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Karoline Kleinert
"Sie nannten ihn Verräter"

Die Ostberliner Journalistin Karoline Kleinert hat ein Buch über das abenteuerliche Leben ihres Großvaters geschrieben: Heinz Lippmann war der Stellvertreter von Erich Honecker an der FDJ-Spitze. 1953 floh er in den Westen und nahm die Kasse der DDR-Jugendorganisation mit.

Von Melanie Longerich | 24.09.2018
    Collage Buchcover: "Sie nannten ihn Verräter - Auf den Spuren meines Großvaters zwischen Ost und West" von Karoline Kleinert / Hintergrund: Blühende Bäume im Winter am ehemaligen Berliner Grenzübergang Bornholmer Straße.
    Heinz Lippmann starb unerwartet mit 52 Jahren. Über sein bewegtes Leben ist seiner Enkelin ein eindrückliches Buch gelungen. (Buchcover: Rowohlt Verlag, Hintergrund: Dlf/Cornelia Sachse)
    "Dieses Buch ist ein Versuch, diesen Mann zu verstehen, der mir manchmal so nah scheint, dass ich fast erwarte, er würde die Fragen in meinem Kopf beantworten. Dann wiederum ist er mir so fern wie ein Fremder, wie eine Romanfigur am Anfang des Buches. Seite für Seite, so meine Hoffnung, werde ich meinem Großvater näherkommen, ihn mir Stück für Stück erschreiben. Es ist nicht die Wahrheit, die Realität, die ich erzähle. Es ist die Geschichte, die seine hätte sein können."
    Schreibt die Berliner Journalistin Karoline Kleinert in der Einleitung ihres Buches über den Großvater. Es ist nicht nur der Versuch, das ungeheuerliche Leben von Heinz Lippmann zu rekonstruieren, es ist auch der Versuch, das schwarze Loch in der Familiengeschichte auszuloten, das sich 1953 mit dessen überstürzter Flucht in den Westen aufgetan hatte.
    Die Autorin hat ihren Großvater Heinz nie kennen gelernt. Ihre Großmutter hatte sich früh von ihm scheiden lassen. Da war der gemeinsame Sohn, also Karoline Kleinerts Vater, selbst erst zwei Jahre alt. Für die Großmutter sei der Ex-Mann nur "das Schwein" gewesen, ein Verräter. Nicht nur, weil er seine Frau mit anderen Frauen betrogen hatte, sondern auch weil er Verrat beging an den gemeinsamen sozialistischen Idealen.
    Heinz Lippmann war bis zu seiner Flucht 1953 Erich Honeckers Stellvertreter bei der Freien Deutschen Jugend FDJ, dem Jugendverband der DDR. Ein Tausendsassa, der für seine Arbeit lebte: den Aufbau des Sozialismus. Doch dann nahm er die FDJ-Kasse mit 300.000 Westmark und fuhr mit der S-Bahn nach Westberlin. In Ostberlin wurde er zum feindlichen Agenten erklärt.
    Ausweis von Heinz Lippmann als Mitglied des Zentralrats der FDJ vom 01. September 1947
    Lippmann hat eine unkonventionelle Art, Jugendliche zu begeistern. Er wird als Sekretär in den FDJ-Zentralrat nach Ost-Berlin berufen, wo er für die Koordination der westdeutschen FDJ zuständig ist. (Karoline Kleinert)
    Zu Hause gab es nicht mal mehr ein Bild von ihm. Der Sohn fragte nicht weiter, die Enkelin schon. Karoline Kleinert war zwölf Jahre alt, als die Mauer fiel, mit 30 begann sie ihre Suche:
    "Dort, wo mein Vater seinen Schlussstrich zog, fing es für mich erst richtig an. Je mehr ich wusste, desto größer wurde meine Neugier. Aus dem vielen, was ich wissen wollte, kristallisierte sich ein zentraler Punkt heraus: Ist es möglich, einen Menschen kennen zu lernen, der schon mehrere Jahrzehnte tot ist, ihm zu begegnen durch die, mit denen er sein Leben geteilt hat - Freunde, Weggefährten, Frauen -, durch die Spuren, die er hinterlassen hat, sein Abbild der Zeit?"
    Abenteurer zwischen den Welten
    Karoline Kleinert forschte nach den Wegbegleitern ihres Großvaters, sichtete Akten im Stasiunterlagenarchiv, im Bundesarchiv, im Landesarchiv von Berlin. Mit der Zeit begann sich das Puzzle zu fügen, und es erzählt eine ganz besondere Lebensgeschichte vor dem Hintergrund der totalitären Erfahrungen des 20. Jahrhunderts.
    Heinz Lippmann wird 1921 in Berlin als Sohn eines jüdischen Fabrikanten geboren. Religion spielt zu Hause keine Rolle. Stattdessen stehen Werte wie Nationalstolz, beruflicher Erfolg und öffentliches Ansehen im Mittelpunkt.
    Als die Nationalsozialisten die Macht übernehmen, endet das privilegierte Leben: Heinz muss das Gymnasium verlassen, wird Hilfsarbeiter. Ein Fluchtversuch misslingt. Er wird nach Auschwitz deportiert und überlebt nur, weil ihn kommunistische Mithäftlinge vor der Gaskammer retten. 1945, nach seiner Befreiung, tritt er der KPD in Thüringen bei und engagiert sich beim Aufbau der FDJ.
