Archiv

Karen Duve: "Fräulein Nettes kurzer Sommer"
Die verhängnisvolle Affäre einer jungen Dichterin

In ihrem Roman erzählt Karen Duve, wie die junge und für ihre Zeit ungewöhnlich emanzipierte Dichterin Annette von Droste-Hülshoff mithilfe einer Liebes-Intrige 1820 skandalisiert wurde. Zugleich porträtiert sie eine deutsche Biedermeier-Gesellschaft, die in ihrem Nationalismus verblüffend aktuell wirkt.

Von Christel Wester |
    Buchcover: Karen Duve: „Fräulein Nettes Kurzer Sommer“ und Portrait der Schriftstellerin Annette Freifrau von Droste-Hülshoff
    Zeitgenossen fanden sie impertinent, weil Annette von Droste-Hülshoff männliche Hobbys hatte wie Dichten, Reisen, Forschen (Buchcover: Galiani Verlag, Bild: picture-alliance / dpa)
    Als Annette von Droste-Hülshoff vor 170 Jahren starb, war ihr Werk so gut wie unbekannt. Ein berühmtes Briefzitat von ihr lautet: "Ich mag und will jetzt nicht berühmt werden, aber nach hundert Jahren möcht ich gelesen werden." Dieses sich bewusst zurückhaltende, katholische Freifräulein aus Westfalen scheint überhaupt nicht zur Schriftstellerin Karen Duve zu passen. Denn wer den schnoddrigen Ton und die lakonische Ironie kennt, mit denen Duve in ihren Erfolgsromanen "Dies ist kein Liebeslied" oder "Taxi" ihre von Selbsterniedrigungssucht getriebenen Anti-Heldinnen durch die Alltagswelt unserer Gegenwart trieb, kann sich die Dichterin aus dem 19. Jahrhundert nicht so richtig gut als Hauptfigur eines Duve-Romans vorstellen.
    Ein Freifräulein mit Freude am Steineklopfen
    Doch weit gefehlt. Das macht Karen Duve bereits in den ersten Sätzen ihres neuen Romans deutlich, hier gelesen von ihr selbst: "Es war früh am Morgen. Der Himmel hing tief, und die Sonne war kraftlos und hing noch tiefer. Aus einem Buchenwald traten ein kleiner, grundhässlicher Mann namens Heinrich Straube und ein zartes, sehr blondes und etwas glotzäugiges Freifräulein. Bodennebel, dicht und grau wie die Wolken am Himmel, wanden sich um ihre Füße. In Fräulein Nettes Gürtel steckte ein leichter Berghammer."

    Ein "glotzäugiges Freifräulein" mit Berghammer im Gürtel: Karen Duve macht aus der heute oft etwas staubig nach Schullektüre klingenden Dichterin Annette von Droste Hülshoff eine Frauenfigur, die in die Riege ihrer Roman-Protagonistinnen passt. Und schon im spöttischen Unterton dieser Anfangssätze beweist Duve abermals ihr Talent für die ironische Zuspitzung. Dennoch ist ihr neuer Roman keine Karikatur, sondern eine überaus ernsthafte Annäherung an Annette von Droste-Hülshoff. Denn Karen Duve zeichnet darin ein sehr differenziertes Porträt einer literarisch ehrgeizigen Frau, die im 19. Jahrhundert allein schon dadurch, dass sie schrieb, gegen das Rollenbild ihres Standes verstieß. Und damit nicht genug: Statt sittsam Tischdecken zu sticken, klettert die junge Annette von Droste Hülshoff bei Duve lieber in Steinbrüchen herum und sammelt mineralische Raritäten.

    "'Wie kommt es bloß, dass wir Steine für etwas Totes halten', sagte sie und ihre Worte lagen auf der Stille wie zitternde Wassertropfen auf einem Blatt, 'schauen Sie nur - wie bunt und funkelnd.'"

    Mit "Fräulein Nettes kurzer Sommer" wagt sich Karen Duve zum ersten Mal an einen historischen Roman. Nicht nur das dreizehn Seiten lange Literaturverzeichnis im Anhang belegt ihre intensiven Recherchen. Duve ist auch mental tief ins 19. Jahrhundert eingetaucht. Literarisch hat sie eine Art Amalgam geschaffen aus heutiger Sprache und damaligen Redeweisen, indem sie aus Briefen und Tagebüchern meist nur einzelne Ausdrücke, mitunter aber auch ganze Passagen in ihren lakonischen Schnodderjargon einwebt.
    Von Geburt an: Eine "Nervensäge"
    "Annette von Droste-Hülshoff war eine Nervensäge. Schon ihre Geburt hatte den Eltern Kummer bereitet." Die Dichterin war am 12. Januar 1797 eine Frühgeburt. "Therese gebar ein winziges, kümmerliches Geschöpf mit noch winzigeren Händchen, die Finger wie Spatzenkrallen und die Nägel daran kaum wahrnehmbare Häutchen. Man hatte auf einen Sohn gehofft. Eine Tochter - Jenny - gab es ja bereits, wozu also noch eine?"

