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Jugendliteratur
Posten, faken, liken, chillen: Ich-Inszenierungen in aktuellen Mädchenromanen

Die Mehrzahl der Jugendlichen knüpft, pflegt und führt Beziehungen heute vorwiegend medial, im Web 2.0. Aktuelle Jugendromane thematisieren diese Art der elektronischen Kommunikation und zeigen Potenzial und Gefahren dieses Internet-Parallellebens für junge Menschen auf der Suche nach sich selbst auf.

Von Ina Nefzer | 08.03.2014
    Kommunikation gehört zum Leben wie das Salz in die Suppe. Nicht ständig miteinander in Kontakt zu stehen, nicht immer das Neueste zu wissen, erscheint gerade Jugendlichen unerträglich. Kaum ist das Handy aus, fühlen sie sich von der Welt abgeschnitten, einsam und isoliert. Das ist nichts Neues, war schon immer so, sagt Medienexperte Thomas Feibel, denn eigentlich steckt dahinter nur eins:
    "der tiefe Wunsch nach Beziehungen. In einer Beziehung zu leben, ist nicht einfach, aber wenn man so zwischen 12 und 15 Jahren alt ist, ist es noch viel, viel komplizierter. Und da sind diese Medien ganz tolle Hilfsmittel, um sich durch die Pubertät zu schlagen."
    Übersetzt man mit Feibel jugendliche Kommunikationslust als intensive Suche nach dem Ich und dem Du – dem Wir, nach Nähe und Anerkennung – dann könnte man jede Adoleszenzgeneration durch die ihr zur Verfügung stehenden medialen Möglichkeiten charakterisieren: Früher, als es nur Briefe gab, auf die man meist lange sehnsuchtsvoll warten musste, waren Beziehungen gekennzeichnet von Hoffen und Bangen, Wünschen und sich was vorstellen - das war per se romantisch.
    Jugendliche Kommunikationslust als Suche nach dem Ich und Du
    Später – am Telefon – konnte man direkt und sofort miteinander sprechen und zum Leidwesen aller anderen Familienangehörigen stundenlang die Leitung blockieren: Was zu einer sehr lebendigen Gesprächs- und Debattierkultur führte. Und heute? Heute können Jugendliche durch die vielfältigsten Möglichkeiten elektronischer Medien alles gleichzeitig und das - dank Handy-Internetflats - überall und jederzeit, miteinander schreiben, miteinander reden – je nach Bedarf mit oder ohne Bilder, zum Beispiel:
    - Skypen: Kostenlos telefonieren und sich dabei zusehen
    - E-Mails schreiben: Nur für Offizielles
    - SMS schreiben: Um sich im Alltag optimal abzustimmen
    - oder viel lustiger: Sprachnachrichten verschicken
    - ask.fm: Sich zu anonymen Fragerunden treffen (bis es nervt)
    - Auf Instagram sein Fotoalbum veröffentlichen
    - Social Networking: Sein Image und Kontakte pflegen
    - Chatten: Schriftliches Dauerquatschen auf WhatsApp oder Facebook
    Die überwiegende Mehrzahl der Jugendlichen knüpft, pflegt und führt Beziehungen heute vorwiegend medial. Für diese interaktive Nutzung des Internets wurde der Begriff Web 2.0 geschaffen. Was aber bedeutet mediale Dauerkommunikation eigentlich für jugendliche Beziehungen und welche Konsequenzen hat dies für Pubertät und Erwachsenwerden? Antworten könnten aktuelle Adoleszenzromane geben. Doch: Setzen Jugendbuchautoren sich eigentlich überhaupt mit der Thematik auseinander?
    Mediale Dauerkommunikation in der Pubertät
    Tatsächlich ist gerade der erste, durchgehend als Chat angelegte Jugendroman, geschrieben von Gabriella Engelmann und Jakob M. Leonhardt, erschienen. Darin ist nachzulesen, wie solch ein Chatverlauf aussehen könnte:
    LULU: Hi. Bist du zufällig der beste Freund von Marco?
    BEN: Könnte sein. Wieso?
    LULU: Nur für den Fall, dass du es bist, wüsste ich gern, ob Marco eine Freundin hat? J … Es gibt hier dummerweise drei mit deinem Namen, die alle kein Foto als Profilbild haben…
    BEN: Ich bin nicht derjenige, den du suchst! Kenne gar keinen Marco.
