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Karen Köhler: "Miroloi"
Klagelied für die Literatur

Unter einigen Rezensenten bricht bittere Enttäuschung aus über den aktuellen Spitzentitel des Carl-Hanser-Verlags. Doch an ihm lassen sich zahlreiche Phänomene ablesen, die Literatur und Literaturkritik der Gegenwart prägen. Der Versuch einer Sortierung.

Von Jan Drees |
Buchcover: Karen Köhler: „Miroloi“
Mit ihrem Erzählband "Wir haben Raketen geangelt" wurde sie 2014 bekannt, nun legt die Schauspielerin und Autorin Karen Köhler ihren ersten Roman vor (Foto: Imago/Sven Simon, Buchcover: Hanser Verlag)
"Miroloi", der Debütroman von Karen Köhler, erzählt die Geschichte einer Frau, die den Ausbruch aus einer archaisch strukturierten Inselgesellschaft wagt. Die Geschichte ist gegliedert in 128 Kapitel, die hier aber "Strophen" genannt werden. Das Leben in dieser Gesellschaft ist hart, vor allem für Frauen. Die Hauptfigur darf nicht einmal einen Namen tragen. Häusliche Gewalt und sexuelle Übergriffe scheinen an der Tagesordnung zu sein.
Weibliche Bildung wird verhindert – und doch lernt die hier vorgestellte Frau das Alphabet und Grundformen der Mathematik. Die Erzählung könnte sich interessant gestalten, man denkt möglicherweise an das furiose "Wörterbuch" von Jenny Erpenbeck aus dem Jahr 2005. Doch leider ist das Reflexionsniveau der "Miroloi"-Figur im Grundschulalter steckengeblieben, wenn sie beispielsweise fragt:
"Gibt es ein Ende von Zahlen? Wenn ich jetzt immer weiter zählen würde, weiter und weiter, komme ich dann irgendwann an eine Grenze? Sind die Götter die höchste Zahl?" Hinzu kommen etliche Stilblüten wie diese: "Ich zerstoße Pfefferkörner im Mörser, wie wächst der eigentlich?"
Literaturkritik gibt sich zurückhaltend
Eine offen negative Bewertung dieses Romans von Karen Köhler wagt allein Carsten Otte, der im Berliner "Tagesspiegel" schreibt: "Das ist alles so unwahrscheinlich, und selbst als literarische Zukunftsvision, die mit Regressionen in die düsterste Vergangenheit spielt, nicht wirklich plausibel. So verfehlt die überdeutliche Kritik am Patriarchat ihr Ziel, denn über die komplizierten Geschlechterverhältnisse unserer Zeit vermag die allzu simpel gestrickte Klage über die Barbarei religiöser Fanatiker nur wenig auszusagen."
Elke Schmitter nennt den Roman dagegen "ein ungewöhnliches Buch". Sandra Kegel vermeidet in der "F.A.Z." eine Bewertung. Der NDR macht "Miroloi" zum Buch des Monats.
Man muss es offen sagen: "Miroloi" ist ein naives Jugendbuch für LeserInnen ab 14 Jahre, das sich als Erwachsenenlektüre tarnt mithilfe der Spitzenplatzpositionierung des Hanser-Verlags. Es steht damit in guter Tradition von Romanen wie "The Circle" (Dave Eggers, 2013) – und schon immer wurden Romane für die Masse geschrieben, Schnulzen, Schmonzetten und Erbaulichkeitstraktate. Das ist keine Schande. Aktuell irritiert lediglich, wie aufmerksam und emsig das Feuilleton Bücher betrachtet wie "Die Liebe im Ernstfall" von Daniela Krien, "Neujahr" von Juli Zeh, "Dunkelgrün fast schwarz" von Mareike Fallwickl oder "Stella" von Takis Würger. Ist das Literatur im eigentlich Sinne, oder nur ein Easy Read für den bildungsbürgerlichen Mittelstand? Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Rezension zu Karen Köhlers Roman in der aktuellen Wochenendausgabe der taz. Geschrieben hat sie der Literaturwissenschaftler Moritz Baßler, der Professor ist an der Universität Münster – und seit Jahren ohne Dünkel auf Gegenwartstexte schaut. Baßler verspürt in der taz ein Unbehagen gegen den aktuellen Hanser-Spitzentitel, wenn er schreibt:
"Wenn das aber Literatur ist, und so sieht’s ja wohl aus, dann hat sich der Literaturbegriff in den letzten Jahren radikal gewandelt und wir brauchen neue Maßstäbe der Schönheit, des Stils und des Geschmacks. Sie müssten uns helfen zu klären, womit und in welcher Hinsicht ein Buch wie ‚Miroloi’ überhaupt zu vergleichen wäre und wie man dann entsprechend werten könnte."
Wohlwollen wegen Feminismus?
