Mittwoch, 24. April 2024

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Karneval
"Verkehrung der Geschlechterhierarchie"

An Weiberfastnacht sei die Frau das erotisch fordernde Objekt, sagte die Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken im DLF. Im Prinzip würden im Karneval alle Rollen auf den Kopf gestellt und ausgetauscht. Bevor die strenge Fastenzeit beginne, stünden "alle Machtverhältnisse, alle Anständigkeitsverhältnisse Kopf".

Barbara Vinken im Gespräch mit Christiane Florin | 04.02.2016
    Barbara Vinken
    Die Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken über Enthemmung und christliche Sexualmoral im Karneval sowie die „unbarmherzige Debatte“ nach der Kölner Silvesternacht. (Deutschlandradio / Oranus Mahmoodi)
    Christiane Florin: Frau Vinken in diesen Wochen hoch erregter Diskussion kann man den Eindruck gewinnen, dass die Kölner Silvesternacht Deutschland verändert hat. Hat sie das Land verändert?
    Barbara Vinken: Ja. Nicht insofern, als es tatsächlich zu mehr Gewalt oder zu einer anderen Form von Gewalt gegenüber Frauen kam und diese schon gar nicht von Flüchtlingen ausging, sondern von Leuten, die schon länger in Deutschland leben. Es gab dieses Szenario "unsere deutschen, milchweißen Frauen und fremde, dunkle Männer" – ein Szenario, das praktisch bei allen Staatsgründungen eingesetzt wird und mitschwingt. Es hat Deutschland verändert, insofern als hier ein sehr fremdenfeindliches, sehr patriarchalisches Szenario wiederbelebt worden ist.
    "Debatte war extrem unglücklich, extrem fremdenfeindlich, extrem unbarmherzig"
    Florin: Würden Sie sagen, diese Debatte wird zu Unrecht geführt?
    Vinken: Ja. Ich würde nicht sagen, diese Debatte wird zu Unrecht geführt, aber die Art, wie sie geführt worden ist, ruht eben auf diesem Mythos der Vergewaltigung am Anfang von Republiken auf. Sie ruht auf dem Mythos auf, dass ein Land, um geeinigt zu werden, den fremden Mann braucht, der auf die einheimischen Frauen übergreift. Diese Debatte war extrem unglücklich, extrem fremdenfeindlich, extrem unbarmherzig und – wie ich letzten Endes finde – auch sehr misogyn.
    Florin: Sie haben en passant erwähnt, dass Vergewaltigung, dass der Angstmythos etwas mit Staatsgründung zu tun hat. Was meinen Sie genau damit?
    Vinken: Die berühmteste Vergewaltigung zu Anfang sind die Sabinerinnen, also die Trojaner, die nach dem verlorenen Krieg sich auf die Reise machen, die eine Art Flüchtlinge sind, ein neues Reich gründen wollen, nach Latium, also nach Italien, kommen und dort die Sabinerinnen rauben. Und "Frauen rauben" heißt natürlich de facto Frauen vergewaltigen, um den Staat gründen zu können. Insofern ist der Mythos der Gründung gleichzeitig ein Mythos von sowohl Brudermord als auch von Vergewaltigung. Das andere berühmte Szenario, das vielleicht einschlägiger ist, ist das, was Kleist in der "Hermannsschlacht" erzählt. Da ging es damals um die Befreiung von den Franzosen. Und da inszeniert Hermann die Vergewaltigung einer deutschen Frau durch die Römer, sprich Franzosen, die dann dazu führt, dass die Stämme geeint werden und der Hass durch das Land braust und die Fremden vertrieben werden.
    Florin: Sie beschreiben in Ihrem Buch "Die deutsche Mutter" ein Sittlichkeitsideal, das jahrhundertelang galt. Dieses Ideal ist sowohl von Luther geprägt als auch von der restriktiven katholischen Sexualmoral. Inwiefern gilt dieses Ideal immer noch?
