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Julia Klöckner zur Flüchtlingskrise
"Mindestens 100.000 Flüchtlinge müssen wieder gehen"

Nach Ansicht der stellvertretenden CDU-Vorsitzenden Julia Klöckner gibt es eine faktische Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen. Denn irgendwann würden auch die ehrenamtlichen Helfer an ihre Grenzen stoßen, sagte sie im Deutschlandfunk. Mindestens 100.000 Asylbewerber müssten das Land wieder verlassen - solche ohne Bleibeperspektive gleich von den Erstaufnahmeeinrichtungen aus.

Julia Klöckner im Gespräch mit Peter Kapern | 27.10.2015
    Die stellvertretende CDU-Vorsitzende Julia Klöckner
    Die stellvertretende CDU-Vorsitzende Julia Klöckner (imago stock & people)
    Klöckner sieht die EU-Mitgliedsstaaten zudem gefordert: "Ich finde es enttäuschend, dass die EU zur Zeit nur eine Zugewinngemeinschaft ist, die Wertegemeinschaft aber auf sich warten lässt", sagte sie. Teile des EU-Haushalts, die in Länder fließen, die sich nicht an der Bewältigung der Flüchtlingskrise beteiligen, sollten abgezogen werden.
    Zum neuen Asylpaket, das Bundestag und Bundesrat im Oktober beschlossen haben, sagte Klöckner: "Nach jetzigem Stand müssen mindestens 100.000 Flüchtlinge wieder gehen, auch wenn man das nicht genau sagen kann". Wichtig sei, dass die Bundesregierung die Voraussetzung geschaffen habe, "dass die Flüchtlinge gar nicht erst auf die Kommunen verteilt und direkt abgeschoben werden können".
    EU weiter in der Pflicht
    Klöckner kritisierte zudem das Ultimatum des bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer (CSU) an Österreich Man müsse das Asylbeschleunigungspaket jetzt erst einmal wirken lassen, sagte sie im DLF. Seehofer hatte Wien aufgefordert, bis zum 1. November die Zuwanderung nach Bayern zu begrenzen. Seehofer wendet sich seit Tagen dagegen, dass Österreich Flüchtlinge unkoordiniert nach Bayern weiterleite. In der "Passauer Neuen Presse" forderte er deshalb Bundeskanzlerin Angela Merkel auf, mit der Regierung in Wien zu reden. Dazu sagte Klöckner im Deutschlandfunk: "Die Kanzlerin macht vieles, ohne es an die große Glocke zu hängen. Insofern ist die Kanzlerin jeden Tag daran beteiligt, dass wir Probleme in den Griff bekommen". Es gehe zudem darum, was man "faktisch wirklich tun" könne, sagte die CDU-Chefin von Rheinland-Pfalz. Das "Asylbeschleunigungspaket muss erst mal wirken, da müssen wir uns auch mal Zeit geben", sagte sie. Hektik und neue Forderungen führten zu nichts. Gleichzeitig äußerte Klöckner Verständnis für Seehofers Ärger. Was Österreich veranstalte, sei nicht das, was man abgesprochen habe.
    Das vollständige Gespräch können Sie hier lesen.
    Peter Kapern: Ganz egal was die Bundesregierung tut, was die Europäische Union verabredet, um der Flüchtlingskrise Herr zu werden, der CSU reicht das nicht aus: Nicht der 17-Punkte-Plan, der am vergangenen Sonntag in Brüssel verabredet wurde, und auch nicht die Abschiebe-Offensive, mit der die Bundesregierung das Zutrauen in ihre Flüchtlingspolitik nun zurückgewinnen will. Horst Seehofer, der bayerische Ministerpräsident und CSU-Chef, fordert von Angela Merkel, jetzt energisch in Wien vorstellig zu werden.
    Bei uns ist nun am Telefon die stellvertretende CDU-Vorsitzende Julia Klöckner. Guten Morgen!
    Julia Klöckner: Hallo! Guten Morgen, Herr Kapern.
    Kapern: Frau Klöckner, angesichts der anhaltenden Kritik von Horst Seehofer an der Bundesregierung stellt sich doch die Frage: Was sind die Beschlüsse von Brüssel vom vergangenen Sonntag eigentlich wert?
