
Erste Erfolge vier Monate nach dem Start
"Wir machen learning by doing. Das ist völlig klar."
Der 57-Jährige ist einer von 22 Europäischen Staatsanwälten und Stellvertreter der Generalstaatsanwältin Laura Kövesi.
"Die Aufgabe, vor der wir gestellt wurden, eine komplett neue Institution auf die Beine zu stellen, das bedeutet, dass es selbstverständlich ein Lernprozess ist. Und ein Lernprozess ist, in dem wir uns, ich will nicht sagen täglich, aber zumindest wöchentlich mehrmals die Frage stellen, wie machen wir das jetzt eigentlich am besten, wie organisieren wir uns."
Europäische Bedienstete direkt vor Ort tätig
Das Besondere an der neuen Behörde ist: Während europäische Institutionen zur Umsetzung von Maßnahmen in den Mitgliedstaaten bisher immer auf die nationalen Verwaltungen angewiesen waren, werden jetzt europäische Bedienstete direkt vor Ort tätig. Damit ist die Europäische Staatsanwaltschaft die erste Behörde, die nicht nur zentral – im konkreten Fall in Luxemburg – sondern auch dezentral in den einzelnen Mitgliedstaaten wirkt. Das sei in gewisser Hinsicht ein neues Konzept in Europa, erläutert der Europarechtsprofessor Franz Mayer von der Universität Bielefeld. Denn bisher hat die Europäische Union Staatsgewalt im eigentlichen Sinne nicht direkt ausgeübt.
"Staatsgewalt, ja, die Möglichkeiten, mit unmittelbarem Zwang, mit physischem Zwang auch Norm-Anforderungen durchzusetzen: Durchsuchungen, eine Tür eintreten, Leute festnehmen – und das hat man der Europäischen Union bis jetzt eben nicht überlassen wollen. Ich sage in meiner Vorlesung gerne, die Europäische Union darf ganz viel stempeln, aber nicht schießen."
Die neue Europäische Staatsanwaltschaft darf jetzt etwas schießen – im übertragenen Sinn. Sie darf durchsuchen, sie darf festnehmen und wenn nötig - darf sie auch eine Tür eintreten. Bis hierhin war es aber ein weiter, steiniger Weg.
"Die Geschichte, die geht zurück bis, ich würde sagen, Mitte der 90er," sagt John Vervaele. Der Strafrechtsprofessor der Universität Utrecht war seinerzeit einer der Autoren des sogenannten Corpus juris, einer Ausarbeitung mehrerer Rechtswissenschaftler aus verschiedenen europäischen Ländern, in der Leitlinien, für den strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union beschrieben wurden. Auch damals stand dahinter bereits der Gedanke, dass auf nationaler Ebene nicht genug getan wurde, um die europäischen Finanzen wirksam zu schützen. Dem EU-Haushalt gingen durch Straftaten jährlich Millionenbeträge verloren.
"Wir haben vorgeschlagen, das materielle Recht zu harmonisieren. Das heißt, dass die Tatbestände – zum Beispiel Bestechung oder Finanzbetrug – ähnlich oder gleich sind in den Mitgliedstaaten. Hinzu kommt eine Harmonisierung der Verfahren und der Ermittlungsinstrumente sowie eine bessere Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten. Und unser letzter Vorschlag war eine ‚Europäisierung‘ der Strafverfolgung durch die Einrichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft."
Manche Mitgliedsstaaten fürchteten um ihre Souveränität
John Vervaele: "Die Reaktion der Mitgliedsstaaten war ein radikales Nein. Die wollten nicht einmal darüber diskutieren. Stattdessen wurde dann Eurojust eingerichtet."
Eurojust, das ist die Agentur der Europäischen Union für justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Ihre Aufgabe ist die Koordinierung grenzüberschreitender Strafverfahren. Der Gedanke dahinter: Durch eine verbesserte horizontale Vernetzung der Mitgliedstaaten wäre eine europäische Lösung überflüssig.
John Vervaele: "Die meisten Mitgliedstaaten behaupten bis heute, dass sie das auch alleine schaffen. Leider aber zeigen die Zahlen, dass das nicht stimmt."