    Vinken: Das Ideal der deutschen Mutter ist eines, das sich mit der Reformation weitgehend durchgesetzt hat. Das ist ein Ideal, das die Frau nicht als keusche Braut Christi, also nicht als einer höheren oder anderen Erotik hingegeben sehen kann oder sehen will, die diese als hysterisch diffamiert und die Frau als Mutter und Ehefrau festlegt. Ich würde schon sagen, dass sich das leicht geändert hat. Wir haben doch jetzt schon so etwas wie eine erotische Selbstbestimmung der Frau. Das hat sich eigentlich weitgehend durchgesetzt.
    Karneval ist Subversion
    Florin: Nun lässt sich ja das viel zitierte närrische Treiben nicht vom Triebleben trennen. Ist die Enthemmung am Karneval die Kehrseite der rigiden religiösen Moral?
    Vinken: Der Karneval ist vor allem die Verkehrung der Geschlechterhierarchie. Wenn Sie an Weiberfastnacht denken, da ist die Frau das erotisch fordernde Objekt, da ist die Frau diejenige, die auf die Männer übergreift. Im Prinzip werden im Karneval alle Rollen auf den Kopf gestellt und ausgetauscht. Was die rigide Sexualmoral angeht, da nehmen sich, glaube ich, Aufklärung, Kirche, egal ob evangelisch oder katholisch, nicht viel. Ich würde sogar sagen, dass die katholische Kirche eigentlich so etwas wie eine Eroslehre im Ideal der Keuschheit ausgebildet hat, die der protestantischen Kirche fehlt. So etwas wie eine "brennendere Liebe" kann man vielleicht sagen.
    Florin: Was, glauben Sie, denkt ein Mann aus Syrien, wenn er an Weiberfastnacht diese Verkehrung der Geschlechterverhältnisse sieht?
    Vinken: Das weiß ich nicht, weil ich kein Mann aus Syrien bin. Ich kann mich schlecht in dessen Kopf hineinversetzen. Ich weiß nicht, ob es in Syrien ähnliche Rituale gibt.
    Florin: Heißt an Karneval eigentlich "Spaß haben", was an anderen Tagen im Jahr sexuelle Belästigung heißen könnte?
    Vinken: Naja, Karneval ist eben eine Subversion. Alles wird umgekehrt, alles wird verkehrt. Bevor man dann in diese sehr strenge Fastenzeit einmündet, steht die Welt Kopf. Alle Machtverhältnisse, alle diese Anständigkeitsverhältnisse stehen Kopf. Das ist natürlich auch das Faszinierende, das fast Groteske. Das Aus-allen-Regeln-Ausbrechen in diesem Moment des Karnevals, der auf einen kurzen Moment beschränkt ist und in dem die Regeln wieder besonders sichtbar werden, indem man sich für den Moment des Überschwangs über sie hinwegsetzt.
    Karneval im Zeichen des Trotzes
    Florin: Sie sind selbst Rheinländerin. Feiern Sie mit?
    Vinken: Dieses Jahr bin ich in Berlin und da ist es ganz schlecht für Karneval.
    Florin: Können Sie denn Karneval mit Ihrem emanzipatorischen Anspruch vereinbaren?
    Vinken: Ja, weil ich gerade finde, dass es ein Verkehren des Geschlechterverhältnisses ist. Insofern hat das etwas durchaus Subversives.
    Florin: Obwohl der Karneval voll ist mit Geschlechterklischees, mit den ollen Witzen, in denen immer noch die Ehefrau mit dem Nudelholz hinter der Tür steht, wenn er betrunken nach Hause kommt?
    Vinken: Das Interessante ist ja, dass dieser Karneval diese absurden Geschlechterklischees absurd auf die Bühne bringt. Insofern ist das die Gattung des Grotesken. Und dadurch werden diese Klischees ein bisschen distanziert, sie werden ironisiert. Sie werden verrückt. Dieses Verrücken dieser Klischees, das sollte Karneval ja eigentlich tun und sie nicht blöd festklopfen.
    Florin: Meinen Sie dieser Karneval steht eher im Zeichen der Angst oder eher im Zeichen des Trotzes?
    Vinken: Ich hoffe, im Zeichen des Trotzes.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.