    Klöckner: Die Beschlüsse vom vergangenen Sonntag sind Beschlüsse gewesen, die durchaus noch Luft nach oben haben. Aber wichtiger sind ja auch die Beschlüsse, die gemeinsam mit Horst Seehofer, mit den Ländern und der Bundesregierung verabschiedet worden sind, nämlich im Bundesrat das Asyl-Beschleunigungsgesetz, das Paket, das ja doch jetzt einiges vorsieht, was an Verschärfungen, was an Verbesserungen da ist. Sei es, dass Bargeldleistungen in Sachleistungen jetzt umgewandelt werden, sei es, dass es mehr Personal beim BAMF [Bundesamt für Migration und Flüchtlinge] gibt, dass die Kommunen endlich auch mehr Geld bekommen, dass das Baurecht flexibilisiert wird, aber vor allen Dingen auch Abschiebungen konsequent vorgenommen werden, und da sind die Länder gefragt. Ich kann es nur sagen für unser Land Rheinland-Pfalz: Rot-grün hat einen Winter-Abschiebestopp erlassen. Das sind natürlich die falschen Signale.
    Kapern: Und all das, was Sie gerade aufgezählt haben, inklusive der falschen Signale, all das stellt Horst Seehofer nicht zufrieden.
    Klöckner: Ja. Jetzt muss man natürlich auch sehen, dass Bayern in einer ganz besonderen Lage ist. Ich glaube, die Länder im Norden unseres Landes haben da gutes und leichtes Reden. Wenn in Passau täglich mehr als 5000 Menschen über die Grenze treten, dann ist das schon eine enorme Belastung. Und man muss ja auch sagen, dass Bayern Enormes leistet, sehr geordnet versucht, im Rahmen der Möglichkeiten auch diesem Ansturm Herr zu werden. Das was Österreich zurzeit veranstaltet, ist, soweit ich das beurteilen kann, nicht das, was man mit Österreich abgesprochen hat, und ich glaube, da muss man mit den nachbarschaftlichen Beziehungen noch anders umgehen.
    Die Kanzlerin mach vieles ohne großes Bohei
    Kapern: Das heißt, Horst Seehofer hat recht, wenn er die Kanzlerin auffordert, jetzt in Wien vorstellig zu werden?
    Klöckner: Na ja. Die Kanzlerin hat jetzt keinen Mangel an Reisetätigkeit oder Telefondiplomatie. Die Kanzlerin macht vieles, ohne dass sie großen Bohei daraus macht, dass sie das an die große Glocke hängt, und sie ist ja nicht in die Türkei gereist, um noch mal eine Million Flüchtlinge zu holen, sondern das Gegenteil zu erreichen. Insofern ist die Kanzlerin jeden Tag daran auch beteiligt, dass wir Probleme in den Griff bekommen, also nicht nur verbal, sondern faktisch auch.
    Kapern: Aber wenn die Kanzlerin jetzt nicht nach Wien reist, wer sagt der Regierung denn in Wien, dass es so nicht weitergeht, wie das dort gehandhabt wird, und in dieser Forderung haben Sie ja Horst Seehofer gerade recht gegeben?
    Klöckner: Ich glaube, dass man in Wien auch Zeitung liest, und ich glaube, dass man in Wien auch der deutschen Sprache mächtig ist und durchaus mitbekommt, was los ist. Und gehen Sie ruhig davon aus, dass man im Kanzleramt auch in Gesprächen mit Wien ist und auch Kontakte dazu pflegt. Aber man muss es nicht immer gleich an die große Glocke hängen.
    EU-Mitgliedsstaaten sind gefordert
    Kapern: Rechtfertigt die ganze Situation an den bayerischen Grenzen - Sie haben das ja gerade geschildert - eigentlich auch die Tatsache, dass Horst Seehofer nun der Bundesregierung sogar ein Ultimatum stellt?
    Klöckner: Ach, mit Ultimaten, glaube ich, kommen wir nicht viel weiter. Es geht ja darum, was wir wirklich faktisch auch tun können, und da sind letztlich auch alle Länder aufgefordert, aber vor allen Dingen die europäischen Mitgliedsstaaten sind gefordert. Ich finde das Enttäuschende zurzeit, dass Europa anscheinend für viele Länder nur eine Zugewinngemeinschaft ist mit Fördertöpfen, aber wenn es ernst wird die Wertegemeinschaft dann auf sich warten lässt. Man sollte und könnte auch überlegen, ob Teile des EU-Haushaltes, der in Länder fließt, die keine Flüchtlinge aufnehmen, ob diese Teile nicht umgeschichtet werden, um auch Flüchtlingsaufgaben zu finanzieren.
