, deswegen werden Bücher verbrannt, deswegen werden Leute inhaftiert. Auch diese jungen Aktivisten, die jetzt in Angola inhaftiert wurden, waren Mitglieder in einem Lese-Club, um über Bücher zu diskutieren. Die Diktaturen sind sich dessen durchaus bewusst, dass Bücher die Kraft zur Veränderung haben."
Alle Kraft für die Freilassung der Gefangenen
2015 wurde der angolanische Rapper und Menschenrechtsaktivist Luaty Beirao verhaftet und mehr als ein Jahr inhaftiert. Bei einem Hungerstreik wäre er fast gestorben. Im Roman wird Karinguiri, die Tochter des Journalisten Daniel, zur Anführerin der Hungerstreikenden. Sie und ihre träumenden jungen Freunde, die sich mit ihrem Leben für ihre Utopien einsetzen, verlangen damit auch von den Erwachsenen eine klare Haltung und Stellungnahme. Gemeinsam setzen sich Daniel und Hossi mit aller Kraft für die Freilassung der Gefangenen ein und finden schließlich eine breite Unterstützung in der angolanischen Gesellschaft.
Mit traumhafter Leichtigkeit und viel Humor entwickelt José Eduardo Agualusa seine verschlungene Geschichte von Träumen, Liebe und Widerstand. Er traut sich, seine Utopien bis zu Ende zu denken und überholt dabei so manches Mal die Wirklichkeit oder lässt sich von ihr einholen. Als er vor zwei Jahren seinen Roman beendete, war Präsident José Eduardo dos Santos nach 33 Jahren noch an der Macht, bevor er schließlich Ende 2017 nicht wieder zur Wahl antrat. "Die Gesellschaft der unfreiwilligen Träumer" endet ausgesprochen versöhnlich. Daniel Benchimol zieht mit Moira nach Mozambique. Dort lebt auch José Eduardo Agualusa, der es als einen Vorteil ansieht, das angolanische Geschehen aus der Ferne analysieren zu können.
José Eduardo Agualusa: "Die Gesellschaft der unfreiwilligen Träumer"
aus dem Portugiesischen von Michael Kegler
C.H. Beck Verlag, München, 304 Seiten, 22 Euro