"Wenn ich über Ethik spreche, dann interessiert es mich, wie man sich auf sie berufen kann, um Gewalt zu rechtfertigen. Doch im Grunde möchte ich der Frage nachgehen, worin eine nicht-gewaltsame Ethik bestehen könnte. (...) Kann es eine Ethik geben, die lebbar ist, die dem Subjekt keine Gewalt antut und die mit der Praxis von Gewaltlosigkeit verbunden ist?"
Judith Butler, die hier nach einer Ethik der Gewaltlosigkeit fragt, ist aufgrund ihrer kämpferischen politischen Positionen eine umstrittene öffentliche Figur. Zugleich gilt sie bei vielen – vor allem denjenigen, die sie nicht gelesen haben – als schwer verständliche Intellektuelle.
Nachdenken über diskriminierende Normierungen
Wer ist Judith Butler? Philosophin, Professorin, Popstar? Amerikanerin, Akademikerin, Aktivistin? Jüdin, Feministin, Frau? Für Butler sind solche Festschreibungen ausnahmslos sozial konstruiert. Sie würde sich mit keinem dieser Merkmale identifizieren – aber gleichwohl anerkennen, dass einige davon ihr Sein und Denken maßgeblich geprägt haben.
Im Elternhaus und in der Synagoge wurde sie früh mit jüdischer Philosophie und Theologie vertraut, und ihre Erfahrungen als lesbische Frau, zumal im AIDS-Zeitalter der 1980er-Jahre, wurden zum Ankerpunkt ihres Nachdenkens über diskriminierende gesellschaftliche Normierungen. Butlers epochemachende Fassung der Gendertheorie – wobei sie den Begriff Gender keineswegs "erfunden" hat, wie manche glauben – wurzelt in sozial- und sprachphilosophischen Fragestellungen.
Zur Erinnerung: Gender ist – wie es in der Aufsatzsammlung "Die Macht der Geschlechternormen" heißt – eine gewordene und veränderbare Zuschreibung:
"Gender ist der Mechanismus, durch den Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit produziert und naturalisiert werden. Gender könnte aber auch der Apparat sein, durch den solche Vorstellungen dekonstruiert und denaturalisiert werden."
Gegen eine autoritäre Moral
Für diese Operation ist der Begriff "framing" populär geworden: Ein etablierter Sprachgebrauch gibt vor, was uns als natürlich erscheint; er setzt den Rahmen, innerhalb dessen wir uns selbst und die Welt interpretieren. Es kommt darauf an, den Rahmen zu erkennen und zu verschieben. Das gilt nicht allein für Fragen der Geschlechtsidentität. In den Adorno-Vorlesungen, die Butler 2002 in Frankfurt am Main hielt, führt sie aus:
"Ich denke, dass man sich selbst oder seine Handlungen nicht völlig verstehen kann ohne Verständnis der sozialen Normen, in denen man lebt, und das bedeutet, dass Ethik uns zum Problem der Sozialkritik sei."
Eröffnung eines utopischen Horizonts
Hier hatte sich Butler kritisch mit dem Mainstream einer idealistischen Tugend- und Gesinnungsethik auseinandergesetzt. Ihre Argumentation richtete sich gegen die Idee einer auf der Autonomie des Einzelnen beharrenden, urteilenden, in der Konsequenz autoritären Moral. In ihrem neuen Buch mit dem Titel "Die Macht der Gewaltlosigkeit" öffnet sie einen utopischen Horizont:
"Viele halten das Eintreten für Gewaltlosigkeit für unrealistisch, aber vielleicht sind sie zu gebannt von der Realität. Wenn ich sie frage, ob sie in einer Welt leben wollten, wo keiner für Gewaltlosigkeit eintritt, wo niemand an dieses Unmögliche glaubt, sagen sie ausnahmslos nein."