    LULU: Aha, ok… na dann also sorry wegen der Störung. Schönen Sonntag noch, Mister Unbekannt!
    BEN: Schönen Sonntag, Miss Lulu – oder wie immer du in Wirklichkeit heißt…
    (aus: "Im Pyjama um halb vier", S. 5f)
    Schon dieser kurze Auszug aus "Im Pyjama um halb vier", so der Titel des Romans, zeigt: In dieser Medienbeziehung wissen beide gar nicht genau, wer der oder die andere ist, mit wem sie sich da eigentlich unterhalten. Eine Beziehung mit zwei Unbekannten - gab oder gibt es das nicht auch bei Brieffreundschaften? Tatsächlich wurde das Buchprojekt "Chatroman" genau davon inspiriert. Autorin Gabriella Engelmann:
    "Die Idee kam, weil ich immer schon sehr fasziniert vom traditionellen Briefroman war. Da geht es viel um Projektions- und Wunschflächen. Als ich die Idee konkretisiert habe, hab ich gedacht, Email ist ja jetzt auch schon fast von gestern. Und da war ganz klar: Facebook ist das neue moderne Medium und da ging's nur übers Chatten. Ist ja eine sehr unmittelbare Form der Kommunikation, eine sehr schnelle Kommunikation und das fand ich sehr reizvoll."
    Sich Nachrichten senden – per Brief dauert das lange, per E-Mail geht es schneller, im Chat ganz schnell. Um diese direkte Art, schriftlich zu kommunizieren, auch in Buchform glaubhaft umsetzen zu können, entschloss sich Gabriella Engelmann zu einem Experiment: Sie suchte sich ein schreibendes, zuvor unbekanntes Gegenüber, um mit ihm in die Rollen der Hauptfiguren schlüpfen und chatten zu können - mit dem Ziel, das Ganze in Buchform herauszubringen. Man könnte fast von einem Autoren-Rollenspiel sprechen:
    "Im Pyjama um halb vier": Psychologisch motiviertes Verwirrspiel
    "Herr Leonhardt ist eigentlich Daniel Bielenstein und ich hatte vor zehn Jahren einen Roman von ihm gelesen "Die Frau meines Lebens" und das hat mich so angerührt, dass ich dachte: "Ich will die Frau seines Lebens sein!" Irgendwann haben wir festgestellt, dass wir beide beim Arena-Verlag sind, wir waren beide bei derselben Agentur und wir haben beide dieselbe Lektorin, wohnen beide in Hamburg zwei Straßen weiter und da hab ich gedacht, das ist Magie. Und Herr Bielenstein oder Herr Leonhard war auch sofort begeistert von der Idee. Als wir uns kennengelernt haben, haben wir sehr viel gemailt, um zu sehen, ob auch die sprachliche Chemie stimmt. Das war natürlich sehr wichtig. Da waren wir sehr berührt davon und haben beide gesagt, darauf haben wir jetzt 10 Jahre gewartet und jetzt ist es Realität geworden."
    So wie sich die beiden Autoren nicht direkt gesucht und doch als Seelenverwandte gefunden haben, soll es auch den jugendlichen Protagonisten ihres gemeinsamen Buches ergehen. Allerdings nicht in der Realität, sondern im Netz. In der Geschichte gestaltet sich das folgendermaßen: Nachdem sich Ben und Lulu – wie gerade gehört - auf facebook zufällig kennengelernt haben, tauschen sie sich in der Folgezeit über Jungs-, Mädchen- und Beziehungssachen aus. Anonym lässt sich da über Vieles leichter reden, als von Angesicht zu Angesicht.
    Die beiden kommen sich immer näher, ja verlieben sich fast ineinander. So entsteht der Wunsch, sich zu treffen. Da erst wird dramatisch deutlich, dass das mediale und das reale Ich keineswegs identisch sein müssen. Ben taucht nämlich aus gutem Grund nicht zu den vereinbarten Treffen auf: Er ist querschnittsgelähmt. Und damit möglicherweise nicht der Junge, den Lulu unbedingt kennenlernen möchte.
    Ein als Chat angelegter Jugendroman
    Genau diese Erkenntnis bringt auf den Punkt, was elektronische Kommunikation im Kern ausmacht: Sie installiert eine Parallelwirklichkeit. Das heißt: Internetnutzer leben zeitgleich in zwei Welten, in einer im Netz und einer draußen. Was bedeutet das für die Adoleszenz - die Lebensphase, in der man auf der Suche ist nach sich selbst – wenn jede Identität gespalten wird in (mindestens) zwei Ichs? Die beide präsentiert, beide gelebt werden wollen – zu ganz unterschiedlichen Bedingungen? Und nicht identisch sein müssen?
