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Kein Ende des Stillstands

Die Wahl war schon im Sommer, doch noch immer hat Belgien keine neue Regierung. Grund ist ein Streit zwischen Flamen und Wallonen sowie nationalistischen Bestrebungen des Wahlsiegers Bart de Wever.

Von Doris Simon | 27.12.2010
    Es war ein Weihnachtsgeschäft, wie es sich der belgische Handel erträumt hatte: Bereits im Anlauf zum Nikolaustag, an dem man traditionell die Kinder beschert, klingelten überall im Land die Kassen. Dass die führenden Politiker des Landes sechseinhalb Monate nach den Wahlen immer noch weit davon entfernt sind, sich auf eine neue Regierung und ein Arbeitsprogramm zu einigen, und der geschäftsführenden Regierung bei vielem die Hände gebunden sind, die meisten Belgier nehmen es inzwischen gelassen. Schließlich hat sich seit drei Jahren kaum etwas bewegt im Land. Der Streit zwischen französisch- und flämischsprachigen Politikern darüber, wie viel Belgien es noch geben soll, lähmen die föderale Politik. Dafür sind die Fliehkräfte im Land stärker geworden: Im reichen flämischen Norden und in der ärmeren französischsprachigen Wallonie wächst das Gefühl, dass man sich nach langem Nebeneinander zusehends auseinanderlebt.

    Sehr ernsthaft und ausführlich befragte etwa das flämische Fernsehen Ende November zur besten Sendezeit elf Professoren über die praktischen Folgen einer Spaltung Belgiens.

    Aus gegebenem Anlass, schließlich ist die Unabhängigkeit Flanderns das Langzeitziel von Wahlsieger Bart de Wever und seiner Partei, der neuen flämischen Allianz nva. Und ob der flämische Separatist wirklich einen Kompromiss mit den Frankofonen und eine funktionierende neue Regierung will, wird nicht nur um französischsprachigen Belgien heftig diskutiert. Führende französischsprachige Sozialisten wie Sozialministerin Onckelinckx dachten zwischenzeitlich ihrerseits laut über ein Leben ohne Belgien nach:

    "Wenn die Flamen Belgien wirklich nicht mehr wollen, dann müssen Wallonen und Brüsseler ihr Schicksal selber in die Hand nehmen."

    Nun vermittelt ein angesehener flämischer Sozialist im Auftrag von König Albert zwischen den Parteien im Norden und Süden Belgiens: Konkrete Verhandlungen über eine Regierung und deren Programm können nach dem Willen von Wahlsieger de Wever erst beginnen, wenn auf beiden Seiten der Sprachgrenze Einigkeit darüber herrscht, wie viel Macht der belgische Staat an die Regionen Flandern, Wallonie und Brüssel abtreten soll und wie dies finanziell begleitet wird. Die Sondierungen, die der Vermittler darüber mit den interessierten flämischen und französischsprachigen Parteien führt, sind zeitraubend und schwierig. Mitten hinein platzte da ein Interview des "Spiegel" mit Bart de Wever, in dem der flämische Wahlsieger die französischsprachigen Belgier als Junkies an der Nadel Flanderns und Belgien als den kranken Mann Europas bezeichnete. Das regte sogar die meisten Flamen auf, den geschäftsführenden Premierminister Yves Leterme eingeschlossen:
    "Es ist völlig falsch, Belgien als den kranken Mann Europas zu bezeichnen. Das lädt gerade zu ein zu irrationalen Reaktionen der Märkte! Ich finde, hier ist Zurückhaltung geboten, es geht schließlich um das Wohlergehen des Landes und der Bürger."

    Für das kommende Jahr rechnet Belgien mit einem Wachstum von zwei Prozent, mit der Erholung in Deutschland zieht auch hier die Wirtschaft wieder deutlich an. Doch zugleich ächzt das Land unter einer enormen Staatsschuld, und Ratingagenturen drohen offen mit der Herabstufung, sollte nicht bald eine neue belgische Regierung überfällige Reformen anpacken. Doch die ist wohl noch Monate nicht in Sicht, statt dessen ist immer häufiger die Rede von Neuwahlen. Doch die Wähler, das zeigen Umfragen, würden sich wohl genauso wie im Juni entscheiden. Entschieden gegen Neuwahlen ist auch Luc de Bruyere, der Vorsitzende des Verbands flämischer Unternehmen:

    "Wir müssen dem Ausland unbedingt zeigen, dass wir in der Lage sind, unsere Probleme zu lösen, und wenn es jetzt Neuwahlen gibt, dann geben wir genau das entgegengesetzte Signal und dann kann es sehr wohl passieren, dass die Finanzmärkte noch heftiger überreagieren als bisher."