Welcher Argumentationsweg führt nun zu einer Ethik der Gewaltlosigkeit? Auch hier betont Butler das "framing". Begriffe wie Gewalt und Gewaltlosigkeit sind immer schon interpretiert:
"Eine stabile Definition der Gewalt hängt (...) davon ab, dass man ihr Oszillieren unter gegensätzlichen politischen Rahmensetzungen begrifflich zu fassen bekommt. Die Konstruktion eines neuen Rahmens zu ebendiesem Zweck ist denn auch eines der Anliegen dieses Projekts."
Vom Begriff der Betrauerbarkeit
In dem Rahmen, den Judith Butler aufspannt, wird der Mensch nicht als souveränes Subjekt begriffen, dessen Freiheitsdrang durch moralische Selbstdisziplin gezügelt wird, sondern als verletzliches Wesen, dessen körperliches und seelisches Wohl lebenslang von der Sorge und Anerkennung der Anderen abhängt. Gewalt im gesellschaftlichen Maßstab ist ein Angriff auf diese fundamentalen Bindungen. Ganzen Populationen – von Staatenlosen über Indigene bis zu den Obdachlosen auf der Straße – wird aus rassistischen, sexistischen, militärischen oder ökonomischen Motiven die Wahrnehmung als menschliches Leben verweigert.
"Wessen Leben gilt bereits nicht mehr als Leben? Natürlich ist diese Frage am drängendsten für den- oder diejenige, die sich selbst schon als entbehrliche Art von Wesen begreift. Die auf Gefühls- oder Körperebene feststellt, dass ihr Leben nicht schützens- und achtenswert ist. Ihr ist klar, dass man um sie beim Verlust ihres Lebens nicht trauern wird. Sie ist jemand, der schon jetzt mit dem Wissen ‚Man würde nicht um mich trauern’ lebt."
So äußerte sich Butler im Jahr 2012. Gegen diesen Ausschluss prekärer, also gefährdeter Gruppen aus dem Bereich des Menschlichen setzt sie nun einmal mehr den Begriff der Betrauerbarkeit:
"Betrauerbar sein heißt angesprochen sein auf eine Weise, die mich wissen lässt, dass mein Leben zählt, dass sein Verlust nicht bedeutungslos ist, dass mein Körper als einer behandelt wird, der zu leben (...) imstande sein sollte (...), wofür auch förderliche Bedingungen gegeben sein sollten."
Bejahung des Lebens gegen Aggression
Das Konzept des betrauerbaren Lebens erweitert und vertieft das Feld des Menschlichen und beinhaltet eine radikale Gleichheit. Vor allem aber betont es die verpflichtenden Abhängigkeitsbeziehungen aller von allen Lebenden.
Sämtliche Formen der Gewalt sind dadurch gekennzeichnet, dass sie diese Interdependenz leugnen oder bekämpfen – sei es, dass ganze Bevölkerungsgruppen als Bedrohung betrachtet und vernachlässigt, wenn nicht gar vernichtet werden, sei es, dass derselbe Mechanismus in interpersonalen Beziehungen auftritt.
Butler gesteht zu, dass Aggression ein Bestandteil jeder Bindung ist. Deshalb beleuchtet sie die Wirksamkeit von Gewalt nicht nur auf dem politisch-demographischen Feld. Zu den gesellschaftstheoretischen Überlegungen tritt der Befund, dass im Innern jeder Ich-Du-Beziehung ein destruktives Potential herrscht. So erfordert Gewaltlosigkeit einen permanenten Widerstand gegen destruktive Strebungen:
"Es ist ein Kampf (...) für die Verteidigung unserer Bindungen gegen all das (...), was sie zerreißen kann. Die Einhegung der Destruktion ist eine der wichtigsten Zielsetzungen, derer wir in dieser Welt fähig sind. Es ist dies die Bejahung dieses Lebens, das immer mit dem deinen und mit dem Reich der Lebenden verbunden ist, eine Bejahung, die das Potential zur Destruktion ebenso beinhaltet wie das ihrer Gegenkraft."