    Positiv gedacht, fördert es die jugendliche Lust, sich selbst zu inszenieren und damit Mut, Selbstbestimmung und Kreativität. Sich in Szene zu setzen, um sich selbst besser kennenzulernen und auszuprobieren, das gelingt Lulu genauso spielerisch wie die Abkürzung ihres eigentlichen Namens Luca-Luisa. Verspielt, kindlich, naiv: So mutet ihr medialer Auftritt an. Anfänglich mit "Rocket" im Namen und pinkfarbener Rakete als Bild. Diese Lulu will durchstarten und was erleben. Als es aber schwierig wird, geht sie auf Tauchstation und wählt ein neues Icon: Aus "Lulu Rocket" wird "Lulu Submarine".
    Die mediale Selbstinszenierung von Lulu und Ben geht aber deutlich weiter: So eröffneten beide Autoren zwei Monate vor Buchstart auch noch im Namen ihrer Hauptfiguren je einen Account bei Facebook. Dort können die Leser Lulu Rocket und Ben Schumann seither eine Freundschaftsanfrage schicken, nachlesen, in welche Kinofilme sie gehen oder welche Klamotten sie kaufen. Da weiß selbst die Autorin manchmal nicht mehr, ob sie gerade Gabriella oder Lulu ist:
    "Ich habe festgestellt, dass sich auch das so ein bisschen verselbstständigt hat. Ich gehe wirklich sehr tief in die Figur rein. Das war manchmal schon so, dass ich unter dem Aspekt, was könnte Lulu interessieren, durch die Stadt gehe… Da haben sich teilweise Fiktion und Realität vermischt."
    Mediale Kommunikation lässt die Konstruktion künstlicher Identitäten zu und damit einen spielerischen Umgang mit Fiktion und Realität, wodurch die Grenzen zwischen beiden Wirklichkeitsebenen verschwimmen. Und genau darin – in der Dissonanz zwischen Wirklichkeit und medialer Selbstinszenierung - liegt das große Potenzial des „doppelten Ich“ als literarischem Motiv:
    Herauszufinden, wer bin ich, wer bist du WIRKLICH? Was ist echt, was ist fake? Wer verbirgt sich WARUM hinter welcher Maske? Das kann äußerst unterhaltsam - im Rollenspiel mit verschiedenen Ichs - durchdekliniert werden wie "Im Pyjama um halb vier", wo eine schnelle dialogische Erzählweise die Medienbeziehung gut in Szene setzt. Happy End und Erkenntnisgewinn inklusive, da die Wahrheit am Ende Sinn macht.
    "Like me": Sozialstück inklusive Realsatire und Abschreckung
    Es kann aber auch als Sozialstück aufgeführt werden inklusive Realsatire und Abschreckung. Dafür hat sich Thomas Feibel in seinem aktuellen Jugendroman "Like me" entschieden. Schon der Titel signalisiert – gut gemacht –, um was sich in der Adoleszenz eigentlich alles dreht: um die Suche nach Anerkennung - sei es in der Realität oder im Internet, wo derjenige, der die meisten likes bekommt, am beliebtesten scheint. Thomas Feibel, der ab sofort nur noch als Autor zu Wort kommen soll, hat für seinen neuen Roman absichtsvoll keine medial inspirierte Erzählweise gewählt:
    "Ich hab ganz bewusst auf sowas verzichtet, auf solche Elemente, die ich zum Teil auch als Anbiederei empfinde. Ich hab blöderweise offensichtlich immer so einen missionarischen Antrieb und einen pädagogischen Hintergedanken. Ich denke immer, wenn du etwas zu sagen hast, wenn es etwas Problematisches gibt, was aus dem Ruder läuft, dann kannst du ein Sachbuch dazu machen – hab ich gemacht. Oder aber du kannst eine Geschichte erzählen, weil die Geschichte ist immer der Kleber, der mich bindet. Und ich habe bei dem Buch, das ich gemacht hab, eher auf eine alte Tradition zurückgegriffen, nämlich auf das Tagebuch“.