    Er hat eine unkonventionelle Art, Jugendliche zu begeistern. Lippmann wird als Sekretär in den FDJ-Zentralrat nach Ost-Berlin berufen, wo er für die Koordination der westdeutschen FDJ zuständig ist. Als die im Juni 1951 verboten wird, leitet Lippmann die Arbeit aus dem Untergrund. Aufsehenerregende Aktionen, Abenteuer, das ist sein Ding. Damit ist Schluss, als er 1952 zum Stellvertreter von Erich Honecker gewählt wird, dem damaligen Vorsitzenden der FDJ.
    Die enge Zusammenarbeit ist konfliktreich: "Mehrmals versucht Heinz durch klärende Aussprachen das Verhältnis zu bessern", schreibt Kleinert. Doch "außer dass Honecker ihm versichert, er persönlich hätte nichts gegen ihn und es gäbe auch sonst keinerlei Vorbehalte, bleibt alles beim Alten".
    Atmosphäre von Misstrauen
    Anfang der 1950er Jahre zieht eine antijüdische Welle durch den Ostblock. Auch die SED beginnt, die Akten jüdischer Funktionäre zu überprüfen. Auch die von Heinz Lippmann. Er erlebt noch einmal, wie es ist, Außenseiter zu sein - und das unter Genossen, die eigentlich für die gleichen Werte kämpfen wie er:
    "Ich fand es sehr traurig, wie früh so eine Atmosphäre von Misstrauen dort herrschte. Den Moment, den mein Großvater beschreibt, wo die Untersuchung losgeht und wo niemand eigentlich mit ihm ehrlich drüber reden kann", erzählt die Autorin. "Wodurch es sich in seinem Kopf vielleicht viel weiter aufbauscht als es vielleicht war. Also ich habe ja trotz aller Recherchen auch nicht wirklich rauskriegen können, wie real und wie gefährlich das war, was da im Hintergrund ablief. Ob er wirklich ins Gefängnis gegangen wäre, wenn er nicht geflohen wäre. Oder wieweit er da wirklich seiner eigenen Angst erlegen ist."
    Heinz Lippmann taucht unter in Hamburg, in Frankfurt am Main. In Ostberlin läuft derweil die Verfolgungsmaschinerie an. Es ist nicht nur der Verlust der 300.000 Westmark, der die Funktionäre in Ost-Berlin schmerzt. Als früherer Westbeauftragter der FDJ kennt Lippmann Strukturen und Funktionäre in Westdeutschland, könnte alles auffliegen lassen.
    Doch der Flüchtige nimmt selbst Kontakt auf, erklärt sich Honecker in einem Brief, den die Enkelin später in seiner Stasiakte findet. Darin heißt es: "Ich war fertig. Ich wollte meine Ruhe. Ich wollte leben ohne Bespitzelungen, Misstrauen, Verhöre, ohne Politik. Ich wollte nicht die vielen FDJler im Westen angeben müssen. Ich war mir darüber klar, dass ich das musste, wenn ich offiziell und ohne Mittel in die Bundesrepublik kam. Ich stand zwischen allen Fronten. Deshalb schien es mir, das kleinere Übel, herrenloses Geld, das niemandem weh tat, zu nehmen, als Menschen ins Unglück zu stoßen und mich aufs Neue politisch binden zu lassen und neuen Qualen entgegen zu gehen."
    Im Einsatz für Ost und West
    Im Westen wird Heinz Lippmann nie richtig Fuß fassen. Er arbeitet als Journalist, kann davon aber kaum leben. Er trinkt, sucht Kontakt zu ehemaligen Mitstreitern, fühlt sich beobachtet. Wenig später kommt der Verfassungsschutz auf ihn zu. Die Stasi setzt mehrere Agenten auf ihn an - manche schaffen es bis in den engen Freundeskreis.
    Erst am 3. Mai 1971 wird die Verfolgungsjagd enden: Da wird Erich Honecker zum neuen Ersten Sekretär der SED gewählt. Und Heinz Lippmann arbeitet schon an dessen Biografie. Sie wird zum Erfolg - nicht zuletzt, weil Honecker unerwartet selbst Material beisteuert. Eine Genugtuung für Lippmann, endlich als ernstzunehmender Publizist und DDR-Experte anerkannt zu sein, schreibt Karoline Kleinert. Auch der Deutschlandfunk sendet im November 1971 ein Gespräch mit ihm und der Journalistin Karola Stern:
    Karola Stern: "Herr Lippmann, können Sie uns nochmal sagen, wie Sie sich das erklären, Material von Honecker für dieses Buch bekommen zu haben?
    Heinz Lippmann: "Ich führe es zurück, auf einen Versuch Honeckers, eine neue Informationspolitik im Westen durchzuführen. Dafür gibt es mehrere Hinweise: Honecker legt Wert darauf, seine Rolle als Widerstandskämpfer im Westen darzustellen. Und sicher ist das auch eine Imagepflege, seine Rolle im Westen aufzupolieren - wo er ja nur als dummer Apparatmann wahrgenommen wird. Da war er an jeder Veröffentlichung interessiert, auch einer von mir, in der Hoffnung, sie könnte etwas differenzierter sein."
    Heinz Lippmann starb unerwartet mit 52 Jahren. Über sein getriebenes Leben ist seiner Enkelin ein eindrückliches Buch gelungen, das auch ihre bewegende Suche in den Blick nimmt, die oft nicht weiterzugehen schien.
    "Sie nannten ihn Verräter" ist nicht nur ein eindrückliches Zeugnis deutsch-deutscher Geschichte, sondern auch ein Muss für diejenigen, die sich entschlossen haben, dem Leben ihrer Großeltern nachzuforschen.
    Karoline Kleinert - "Sie nannten ihn Verräter. Auf den Spuren meines Großvaters zwischen Ost und West"
    Rowohlt 2018, 320 Seiten, 22 Euro