    Kapern: Was mit Sicherheit die Akzeptanz für Flüchtlinge in Ländern wie Polen - ich nehme mal an, Polen haben Sie da mit auf dem Radar - erhöhen wird.
    Klöckner: Na ja. Sagen wir mal so: Viel weiter runter kann es ja kaum gehen in Polen und Polen selbst hat ja auch auf Solidarität anderer Länder gesetzt. Ich glaube, wenn man etwas erhält und auf die Solidarität anderer setzen konnte, muss umgekehrt auch eine Gegenleistung erbracht werden. Nur so funktioniert der Zusammenhalt einer Gemeinschaft.
    Kapern: Nun haben Sie ja, Frau Klöckner, ganz geschickt das Thema unseres Gesprächs verlagert von Horst Seehofer auf Polen.
    Klöckner: Na, freies Land!
    Kapern: Fast hätte ich es nicht gemerkt. Aber ich muss doch noch mal dabei bleiben. Angesichts der Tatsache, dass die Union in den jüngsten Umfragen gerade bei 35 Prozent gelandet ist, muss man nicht schon alleine vor dem Hintergrund dieser Zahl sagen, Horst Seehofer hat recht?
    Klöckner: Na ja. Ich glaube, dass Krisenzeiten - und wir sind in einer besonderen herausfordernden Zeit - Zeiten sind, wo man auch einen kühlen Kopf bewahren muss, heißes Herz, offene Arme, aber auch einen kühlen Kopf.
    Asylpaket muss erst mal wirken
    Kapern: Und das schafft Horst Seehofer nicht?
    Klöckner: Und der Kopf bleibt nicht kühl, wenn wir wie Journalisten, wie Sie jetzt zum Beispiel auch nur nach Umfragewerten letztlich fragen. Ich denke, dass zum Beispiel das Asyl-Beschleunigungspaket, was jetzt beschlossen worden ist, 1. November in Kraft tritt, dass das auch erst mal wirken muss, und ich glaube, da müssen wir uns auch Zeit geben, dass Wirkungen auch absehbar und ablesbar sind. Ich glaube, nicht Hektik und schnelles Reagieren und auch immer neue Forderungen führen zu einer Änderung der Situation.
    Kapern: Also es sind ausschließlich Journalisten, die sich für Umfragen interessieren, und Horst Seehofer nicht.
    Klöckner: Nein, nein. Nicht ausschließlich Journalisten. Ich glaube, da sitzen wir alle ja in einem Boot drin. Meine Antwort ist nur die, dass man nicht jeden Tag, wenn eine neue Umfrage kommt, sofort den Plan ändern sollte.
    Kapern: Sie haben eben das Thema Abschiebungen genannt. Da will die Bundeskanzlerin, das hat sie beteuert, nun neue Härte zeigen im Umgang mit Flüchtlingen, die hier hergekommen sind und eigentlich kein Recht haben, hier zu bleiben. Was bringt diese Abschiebeoffensive, vielleicht auch in Zahlen ausgedrückt?
    Klöckner: In Zahlen ausgedrückt, das wäre unseriös, wenn ich das jetzt als solches sagen würde. Man kann es nur annähernd sagen, dass nach jetzigem Stand mindestens 100.000 Flüchtlinge wieder gehen müssen. Aber ganz genau kann man das gar nicht sagen, weil noch nicht alle Verfahren abgeschlossen sind. Wichtig ist, dass die Bundesregierung die Rahmen dafür geschaffen hat. Das heißt, dass aus der Erstaufnahmeeinrichtung heraus diejenigen ohne Bleibeperspektive, deren Verfahren durch ist, dann direkt zurückgeschickt werden und erst gar nicht auf die Kommunen verteilt werden. Das heißt auch, dass die Termine der Abschiebung jetzt nicht mehr bekannt gegeben werden müssen.