    "Ich muss dir etwas erzählen, aber es darf wirklich niemand erfahren. Nur dir kann ich noch vertrauen. Ich weiß, dass bei dir ein Geheimnis auch ein Geheimnis bleibt – und es nicht gleich die ganze Welt erfährt." (aus: "Like me", S.5)
    Da obiges Zitat das erste Kapitel einleitet, im Buchlayout jedoch nichts auf ein Tagebuch hinweist, dürfte sich von Anfang an einer, nämlich der Leser, angesprochen und – durch die Schlüssellochperspektive - peinlich berührt fühlen. Liest er doch gerade das fremde Tagebuch eines Menschen – so die fiktive Logik – der unbedingt vermeiden möchte, dass seine Zeilen öffentlich werden. Diese Konstruktion war, so verrät Thomas Feibel im Gespräch, schon während der Entstehungszeit umstritten:
    "Auch im Lektorat war man sich nicht sicher: Ist das jetzt ein Tagebuch oder redest du mit mir? Das wollte ich auch nie ganz klar geklärt haben. Ich möchte jemanden reinziehen, die Identifikation so einfach wie möglich machen und nicht so tun, als wäre das Buch eine Art Smartphone."
    Ob diese doppelsinnig konstruierte Erzählsituation Jugendliche bindet, darf bezweifelt werden! Zwar sind zwei Ich-Perspektiven für den Tagebuchroman genretypisch: die erlebende Karo, die tief in der Geschichte drinsteckt, und die Erzählerin Karo, die zu einem späteren Zeitpunkt das eigene Erlebte reflektiert, zusammenfasst und – für den Leser – die richtigen Lehren zieht. Wenn aber aus Karo direkt der Autor spricht, zum Beispiel in altklugen Sätzen wie "Ja ja, ich weiß schon, ich müsste mal dringend mit dem Sparen anfangen" (S. 17), ist das pädagogische Anliegen einfach zu durchsichtig.
    Didaktisch geprägt ist auch die Schilderung des Erlebten: Hier wird – um der Abschreckung willen - teilweise derart schwarz-weiß gemalt, dass es an Realsatire grenzt. Wodurch beide Hauptfiguren einander plakativ gegenübergestellt werden können: Jana, das selbst ernannte It-Girl, sieht – wen wundert’s – "einfach unglaublich gut aus" (S. 7) und ist mit dem teuersten Smartphone ausgestattet – das "in einer pinkfarbenen Schutzhülle mit falschen Edelsteinen steckt" (S. 6). Daher hat sie natürlich keine Zeit zu lernen und ist stattdessen - immerzu - im Internet als – man höre und staune - "Jana Superstar" (S. 15) unterwegs.
    Karo hingegen trägt nach eigener Aussage "immer die gleiche braune Wuschelfrisur, ... immerzu Ringelshirts, Jeans und Turnschuhe" (S. 5). Von Janas Auftreten ist sie so fasziniert, dass sie direkt in ihr Gefolge eintritt und gemeinsam an einem Medienspektakel teilnimmt:
    "Post the Most": "Gesucht wird der ON-SHOW-Nutzer, der im Netz das öffentlichste Leben führt, die meisten ON-SHOW-Freunde gewinnt und den größten Zuspruch der ON-SHOW-Mitglieder erhällt." (aus: "Like me", S. 15)
    Daraufhin wird gnadenlos alles gefilmt und öffentlich gepostet, was spektakulär ist und – natürlich immer für den anderen und nicht für einen selbst – hochpeinlich. Wie Fotos der Lehrersgattin, die im Schwimmbad mit einem jungen Verehrer rumknutscht. Jana geht über alle Grenzen, manipuliert, betrügt, verrät jeden, um an einen guten Post und damit viele Spielpunkte zu kommen. Was der Leser schon früh weiß, kapiert irgendwann auch Karo: Dass ihre Beziehung zu Jana trügerisch ist, weil sie auf falschen Behauptungen beruht. Thomas Feibel will Menschen wie Jana jedoch nicht an den Pranger stellen, sondern helfen:
    "In dem Fall hat sich doch jemand, der eigentlich ein sehr armer Mensch ist, eine Fantasiewelt geschaffen und mit dem Internet und Facebook das nötige Rüstzeug gefunden, die Anerkennung bekommen, raus aus dem Milieu. Ich möchte anhand der Geschichte nachvollziehbar sagen, wie man in etwas reinrutschen kann, was man vorher unterschätzt hat, wie man immer tiefer in etwas einsinkt und immer schwerer herauskommt und wie die Feilstricke sind. Die Feilstricke sind immer menschlich. Die Probleme haben sich nur verändert durch die Technologie, wenn eine größere Öffentlichkeit dazu kommt."
