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Julia Phillips: „Das Verschwinden der Erde“
Verbrechen mit Folgen

Vor dem Hintergrund der imposanten Kulisse der Halbinsel Kamtschatka erzählt die US-Amerikanerin Julia Phillips in ihrem Debütroman vom Verschwinden zweier Mädchen. Am vermeintlichen Verbrechen schaut sie immer knapp vorbei. Ein staunenswert gelungenes, atmosphärisch starkes Buch.

Von Christoph Schröder | 29.01.2021
Julia Phillips und ihr Roman "Das Verschwinden der Erde"
Rund zehn Jahre lang hat Julia Phillips an ihrem Debütroman geschrieben. Für ihre Recherche lebte die 1988 geborene Autorin ein Jahr lang auf der russischen Halbinsel Kamtschatka. (Nina Subin/dtv)
Zwei Schwestern, Sofija und Alijona, elf und acht Jahre alt, streifen gemeinsam durch die Stadt, essen Blini mit Bananen und Schokolade und vertreiben sich die Zeit bis zum Abendessen. Erst dann werden sie zu Hause erwartet; die alleinerziehende Mutter arbeitet als Journalistin. Am steinigen Strand von Petropawlowsk, der Hauptmetropole im Südosten von Kamtschatka, treffen die beiden Schwestern schließlich auf einen Mann, den sie zuvor noch nie gesehen haben.
"Sein Rücken war gekrümmt. Aus der Ferne hatte er wie ein Erwachsener ausgesehen, doch jetzt wirkte er eher wie ein übergroßer Teenager: aufgedunsene Wangen, sonnengebleichte Augenbrauen, strohblondes Haar, das abstand, wie die Stacheln eines Igels. Er hob das Kinn. ‚Hallo.'"
Sofija und Alijona verschwinden an diesem Tag spurlos. Julia Phillips nutzt den Spannungsbogen eines Kriminalromans und knüpft geschickt ein Netz aus Figuren, die allesamt von dem mutmaßlichen Verbrechen, das Petropawlowsk erschüttert, betroffen sind, sei es direkt oder indirekt. Den Hintergrund für all diese Erzählungen bilden die Landschaft und die Geschichte der Halbinsel Kamtschatka, die bis zum Jahr 1990 militärisches Sperrgebiet war. Die geradezu erhabene Schönheit der Natur steht in einem Widerspruch zu den Lebensbedingungen und Erfahrungen der Figuren, die Phillips in zwölf Kapiteln auffächert, gegliedert in Monate analog zum Verlauf des Jahres.

Russische Militärelite und indigene Minderheit

Da ist Walentina, Sekretärin an einer Grundschule, die in ihrer Ehe innerlich verhärtet ist und mit der Krebsdiagnose konfrontiert wird. Da ist Ksjuscha, eine Studentin aus dem Norden, die der indigenen Minderheit der Ewenen angehört und von ihrem eifersüchtigen russischen Freund kontrolliert wird. Oder Natascha, deren Bruder sich in abstrusen Theorien von Außerirdischen verliert und deren Schwester Alija im Alter von 18 Jahren ebenfalls verschwunden ist. Die Polizei hat nicht sonderlich intensiv nach ihr gesucht. Alija, so heißt es, habe ohnehin einen schlechten Ruf gehabt. Wahrscheinlich sei sie weggelaufen, um ein neues Leben anzufangen. Alijas Mutter gehört ebenfalls der indigenen Bevölkerung an. An der unterschiedlichen Intensität, mit der die Behörden in den beiden Fällen der verschwundenen Mädchen ermitteln, lässt sich ein weiteres Grundthema des Romans ablesen – das Machtgefälle zwischen den Angehörigen der russischen Militärelite und der indigenen Minderheit.
Die subtile Grausamkeit, mit der Menschen begegnet wird, die sich nicht konform verhalten, durchzieht den Roman als grundsätzliche Bedrohung. Die Protagonistinnen in "Das Verschwinden der Erde" sind allesamt Frauen, die einen traumatischen Verlust erfahren oder einen Desillusionierungsprozess durchlaufen haben. Phillips zeigt eine von Männern dominierte, geschlossene Gesellschaft, die allerdings nicht leitartikelhaft angeklagt, sondern in unterschiedlichen Manifestationen erzählerisch aufgefächert wird. Das Motiv der Flucht ist geradezu folgerichtig eines der zentralen Elemente dieses Romans.