    Es waren misogyne Zeiten, in denen Annette von Droste-Hülshoff zur Welt kam. Und Karen Duve fühlt sich mit Empathie in diese Welt ein und zeichnet einen eigenwilligen Charakter, der sich dem Rollenbild der Zeit widersetzt. "Fräulein Nette" ist wissbegierig und vorlaut, mischt sich ständig in Männergespräche ein, hat -ganz unweiblich - eine eigene Meinung und äußert die auch. Ihre spitze Zunge ist berüchtigt. Wilhelm Grimm gerät regelrecht in Panik, wenn Nette auftaucht.
    Im Zentrum von Duves Romans aber steht die sogenannte "Jugendkatastrophe" der Annette von Droste-Hülshoff, die historisch nachgewiesen ist und für die Dichterin traumatisch gewesen sein muss. Diese "Jugendkatastrophe" ereignete sich im Sommer 1820. Die 23-jährige Annette von Droste-Hülshoff geriet in die Mühlen einer Intrige, indem man sie in eine verheerende Liebesverwirrung trieb. Zuerst verliebte sie sich in Heinrich Straube, der in den damaligen Literatenzirkeln als ein neuer Goethe gefeiert wurde.
    Die "Jugendkatastrophe" der Dichterin
    "Selbst Fräulein Nettes strenge Mutter, die Freifrau von Droste-Hülshoff, hatte an ihm einen Narren gefressen. Das war vielleicht das größte seiner vielen Talente, dass er so schnell die Zuneigung seiner Mitmenschen zu gewinnen verstand. Allerdings sah die Freifrau in ihm wohl eher einen Beitrag zur Abendunterhaltung als den potenziellen Ehemann für eine ihrer Töchter. Denn zum Mangel seiner Bürgerlichkeit gesellten sich der Makel der falschen Religion und das Gebrechen der Armut."

    Der mittellose Dichter-Studiosus Heinrich Straube lobt als nahezu einziger Fräulein Nettes Gedichte, woraufhin sie in ihm prompt einen Seelenverwandten zu erkennen glaubt. Doch dann tritt noch ein Verehrer aus denselben Studentenkreisen auf den Plan: August von Arnswaldt, der sich dem Freifräulein allerdings in niederträchtiger Absicht nähert. Gezielt weckt er erotische Gefühle, die der sittsamen, jungen Adeligen bis dahin völlig unbekannt waren, um sie am Ende zu demütigen und gegenüber Straube ihre Untreue zu behaupten.
    Für die Verführungsszene erschafft Karen Duve einen kongenialen Ort, ein Gewächshaus: "Vom Glasdach hingen Körbe, aus denen große grüne Blattzungen lappten. Weiße, glockenförmige Blütenkelche quollen dazwischen hervor mit roten Kelchblättern und Staubfäden lang wie Peitschen. Die Fensterscheiben waren vom Wein bewachsen, selbst auf dem Boden kroch das Schlingzeug, bereit jeden zu überwuchern, der nur lange genug stehen blieb. Arnswaldt hielt sie fest, zog sie näher an sich heran."
    Was ist im Sommer 1820 wirklich geschehen?
    Was tatsächlich geschah, ist nicht überliefert, so schreibt es Duve selbst im Vorwort zu ihrem Roman. Verbürgt ist jedoch, dass Arnswaldt Annette von Droste-Hülshoff öffentlich brüskierte. Ihre Familie nahm das offenbar billigend in Kauf, weil so die Mesalliance mit Straube verhindert wurde. Karen Duve nähert sich den Ereignissen, indem sie sich psychologisch sensibel einfühlt. Gleichzeitig bettet sie ihr Porträt der jungen Annette von Droste-Hülshoff ein in ein Epochenbild, in dem neben den damals vorgegebenen Geschlechterrollen auch die Denkweisen und Mentalitäten der Zeit eindringlich hervortreten. Anschaulich rekonstruiert Karen Duve das Alltagsleben des deutschen Provinzadels zu Beginn der Industrialisierung und des erstarkenden Bürgertums. Außerdem taucht sie ein in die Studentenszene und ihre Literatenzirkel zu Anfang des 19. Jahrhunderts.

    Und auch wenn ihr manche Passagen ein wenig zu lang geraten, so gelingen ihr doch prägnante Milieustudien, voller Witz und Süffisanz. Duve zeichnet eine Gesellschaft, in der die technische Revolution und ein tiefgreifender sozialer Umbruch Hand in Hand gehen. Sie erspürt die Stimmung im deutschen Kleinstaaten-Flickenteppich nach dem Ende der napoleonischen Besatzung, beschreibt den wachsenden Nationalismus, der einhergeht mit einer restaurativen Rückbesinnung auf christlich-religiöse Werte und anti-aufklärerischen Tendenzen. Da werden Parallelen zu heute ganz beiläufig evident. Doch zum Glück hütet Karen Duve sich vor platten Aktualitätsbezügen. Auch das gehört zu den Stärken ihres neuen Romans.
    Karen Duve: "Fräulein Nettes kurzer Sommer"
    Galiani Verlag, Berlin. 592 Seiten, 25 Euro