Anfang der 2000er-Jahre änderte sich die Stimmung dann langsam. Nicht zuletzt, weil beispielsweise durch Mehrwertsteuerbetrug nicht nur die EU, sondern in erheblichem Maße auch die Mitgliedstaaten selbst geschädigt wurden. Im Vertrag von Lissabon wurde dann 2009 zunächst ein grober rechtlicher Rahmen für die Europäische Staatsanwaltschaft geschaffen. Allerdings: auf die Details hätten sich die Mitgliedstaaten einstimmig einigen müssen. Ein aussichtsloses Unterfangen: Großbritannien – seinerzeit noch Mitglied der EU – und einige andere Staaten sperrten sich nach wie vor vehement.
Es gab aber eine andere Möglichkeit, um zum Ziel zu kommen: die sogenannte "Verstärkte Zusammenarbeit". Danach kann eine Gruppe von Mitgliedstaaten für sich Regeln aufstellen, ohne dass diese dann automatisch für alle gelten. 2013 legte die Europäische Kommission einen Vorschlag dafür vor. Doch erneut intervenierten mehrere Mitgliedstaaten, weil ihnen die einzelnen Regelungen viel zu weit gingen.
John Vervaele: "Sie haben versucht – und ich denke sehr erfolgreich – die Europäische Staatsanwaltschaft so national wie möglich zu machen, um so die europäische Dimension zu mindern."
Besonders deutlich wird das, wenn man sich anschaut, welches Recht die Europäischen Staatsanwälte bei ihren Ermittlungen jeweils anwenden.
John Vervaele: "Um mal das Beispiel Deutschland zu nehmen: Wenn dort ein europäisches Verfahren eröffnet wird, dann muss der von Deutschland nominierte delegierte EU-Staatsanwalt, dann muss der – und jetzt kommt es – deutsches Recht anwenden."
Strafverteidiger befürchteten einen Flickenteppich
John Vervaele: "Die eigentliche Idee war, dass man Europäische Staatsanwälte hat, die europäische Ermittlungen durchführen."
Die Anwendung des jeweiligen nationalen Rechts hat nicht nur symbolische Bedeutung. Weil insbesondere das Prozessrecht in den Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich geregelt ist, befürchten Strafverteidiger einen Flickenteppich unterschiedlicher Beschuldigtenrechte von Verdächtigen und Angeklagten. Zwar gibt es für diesen Bereich bereits seit längerem Mindeststandards in der EU – die würden aber nicht ausreichen, beklagt beispielsweise die Berliner Rechtsanwältin Anna Oehmichen, Spezialistin für europäisches und internationales Strafrecht.
"Das ist ein Problem, weil es zu einem unterschiedlichen Schutzniveau führt für den Beschuldigten, je nachdem, in welchem Staat das Verfahren geführt wird und wo es dann angeklagt wird. Das heißt konkret, dass er in dem Land A möglicherweise Akteneinsicht erst bekommt, vor Anklageerhebung und vorher nicht. Und im Land B sehr frühzeitig schon Akteneinsicht bekommt und dadurch natürlich dann auch ganz andere Möglichkeiten bekommt, sich zu verteidigen."
Deshalb hätte sich die Anwältin gewünscht, dass in der Verordnung über die Europäische Staatsanwaltschaft die Beschuldigtenrechte mitgeregelt worden wären. Dazu kommt, erläutert Anna Oehmichen, dass bei grenzüberschreitenden Verfahren die europäischen Strafverfolger in gewissem Rahmen die Möglichkeit haben, das Land, in dem das Verfahren geführt wird, selbst zu wählen.
Auch Andrés Ritter, der stellvertretende Europäische Generalstaatsanwalt, sieht hier Schwierigkeiten auf die Ermittler vor Ort zukommen.
"Das Problem wird sich insbesondere dann ergeben, wenn wir in der Hauptverhandlung sind. Wenn es dann auch um das Verwenden von Beweisen, die im Ausland erlangt worden sind, wenn es um die Frage geht, nach welchem Recht ist es dann zu entscheiden gewesen, wie hat das funktioniert, wie sieht es mit Beweisverwertungsverboten und Ähnlichem aus."
Kooperation als neues Plus
"Ich hab jetzt Kontakt nach Estland gesucht und auch sofort bekommen," berichtet der Hamburger Delegierte Staatsanwalt Jörg Schröder.
