Junge Pflege
Pflegebedürftigkeit ist keine Frage des Alters

Mit 35 Jahren ins Seniorenheim ziehen? Für die meisten wohl eine schlimme Vorstellung. Für pflegebedürftige junge Erwachsene ist das aber oft die einzige Option. Denn für Menschen unter 60 gibt es kaum Pflegeeinrichtungen in Deutschland.

Von Stephanie Kowalewski | Online-Text: Kristina Reymann-Schneider |
    Eine Pflegerin steht hinter einem jungen Mann mit Down Syndrom, der lachend in einem Rollstuhl sitzt.
    Pflegebedürftig sind nicht nur alte Menschen. Doch junge Pflegebedürftige würden von der Politik oft übersehen, sagen Kritiker. (picture alliance / imageBROKER / Unai Huizi)
    Wenn junge Erwachsene pflegebedürftig werden, gibt es oft ganz praktische Probleme bei ihrer Versorgung. Denn für sie gibt es kaum Pflegeeinrichtungen. Die Folge: Sie werden in Altersheimen untergebracht und leben mit Menschen zusammen, die im Schnitt doppelt so alt sind und oft völlig andere Interessen und Bedürfnisse haben. Warum gibt es diese Versorgungslücke für jüngere Pflegebedürftige und wie könnte sie geschlossen werden?   

    Übersicht

    Warum gibt es eine Versorgungslücke für junge Pflegebedürftige?

    Insgesamt sind rund 5,7 Millionen Menschen in Deutschland pflegebedürftig. Etwa eine Million von ihnen sind jünger als 60 Jahre alt. Experten zufolge wächst die Zahl der jungen Erwachsenen, die stationäre Pflege brauchen. Genaue Zahlen aber gibt es nicht.
    Wie groß die Versorgungslücke ist, lässt sich daher gar nicht ermitteln. Denn niemand weiß, wie viele der jungen Pflegebedürftigen tatsächlich einen Platz in einer Langzeit-Pflegeeinrichtung brauchen. Ebenfalls unklar ist, wie viele der bundesweit rund 16.500 Pflegeheime ein spezielles Angebot für junge Pflegebedürftige haben.
    Wie gut junge Menschen, die auf stationäre Langzeitpflege angewiesen sind, versorgt sind, ist aktuell dem freien Markt überlassen. Einen Rechtsanspruch auf einen Platz in einer Pflegeeinrichtung gibt es nicht.
    Der Staat komme seinem Auftrag nicht nach, alle Menschen bedarfsgerecht zu versorgen, kritisiert Sozialforscher Rolf Müller. „Aber ohne Erfassung dessen, was eigentlich Bedarf ist, wird es da keine weitere Maßnahme geben“, befürchtet er. Die Politik konzentriere sich auf die größer werdende Gruppe älterer pflegebedürftiger Menschen.
    Darüber hinaus ist schon der allgemeine Fachkräftemangel in der Pflege eine große Herausforderung. Tausende Stellen sind unbesetzt. Hinzu kommt: Die Pflege junger Menschen ist aufgrund eines niedrigeren Personalschlüssels gut 30 Prozent teurer als ein Platz in einer klassischen Senioreneinrichtung, wo Pflegekräfte eine größere Anzahl von Menschen versorgen.
    Plätze für junge Pflegebedürftige sind auch deshalb rar, weil Betroffene lange Zeit in den Einrichtungen bleiben, bis sie in Seniorenheime oder eine eigene Wohnung umziehen. Selbst wer auf einer Warteliste steht, muss viele Jahre auf einen Platz warten.   

    Welche Folgen hat der Pflegeplatzmangel für Betroffene?