    Denn es ist so und so ist die Lebenswirklichkeit: Wer vorher weiß, wann er abgeschoben werden sollte, dessen Kind oder Familienangehöriger fehlte dann plötzlich und da gab es dann Abschiebehindernisse. Jetzt sind aber ganz intensiv die Länder gefragt und wir sehen, dass es da Riesenunterschiede gibt. Ich komme noch mal auf mein Bundesland Rheinland-Pfalz. Da wird das Ganze den Kommunen in die Schuhe geschoben. Wir sind aber der Meinung, dass die Kommunen erst gar nicht Menschen ohne Bleibeperspektive aufnehmen sollten, sondern die müssen zentral in der Erstaufnahmeeinrichtung bleiben. Deshalb ist es auch wichtig, dass wir Anreize minimieren, also Bargeld umwandeln in Sachleistungen.
    Es gibt eine theoretische Obergrenze
    Kapern: Frau Klöckner, zur Lebenswirklichkeit, die Sie da gerade zitiert haben, zu dieser Lebenswirklichkeit gehört ja noch etwas anderes, nämlich zum Beispiel, dass die Bundesregierung das Mandat für die Bundeswehr in Afghanistan verlängern will, wegen der prekären Sicherheitslage dort, und gleichzeitig will die Bundesregierung verstärkt Menschen nach Afghanistan abschieben. Muss man überkritisch sein, um darin einen Widerspruch zu entdecken?
    Klöckner: Na ja. Da liegen Sie ja nicht ganz unrecht, dass man sagt, es gibt nicht nur die reine Lehre. Wir haben festgestellt, dass in Afghanistan ein Exodus auch stattfindet, vor allen Dingen ein solcher, der unterstützt ist mit einer Ausgabe von elektronischen Pässen. Das heißt, dass es hier auch eine wirklich konzertierte Aktion gibt. Und wir müssen uns auch anschauen, auf welche Länder wir uns konzentrieren, denn irgendwann werden wir in Deutschland nicht alles packen. Es gibt auch eine faktische Grenze und deshalb müssen wir mit anderen Ländern zusammenarbeiten, dass es auch innerhalb Afghanistans Regionen gibt, wo Menschen sicher sind, also innerhalb des Landes auch für Sicherheit sorgen.
    Kapern: Jetzt muss ich aber noch mal nachfragen, weil Sie da gerade etwas gesagt haben. Da klingelt etwas bei einem aufmerksamen Journalisten. Es gibt eine faktische Grenze? Bisher habe ich immer gehört, dass es keine Obergrenze gibt.
    Klöckner: Es gibt eine theoretische Obergrenze, die man nicht definieren kann, aber irgendwann - und wir haben ja von der Lebenswirklichkeit gesprochen - wird es auch die Erschöpfung der Menschen geben, der ehrenamtlichen Helfer. Wenn das nicht der Fall wäre, Herr Kapern, dann müssten wir uns ja keine Gedanken machen, wie zum Beispiel das Asyl-Beschleunigungsgesetz implementiert wird in den Ländern. Mit faktischer Grenze meine ich, dass wir irgendwann mit Wohnraum an die Grenze kommen und dass wir gar nicht so schnell bauen könnten, wie wir Wohnraum bräuchten, wenn wir jetzt nicht handeln würden.
    Kapern: Nun kann man aber doch die Obergrenze so definieren, wie Horst Seehofer das tut, nämlich indem man sagt, die ist längst erreicht.
    Klöckner: Das kann man so machen, sicherlich. Man muss es aber nicht.
    Kapern: Teilen Sie diese Einschätzung dann?
    Klöckner: Sagen wir so: Wenn man sagt, sie ist jetzt erreicht, für wen ist sie erreicht? Bei Bayern verstehe ich das. Es gibt aber andere Länder in Europa, da ist sie längst nicht erreicht. Mir sagen meine Landräte oder auch Landräte aus anderen Ländern, es ist an der Kante, aber wir schaffen das. Insofern ist es immer schwierig, in einem Satz oder einer Headline eine komplexe Situation zu beschreiben.
    Kapern: ... sagt Julia Klöckner, die stellvertretende Vorsitzende der CDU, heute Früh im Deutschlandfunk. Frau Klöckner, vielen Dank, dass Sie Zeit für uns und unsere Hörer hatten, und ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.
    Klöckner: Danke Schön! Auf Wiederhören, Herr Kapern.
    Kapern: Auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.