"Hab dann jetzt schon ein paar Mal mit der Kollegin telefoniert. Und man hat so den Eindruck, ja wir sind halt schon seit längerer Zeit Kollegen und wir kennen uns auch schon seit längerer Zeit, was ja gar nicht der Fall ist. So dass von Anfang an diese kollegiale Zusammenarbeit vorhanden ist und vorhanden sein sollte und man nicht erst so wie im früheren Leben zusammenruckeln musste."
Erste Erfolge schon sichtbar
"Und das Ganze, wenn man das jetzt von dem Schaden hersieht, der beträgt bereits 4,5 Milliarden Euro. Also, es ist schon eine Summe, die deutlich macht, welche Bedeutung unsere Tätigkeit hat."
Einer der allerersten Fälle kam aus Deutschland. Es ging um einen groß angelegten Umsatzsteuerbetrug. Geführt wurde das Verfahren von München aus, beteiligt waren außerdem die Niederlande, die Slowakei, Bulgarien und Ungarn. An einem Morgen Anfang August rückten die Ermittler dann in einer konzertierten Aktion in allen fünf Ländern aus.
"Dass es da innerhalb von sechs Wochen möglich gewesen ist, gleichzeitige Durchsuchungen in fünf Staaten vorzubereiten, zu koordinieren und am selben Tag auch durchzuführen, das zeigt, wie unkompliziert und schnell die Zusammenarbeit zwischen Kollegen aus einer Behörde möglich ist."
Nicht alle EU-Staaten sind beteiligt
Warum sich manche Mitgliedstaaten für ein sogenanntes Opt-Out, also eine Ausnahmeregelung, entschieden haben könnten - dazu hält sich Andrés Ritter bedeckt.
"Das, was man selbstverständlich sagen kann, ist, dass die Schweden angekündigt haben, dass sie daran teilnehmen wollen, dass Dänemark und Irland gewissermaßen verfassungsrechtliche Vorbehalte gegen eine stärkere Integration im Justiz- und Inneres-Bereich haben. Und dass in Polen und Ungarn jetzt der europäische Gedanke derzeit nicht im Vordergrund steht, ich glaube, das mag dann ein möglicher Grund sein."
Möglicherweise lasse sich aber doch noch der eine oder andere noch nicht teilnehmende Mitgliedstaat überzeugen.
Gefahr auch für Politiker
Das kroatische Fallbeispiel zeigt, wie nah die Europäische Staatsanwaltschaft auch den politisch Mächtigen kommen kann. Andrés Ritter rechnet damit, dass in naher Zukunft die ein oder andere Fallakte mit weiteren prominenten Namen auf dem Tisch landen wird. Deshalb sei es für seine Behörde wichtig, jeden noch so kleinen Anschein von Abhängigkeit zu vermeiden.
"Wir fühlen und sind unabhängig. Und zwar komplett. Und das erlebt man jeden Tag an unserem Agieren, an der Art und Weise, wie wir im Kollegium Entscheidungen treffen, wie wir uns auch gegen Entscheidungen von Mitgliedstaaten stellen oder auch teilweise was für Verfahren eingeleitet werden, dass wir absolut nur Recht und Gesetz und dem Haushalt der Europäischen Union verpflichtet sind. Das ist tatsächlich nicht nur ein abstraktes Kennzeichen, was in der Verordnung festgeschrieben ist, sondern das ist das, was wir alle zutiefst empfinden als Auftrag und Privileg."
Etwas Sorge bereitet dem stellvertretenden Generalstaatsanwalt jedoch, dass diese Unabhängigkeit durch die Hintertür angekratzt werden könnte.
Ein Beispiel dafür gibt seine österreichische Kollegin Ingrid Maschl-Clausen:
"Um ein Korruptionsdelikt nachweisen zu können ist, zumindest nach meinem österreichischen Recht, ist es notwendig nachzuweisen, dass der Vorteil, das Geld bei der bestochenen Person angekommen ist. Das heißt, man muss bisweilen das Geld verfolgen, den Zahlungsfluss über fünf, sechs, sieben Staaten. Wo ist der Zahlungseingang, wo ist der Zahlungsausgang, wo wurde das hingeschleust, ist es vielleicht versteckt irgendwo?"