    Sich selbst medial neu erfinden zu können, ist eine verführerische Sache: ob als unterhaltsames, psychologisch motiviertes Verwirrspiel in "Im Pyjama um halb vier" oder als soziales Lehrstück in "Like me", welches aufgrund der didaktischen Ausrichtung mehr Lehrer als Schüler ansprechen dürfte. Daher wird gleich - auf www.klicksafe.de - pädagogisches Begleitmaterial mitgeliefert. Beide Romane zeigen, dass Figuren mit doppeltem Ich - einem medialen und einem realen - die adoleszente Suche nach dem "wahren Ich" in geradezu kongenialer Art und Weise vorführen.
    Je stärker das Motiv, desto ernsthafter. Denn wer umfassend versucht, sich medial so darzustellen, wie er gesehen werden will, stilisiert sich zum allmächtigen Autor des eigenen Lebens. Das ist geheimnisvoll, aufregend, spannungsgeladen und nicht selten seelisch abgründig - bis am Ende das wahre Ich gefunden ist. Mediale Adoleszenzromane sind somit potenzielle Ich-Krimis.
    Besonders spannend, weil unvorhersehbar wird das Spiel mit Identitäten in Beziehungen, wo Macht auf der einen und Kontrollverlust auf der anderen Seite vorherrschen. Dann kann es jederzeit kippen, richtig fies und sogar gefährlich werden. Thema "Cybermobbing" und die medialen Möglichkeiten krimineller oder funktionalisierter Selbstinszenierung eröffnen Krimis und Thrillern neue, sozialkritische Inhalte und psychologische Erkundungsräume. Solche Ich-Täuschungsmanöver sind nur möglich, weil Kommunikation im Internet anderen Gesetzen unterliegt: Was beispielsweise heißt, dass nicht nur geschönte beziehungsweise manipulierte, sondern ganz und gar künstliche Identitäten geschaffen werden können.
    Mediale Adoleszenzromane als potenzielle Ich-Krimis
    Will sagen: Man kann sich niemals sicher sein, ob es dieselbe Person, die im Internet existiert, auch tatsächlich gibt! Sofern man sie nicht im wirklichen Leben kennt. Dem förderlich ist der Umstand, dass Distanz und Nähe im Netz anders geregelt werden können. Da kann es sogar sehr intim werden, wenn man andere nah an sich heranlässt. In dem Moment, wenn es einem zu viel wird, geht man aber einfach wieder mehr auf Distanz. Bei Bedarf kann man einen Kontakt sogar ganz blocken. Das ist im echten Leben nicht möglich.
    Wie weit künstliche Identitätsstiftung im Web 2.0 gehen könnte, spielt ein neuer Roman aus England durch: "Ich bin Tess" heißt er und ist das Debüt der Journalistin Lottie Moggach. Erkennbar als Tagebuch angelegt, das – so verraten es die Kapitelüberschriften - zwischen dem 17. August und 29. Oktober 2011 geführt wird. Und zwar von Leila und keineswegs von Tess, wie der Buchtitel nahelegt. Auf eine Art aber doch von Tess.
    Die reichlich diffizile Geschichte geht so: Leila wird eines Tages von dem Betreiber einer Internetplattform, auf der sie gerne mit anderen philosophische Fragen diskutiert, angesprochen. Er sucht für eine andere junge Frau, die manisch-depressiv ist und sich verzweifelt den Tod wünscht – Tess -, jemanden, der nach deren Tod - nur im Internet und für eine gewisse Zeit – in ihre Rolle schlüpft. Damit Tess gehen kann, ohne ihre Familie und ihre Freunde unglücklich zu machen. Niemand soll merken, dass sie nicht mehr da ist.
    Leila sagt zu und erfährt – via Internet - in den folgenden Monaten sehr viel über Tess. Die zwei führen eine reine Internet-Beziehung auf geschäftlicher Basis, treffen sich nie persönlich und sprechen wenige Male nur über Skype miteinander:
    "Hast du alles, was du brauchst?" Ich war davon ausgegangen, dass wir die Kommunikation ganz bis zum Ende aufrechterhalten würden. Aber ich hatte auch gewusst, dass dieses Ende irgendwann einmal kommen musste. Also antwortete ich: "Ja, ich glaube schon."