Aggression als zirkuläres Denken
Wie aber kann sich die "Gegenkraft" von Liebe und Anerkennung gegen das individuelle Zerstörungspotential durchsetzen? In einer Auseinandersetzung mit den psychoanalytischen Theorien von Freud und Melanie Klein betrachtet Judith Butler Aggression als zirkuläres Denken. Die ethische Goldene Regel: "Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu" verkehrt sich in die Angstfigur: "Was du dem andern antun könntest, das könnte auch er dir antun." So wird die empfundene oder gar insgeheim gewünschte zur befürchteten Aggression. Dies führt zu einer paranoiden Wendung: der Andere wird zum Feind. Freud fand im Über-Ich die einzig mögliche Korrektur solch mörderischer Impulse, gestand aber zu, dass die Herrschaft des Über-Ichs ihrerseits so vernichtend autoritär ist, dass sie das Ich in den Selbstmord treiben kann. Gegen diese Form einer "Ethik der Gewalt" interpretiert Butler Aggression als Resultat einer frühkindlichen Erfahrung, die ebenfalls zirkulär funktioniert: Die Abhängigkeit des hilflosen Säuglings erzeugt Existenzangst und diese wiederum Zerstörungswut gegen die übermächtigen Versorger. Diese Ambivalenz setzt sich lebenslang fort:
"Hass gegen diejenigen, von denen man (...) abhängig ist, gehört (...) ganz gewiss zu jener Destruktivität, die sich in Liebesbeziehungen immer wieder Bahn bricht. (...) Das ‚Ich’ lebt also in einer Welt, in der sich Abhängigkeit nur durch Selbstauslöschung überwinden lässt."
Spiegelung von Ich und DU
Eine Gegenkraft gegen diese aggressiven Strebungen erkennt Butler mit Melanie Klein im Wunsch nach Wiedergutmachung dieser aus Bedürftigkeit erwachsenden Groll- und Hassgefühle. Eine Art fruchtbares, produktives Schuldgefühl verwandelt sich in Mitgefühl und versetzt uns an die Stelle des Anderen:
"Ich liebe dich, aber du bist schon ich und trägst die Last meiner beschädigten Vergangenheit (...). Und ich bin ohne Zweifel dasselbe für dich und trage die Last der Strafe für das, was du nie bekommen hast. Wir sind füreinander schon immer mangelhafte Substitute für unabänderliche Vergangenheiten; keiner von uns kann je das Verlangen überwinden, wiedergutzumachen, was nicht wiedergutzumachen ist. Und dennoch – hier sind wir, und hoffentlich trinken wir ein gutes Glas Wein zusammen."
In dieser Spiegelung von Ich und Du finden sich Elemente einer jüdischen Verantwortungsethik wieder, die Judith Butler in ihren früheren Schriften immer wieder anklingen lässt. Wenn wir die Zumutung der wechselseitigen Abhängigkeit auf uns nehmen, erklärt sie in ihren Frankfurter Vorlesungen, "dann heißt das, dass der Andere uns nicht nur als jemand begegnet, der außerhalb von uns ist, sondern dass er in einem bestimmten Sinn die Bedingung unseres eigentlichen Seins ist. Dann bin ich verantwortlich für den Anderen in dem Sinn, dass der Andere ein Teil von mir ist."
Zeichen der Verzweiflung
Auf der gesellschaftlichen Ebene kehrt jedoch die paranoide Wahrnehmung wieder, die im Anderen eine Bedrohung sieht und ihn als unwirkliches, unwertes, unbetrauerbares Leben betrachtet. Ob es sich um die Zurückweisung von Flüchtlingen handelt, um die Mordtaten weißer Polizisten an Schwarzen oder um den sogenannten Krieg gegen den Terror – immer wieder wird institutionelle Gewalt als Selbstverteidigung gegen imaginäre Feinde gerechtfertigt.
Mit Frantz Fanon und Michel Foucault analysiert Butler rassische Schemata und Maßnahmen der Biopolitik, die festlegen, welches Leben erhaltenswert ist und welches man auslöschen oder – in einem Ausdruck Foucaults – "sterben lassen" kann. Gegen Foucault aber besteht Butler darauf, dass auch heute noch der Staat selbst Akteur direkter, vernichtender Gewalt ist. Diese Zuspitzung führt sie zu der ernüchternden These:
"Wir können nicht davon ausgehen, dass Gewalt zu überwinden ist, indem wir vom außerrechtlichen gewaltsamen Konflikt zur Herrschaft des Rechts übergehen."