    Wenn aus pflegebedürftigen Jugendlichen Erwachsene werden oder wenn Erwachsene nach einem Unfall oder einer Krankheit Pflege benötigen, werden sie in der Regel entweder von ihren Angehörigen betreut oder ziehen in ein Altenheim, weil es nicht genug Einrichtungen für junge Pflegebedürftige gibt. Aktuell leben 30.000 Pflegebedürftige unter 60 in einem Seniorenheim.
    „Es ist eine Katastrophe für die Menschen, und aus meiner Sicht ist es letztendlich auch nicht eine würdevolle Perspektive, die unser Gemeinwesen diesen Menschen ermöglicht“, sagt Martin Danner, Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe.
    Betroffene berichten davon, dass sie während ihrer Zeit im Altenheim ziemlich unglücklich gewesen seien. Sie hätten viel geweint und sich sehr einsam gefühlt unter den anderen Bewohnern, die 30, 40 oder 50 Jahre älter waren als sie selbst. Hinzu kommen unterschiedliche Bedürfnisse, wie zum Beispiel Sexualität oder der Wunsch nach einem Partner.   

    Warum sind Pflege-WGs für junge Menschen sinnvoll? 

    Im dem ländlich gelegenen Ort Hinsbeck am Niederrhein gibt es seit Oktober die sogenannte „Junge Pflege“. Die Einrichtung richtet sich an 18- bis 65-Jährige, die wegen Unfällen oder degenerativen Krankheiten auf Pflege und Unterstützung angewiesen sind. Aktuell leben zwölf Frauen und Männer in der Wohngemeinschaft. Das Verhältnis ist familiär. Bewohner und Pflegekräfte duzen einander.
    Die Bewohner schätzen die Geselligkeit, das Miteinander und die Gespräche mit Gleichaltrigen. „Tatsächlich ist es so, dass hier die Pflege nicht im Mittelpunkt steht, sondern die Aktivität und die Betreuung und die Selbständigkeit“, sagt die Pflegedienstleiterin Daniela Manhart.
    Die „Junge Pflege“ ermöglicht ihren Bewohnern Kino-, Kirmes- und Konzertbesuche, bietet Sportprogramme an, begleitet sie zu Ärzten und Therapeuten und greift in Gesprächsrunden Themen auf, die im Gruppenalltag gerade wichtig sind. Schon nach wenigen Wochen sind körperliche Beschwerden bei einigen Bewohnern zurückgegangen und auch ihre psychische Verfassung hat sich verbessert.  

    Wie könnte die Versorgungslücke geschlossen werden?

    Zunächst müsse der genaue Bedarf ermittelt werden, sagt Sozialforscher Rolf Müller. Denn aktuell ist völlig unklar, wie viele junge Menschen überhaupt stationäre Pflege benötigen. Außerdem müsse deutlich mehr Geld ins Pflegesystem fließen.
    Der Ausbau von Einrichtungen für junge Erwachsene könnte den Pflegeberuf sogar aufwerten, meint Pflegedienstleiterin Daniela Manhart. Denn sie böten durch kleinere Gruppen und die individuelle Betreuung ein angenehmeres Arbeitsumfeld mit weniger Stress und mehr Zeit für Gespräche mit den Bewohnern. 
    Die wenigen Plätze, die es für junge Erwachsene gibt, sind nur mit großem Rechercheaufwand zu finden. Bislang gibt es keine zentrale Stelle, die freie Plätze auflistet, daher müssen sich die Betroffenen durchs Internet klicken und Pflegeeinrichtungen abtelefonieren. Hier könnte schon eine Online-Plattform Abhilfe schaffen und Transparenz herstellen. 
    Dass der Bedarf an Pflegeeinrichtungen für junge Menschen das Angebot überschreitet, wissen Eltern, die verzweifelt einem Platz für ihr pflegebedürftiges Kind suchen. Kathrin Higgen und Ulrich von Zanthier gehören dazu und haben den Verein „Zukunft Wohnen“ gegründet, um Politik und Gesellschaft auf die Versorgungslücke aufmerksam zu machen und ein bundesweites Angehörigen-Netzwerk aufzubauen. Im Bayerischen Landtag wurden sie im Februar bereits angehört. Allerdings hat sich seitdem nicht viel getan.