    Sie nickte, mehr vor sich hin als für mich, und wandte dann den Blick ab. In diesem Moment, als mir klar wurde, dass ich sie gerade zum letzten Mal sah, verspürte ich einen plötzlichen, heftigen Adrenalinstoß und zugleich etwas wie Traurigkeit.
    Nach einer recht langen Pause sagte Tess: "Ich kann dir gar nicht genug danken." Und dann: "Mach’s gut". Sie sah in die Kamera und vollführte eine Geste, als würde sie salutieren. … Dann hob sie den Kopf, beugte sich vor und schaltete die Kamera aus.
    Und das war es. Unser letztes Gespräch.
    (aus: "Ich bin Tess", S. 9)
    "Ich bin Tess": Künstliche Identitätsstiftung im Web 2.0
    Tess begeht kurz danach Selbstmord. Doch bei Laila läuft es nicht nach Plan. Zudem fliegt auf, dass der Besitzer der Gesprächs-Plattform Red Pill auch andere Leute zur Selbstmord-Beihilfe angestiftet hat. All dies wird von Leila rückblickend aufgearbeitet, um zu verstehen, was eigentlich passiert ist. Dafür hat Moggach denselben Erzählmodus wie Feibel gewählt: Eine Erzählerin, die sich in Tagebuchform Rechenschaft ablegt, wie es ihr ergangen ist. Doch das alles wird nicht lehrhaft und plakativ dargestellt, sondern zu einem psychologisch äußerst vielschichtigen Ganzen komponiert.
    Dazu verwebt Moggach unterschiedliche Handlungsstränge -, die sich im Bewusstsein von Leila unablässig kreuzen, nach vorn und zurückblicken sowie verschiedene Kommunikationswege wie Skype, E-Mail, Chat nahtlos einbeziehen, - zu einer sehr emotionalen Lebensbeichte. Es ist so spannend, so nahbar dargestellt wie Leila besten Gewissens versucht, diese 'doppelte Identität' zu leben und dabei grandios scheitert. Weil sich Fiktion und Realität überlagern, ja: kaum noch trennen lassen. Beeindruckend differenziert führt Lottie Moggach vor, wie die Protagonistin sich immer mehr verstrickt und schließlich kaum noch zurechtfindet – bis Leila die Internetbeziehung in die Realität verlagert: So wird aus Leila wieder Leila. Und Tess Tess.
    Alle vorgestellten Jugendbücher sind erst ein vager Vorgeschmack auf das große erzählerische Potenzial, das in digitalen Parallelwelten und ihrer Verflechtung von Fiktion und Realität schlummert. Ob als Motiv für die Identitätsstiftung in Adoleszenzromanen, Krimis und Psycho-Thrillern. Oder ob tatsächlich digital umgesetzt.
    Digitale Parallelwelt als Motiv für Identitätsstiftung in Adoleszenzromanen
    Die Erwachsenenbelletristik ist da wesentlich experimentierfreudiger. So hat Bastei Lübbe ein eigenes Verlagslabel - "Bastei Entertainment" – gegründet, wo beispielsweise, von Oktober 2013 bis Oktober 2014, die Ebook-Soap "Landluft für Anfänger" erscheint. Zielgruppe: Junge Frauen, die ein Jahr lang jeden Monat eine neue Serienfolge lesen und/oder hören. Handlung, Figuren, plot, mediale Kommunikation werden dem Leser quasi in Echtzeit präsentiert, Bonusangebote wie Rezepte oder Kreativtipps inklusive.
    Oder der Rowohlt Verlag, der mit der Horror-Serie "Deathbook" von Andreas Winkelmann aktuell ein literarisch-filmisches Rollenspiel in verschiedenen Medien gleichzeitig inszeniert, an dem der Leser aktiv teilnimmt. "Anrufe vom Killer" – so verspricht die Website – "nicht ausgeschlossen"! Jugendliteratur 2.0 ist somit nur noch eine Frage der Zeit.
    Gabriella Engelmann, Jakob M. Leonhardt: "Im Pyjama um halb vier"
    Arena 2013

    Thomas Feibel: "Like me"
    Carlsen TB 2013

    Lottie Moggach: "Ich bin Tess"
    Script5 2014.