Hier beruft sich Butler auf Walter Benjamins quasi-theologische Reflexionen zum Rechtsbegriff. Danach gründet Recht nicht auf Vernunft, sondern auf Vergeltung und Machtausübung. Gewalt gilt im Recht als Mittel zur Erreichung eines Ziels; welches Ziel Gewalt legitimiert, regelt das Recht. Im Begriffsrahmen des Rechts werden alle Gegenbewegungen, die das Gewaltmonopol des Rechts bedrohen, als Gewalt bezeichnet und negativ sanktioniert. Über der Rechtsgewalt steht für Benjamin allein die "göttliche Gewalt". Darin verbirgt sich die messianische Vorstellung einer höheren Instanz, die die Herrschaft des diesseitigen Rechts bricht. Benjamin bewegt sich damit gefährlich nahe an autoritären Rechtsauffassungen wie jener des Staatsrechtlers Carl Schmitt, für den die Entscheidung über den "Ausnahmezustand" ein Kennzeichen des Souveräns ist, der das Recht außer Kraft setzen kann. Benjamin postuliert dagegen einen revolutionären Ausnahmezustand, den Generalstreik.
Butler wiederum folgt einem Hinweis Benjamins auf die Möglichkeit einer gewaltlosen, zivilen Übereinkunft und setzt diese mit der "göttlichen Gewalt" gleich. Dieser Parforceritt durch die Rechtstheorie, der der Macht der Gewaltlosigkeit eine gesellschaftliche Perspektive geben soll, wirkt unfertig, nicht zu Ende gedacht. Ähnlich verhält es sich im Schlusskapitel. Dort kommt Butler auf Freud zurück, der feststellt, dass sich das Ich der Tyrannei des Über-Ich durch den Umschlag in Manie erwehrt. Prompt erklärt Butler die Manie, wenn auch gewunden, auf sozialer Ebene zur kritischen Instanz:
"Natürlich will ich keine Lanze für die Manie brechen, ich will nur betonen, dass sie uns hilft, die ‚unrealistischen’ Formen der aufständischen Solidarität gegen autoritäre und tyrannische Herrschaftsformen besser zu verstehen."
Am Rande der Resignation
Es scheint kein Zufall, dass Judith Butler hier zunehmend den Ton politischer Agitation anschlägt und sich zudem in Wiederholungen verliert. Man liest in diesen wie gehetzt verfassten, noch unausgegorenen Schlusspassagen Zeichen der Verzweiflung – Zweifel an der Möglichkeit einer umfassenden Veränderung. Das Sterben im Mittelmeer, die steigende Zahl autoritärer Regierungen, ein Präsident namens Trump: Es ist, als hätten die letzten, politisch deprimierenden Jahre dunkle Spuren in das Denken dieser bislang ermutigend zuversichtlichen Theoretikerin gegraben. Und so wirkt auch das berührende Pathos des Schlusssatzes so verzagt wie unbeugsam, ein Trotz alledem am Rand der Resignation:
"Ob wir also in Zorn oder Liebe befangen sind – wütender Liebe, militantem Pazifismus, aggressiver Gewaltlosigkeit, radikalem Beharren –: hoffen wir, dass wir diese Bindung so leben, dass wir mit den Lebenden leben können, die Toten nicht vergessen, standfest inmitten von Trauer und Zorn, auf dem steinigen und verstörenden Weg gemeinsamen Handelns im Schatten des Verhängnisses."
Judith Butler: "Die Macht der Gewaltlosigkeit.
Über das Ethische im Politischen"
aus dem amerikanischen Englisch von Reiner Ansén
Suhrkamp Verlag, Berlin. 250 Seiten, 28 Euro.
Über das Ethische im Politischen"
aus dem amerikanischen Englisch von Reiner Ansén
Suhrkamp Verlag, Berlin. 250 Seiten, 28 Euro.