Im Raum steht der eher in den Sozialen Medien als in den Feuilletons der Republik geäußerte Verdacht, feministische Literatur werde wohlwollender besprochen als andere Bücher. Etwas hat sich verändert. Es gab die Erschütterungen durch #metoo und ganz aktuell durch den Hashtag #dichterdran, der auf humorvolle Weise Rezensionen über von Männern verfasste Literatur umschrieb in einem sextischen Terminus, der angeblich nur den Rezensionen weiblicher Kunst vorbehalten ist. Man las Sätze wie diesen über Arthur Miller: "Als Ehemann von Marilyn Monroe hatte er keine Schwierigkeiten, einen Verlag zu finden." Oder über Heinrich Böll: "Wenn die Kinder in der Schule, Abwasch und Einkäufe erledigt waren und das Bügeleisen langsam erkaltete, widmete sich Heinrich Böll seinem heimlichen Hobby, dem Schreiben."
Werden im Jahr 2019 Frauen im Literaturbetrieb benachteiligt? Ein Blick ins Hamburger Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" zeigt: Auf der Belletristik-Bestseller stehen auf den ersten vier Plätzen Bücher von Frauen, von Karin Slaughter, Cornelia Funke, Isabel Allende und Daniela Krien. In der Top 10 sind Ferdinand von Schirach mit "Kaffee und Zigaretten" und Rafik Schami mit "Die geheime Mission des Kardinals" die einzigen Männer. Im Sachbuchbereich zeigen die Platzierungen von Michelle Obama mit "Becoming", von Friday’s for Future-Aktivistin Greta Thunberg und Susanne Koelbl, die durch Saudi-Arabien gepilgert ist, dass sich die Diskursmächte verschoben haben. Sogar das Männer-Lieblingsthema Nazis wird auf Platz 6 besetzt mit Sophie von Bechtolsheims "Stauffenberg – Mein Großvater war kein Attentäter". Die Themen unserer Tage nehmen Frauen in den Blick, und sie schauen eher auf die Opfer statt auf die Täter, sie stehen für die Liebe im Ernstfall statt wie bei Martin Walser für die Leiden des 74-jährgen Goethe, der sich als Greis an eine Teenagerin ranmacht, Stichwort: "Ein liebender Mann".
Jahrhundertelang stand mediokre Männerliteratur im Fokus
Man muss gestehen, dass über die Dauer vieler Jahrhunderte die mediokren Ergüsse männlicher Literaten im Mittelpunkt standen – von Emanuel Geibels "Die Goldgräber" über die didaktischen und intellektuell niedrigschwelligen Theaterstücke Bertolt Brechts bis zum immerhin mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichneten "Roman unserer Kindheit" von Georg Klein. In unserer Gegenwart gehen die Auszeichnungen an Inger-Maria Mahlke, die 2018 den Deutschen Buchpreis gewann, an Anke Stelling mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2019, an Anna Burns mit dem Man Booker Prize 2018, an Ilma Rakusa, die 2019 den Kleist-Preis bekam und der Raabe-Preis des Deutschlandfunks ging 2018 an Judith Schalansky.
Kommen wir zurück zu Karen Köhlers "Miroloi", dessen Titel ursprünglich ein von Frauen gedichtetes und gesungenes Totenlied meint. Es ist verbunden mit der Passion Christi. Tausend Fragen bleiben nach der Lektüre zurück. Ist Köhlers Buch ein Totenlied auf nicht mehr existierende Formen der Misogynie? Kann "Miroloi" gelesen werden als Parabel auf die Unterdrückung von Frauen im Niger, im Chad oder Burkina Faso? Warum haben die Figuren dann skandinavische Namen wie Jakup Jakupsohn? Bekanntlich ist Schweden das frauenfreundlichste Land der Welt.
Kurzum: Dieses Buch besteht einerseits aus Redundanzen, Stilblüten und einer erschütternd naiven Sprache. Sein Konstrukt ist gekennzeichnet von Logikfehlern, einer nicht nachvollziehbaren Kapitelfolge und einer absurden Dehnung des discours. Sein Erzählanlass erschließt sich nur vage.
Wäre "Miroloi" nicht der aktuelle Spitzentitel des Hanser-Verlags, und würde das Buch ohne das Trend-Thema Feminismus auskommen; kein Hahn würde nach ihm krähen. Für die Literaturkritik taugt dieser Roman – ebenso wie "Stella" von Takis Würger – allein als Erinnerung daran, dass die Entscheidung, was wann wie groß besprochen wird, bei den Redaktionen und Rezensentinnen liegen sollte, weder bei den Presse-und Werbeabteilungen der Verlage noch bei Buchhändlerinnen und Buchhändlern oder den Algorithmen von Google Trends. Miroloi erinnet uns, dass wir keine neuen Kriterien brauchen, sondern eine Literaturkritik, die sich freischwimmt vom Markt und die sich in eine deutliche Differenz setzt zu den Marketingmaßnahmen der Verlage. Wir haben nichts zu verlieren – und die Verlage auch nicht. Es ist bekannt, dass sich Bücher nicht über Rezensionen verkaufen, sondern über Schriftstellerportraits, Interviews und: Debatten. Für den Hanser-Verlag könnte es erneut nicht besser laufen als jetzt – und damit ist auch dieser Büchermarkt-Beitrag ein manifester Beweis auch dafür, in welcher Weise die Literaturkritik erneut über ein vom Marketing hingehaltenes Stöckchen gesprungen sind.
Karen Köhler: "Miroloi"
Carl Hanser Verlag, München, 464 Seiten, 22 Euro