Sorgfältig konstruierter Gesellschaftsroman

Das Verschwinden der beiden Mädchen ist zwar der Erzählanlass, doch Phillips schaut an diesem vermeintlichen Verbrechen immer knapp vorbei. Das ist ein geschickt gewählter Fokus, weil sich das Buch dadurch zum Gesellschaftsroman ausweitet, wie sich überhaupt erst am Ende zeigt, wie sorgfältig "Das Verschwinden der Erde" im Ganzen konstruiert ist.
Auf diese Weise gelingen Julia Phillips differenziert gezeichnete, klischeefreie und jederzeit interessante Porträts von Menschen, die in ein System von Abhängigkeit verstrickt sind. Und es gibt mehrere Passagen, in denen das untergründige Gefühl von Verlorenheit, das viele Figuren ausstrahlen, unter anderem auch auf den Verlust der gefestigten sozialen und politischen Strukturen der Sowjetunion zurückgeführt wird.
"Ihre Eltern hatten sie in einer starken Gemeinschaft erzogen, in einem idyllischen Dorf, mit Menschen, die noch Prinzipien hatten, in einer lebendigen Tradition, einer sozialistischen Nation mit großen Errungenschaften. Diese Nation war zusammengebrochen, und an ihrer Stelle war eine große Leere getreten."

Zwei Mütter trauern

Der Zerfall der Sowjetunion wird nicht beklagt, aber er steht als eine der möglichen Ursachen für vieles, was hier geschildert wird: Der Zynismus der Behörden, all die saufenden und übergriffigen Männer, die in ihren Machtansprüchen mal bedrohlich, mal lächerlich wirken. Das längste und vielleicht auch eindrücklichste Kapitel von Julia Phillips ist jenes, in dem Marina, die Mutter der verschwundenen Sofija und Alijona, bei einem Festival für indigene Kultur auf Nataschas Mutter Alla trifft. Zwei Frauen, die ihre Kinder auf mysteriöse Weise verloren haben und die auf unterschiedliche Weise trauern. In diesen Passagen wird deutlich, wie tief die Ungewissheit, die Angst, die Trauer und die Verzweiflung sich in den Alltag derer eingegraben haben, die nach dem einschneidenden Ereignis weitermachen müssen:
"Marina ihrerseits überlebte. Sie ging ins Büro, lieferte ihre Artikel ab, sprach über Belanglosigkeiten. Sie besuchte ihre Freunde, wenn sie eingeladen wurde. Sie rief im Polizeirevier an, um nach Neuigkeiten zu fragen. Doch mehr ertrug sie nicht, und manchmal war selbst das zu viel. Alles, was sie vorher angetrieben hatte, war verschwunden."
Ob und auf welche Weise Julia Phillips den Fall um die verschwundenen Mädchen auflöst, wird an dieser Stelle selbstverständlich nicht verraten. Das ist auch gar nicht nötig, um festzustellen, dass "Das Verschwinden der Erde" ein staunenswert gelungenes Debüt ist – ein spannendes, auch dank des geografischen Settings atmosphärisch überzeugendes Buch, in dem Gewalt, vor allem Gewalt gegen Frauen, in unterschiedlichen Ausprägungen thematisiert wird, ohne sich dabei brachial voyeuristischer Darstellungen zu bedienen.
Julia Phillips: "Das Verschwinden der Erde"
aus dem amerikanischen Englisch von Pociao und Roberto de Hollanda
dtv, München, 374 Seiten, 22 Euro.