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Kein Genie, aber Mann mit Charisma

Nach Einschätzung des Geigers Hellmut Stern war Herbert von Karajan kein Genie. "Aber dass er sich selbst inszeniert hat, das stimmt", sagte Stern anlässlich des 100. Geburtstages des Dirigenten. "Er hatte das, was man Charisma nennt."

Moderation: Christoph Heinemann | 04.04.2008
    Christoph Heinemann: 2006 war das Mozart-Jahr. 2009 ist Joseph Haydn dran. 2008 erinnert die Musikwelt vor allem an einen Dirigenten. Herbert von Karajan wurde am 5. April 1908, also morgen vor 100 Jahren, geboren. Nicht nur in Berlin und Salzburg wird seiner mit Konzerten und anderen Veranstaltungen gedacht.

    Seit Mitte der 50er Jahre bis kurz vor seinem Tod im Wendejahr 1989 leitete Karajan das Berliner Philharmonische Orchester - eine Ära. Die Philharmonie, von Hans Scharoun gebaut, hieß im Berliner Volksmund nur "Zirkus Karajani".

    Wir haben vor dieser Sendung mit Hellmut Stern gesprochen, der rund 30 Jahre lang als erster Geiger mit Herbert von Karajan gespielt hat - genau gesagt als Vorspieler des Berliner Philharmonischen Orchesters. Das ist der Geiger, der hinter dem Konzertmeister sitzt, nur wenige Schritte entfernt vom Pult des Chefdirigenten. Auf diesen Platz gelangte Hellmut Stern nach einer Odyssee. Die Flucht vor den Nazis führte ihn unter anderem in die Mandschurei, nach Israel, in die USA und dann erst wieder in seine Geburtsstadt Berlin. Das heißt, wir könnten mit Hellmut Stern eigentlich auch ein spannendes Gespräch über Hellmut Stern führen. Das tun wir aber heute nicht. Wir sprechen über Herbert von Karajan.

    Orchestermusiker spüren ziemlich schnell, was ein Dirigent kann und was nicht. Ich habe Hellmut Stern nach seinem ersten Eindruck von Karajan gefragt.

    Hellmut Stern: Mein erster Eindruck war natürlich etwas gemischt. Erstens: Ich war beglückt, in meiner Heimatstadt wieder zu sein. Ich war beglückt, in diesem Orchester sein zu dürfen. Und dann war ich auch von Herrn von Karajan beglückt, denn in den Proben war er großartig. Er hat niemals unnötig probiert. Er war immer sehr jovial. Es war schön, mit ihm zu arbeiten.

    Heinemann: Und lagen seine Stärken eher in der Interpretation, also im Lesen und Deuten von Musik, oder in der Verwirklichung einer Klangvorstellung?

    Stern: Der Klang war alles. Wir würden ja heute Sound sagen, das neue deutsche Wort.

    Heinemann: Im Deutschlandfunk sagen wir noch Klang!

    Stern: Sagen sie immer noch Klang?

    Heinemann: Ja.

    Stern: Ach Gott sind sie zurück! Na ja, wie dem auch sei. Der Klang war in der Tat alles für ihn. Manchmal haben wir gesagt, na ja, jetzt ist wieder die Vanillesoße über alles. Aber man muss unterscheiden zwischen dem, was er gemacht hat, und manches Mal war es wirklich wunderschön - besonders bei französischer Musik, natürlich Wagner und Strauß, überhaupt die Romantiker, Tschaikowsky und so weiter. Da kommt es ja auch wirklich sehr auf den Klang an.

    Heinemann: Sie sprachen von der Vanillesoße. Was schmeckte da nach Vanille?

    Stern: Ich habe ihn mal gefragt Anfang der 60er Jahre, warum machen Sie gar keinen Mahler? Ringsherum ist die große Mahler-Renaissance, und Sie machen keinen. Ach sagte er, wissen Sie, da ist immer irgendein Satz so hässlich. Das kann man nicht machen. Da hat er einfach nicht begriffen oder wollte nicht begreifen oder kam eben noch aus dem alten Wien, wo solch eine Meinung herrschte. Mahler hat aus seiner Jugendzeit berichtet musikalisch. Und da gab es die Militärkapellen. Da war er noch als kleiner Junge. Das hat er alles integriert in seinen Symphonien.

    Heinemann: Trompetensignale.

    Stern: Zum Beispiel, und vor allem das Militär.

    Heinemann: Aber solche Gespräche konnte man mit Karajan schon führen? Er war nicht unnahbar?

    Stern: Nein, überhaupt nicht. Es ist die Frage, wer? Die Orchestermitglieder selbstverständlich, aber natürlich nicht jeder. Er war ja so eine Art Ästhet. Er hat nicht jeden an sich rangelassen. Körperlich wollte er auch gar nicht. Zum Beispiel Hände geben, was bei uns normal ist, guten Tag, bei ihm lieber nicht. Oder wenn irgend so ein alter Freund, na, wie geht es denn, und dann ein Knall auf die Schulter, das gab es auch nicht.

    Heinemann: Hat er sich auch so ein bisschen selbst stilisiert, vielleicht auch getragen durch die Medien? Schon 1938 schrieb eine Zeitung über das "Wunder Karajan" nach seiner ersten Tristan-Aufführung mit den Berlinern. Nach dem Krieg war er dann endgültig Genie, Held und so weiter. War er das wirklich?

    Stern: Nein! Das war er bestimmt nicht. Aber dass er sich selbst inszeniert hat, das stimmt, natürlich. Nur auch das kam aus einem ganz natürlichen Bedürfnis. Er hatte das, was man Charisma nennt, was immer das ist. Er kommt rein, und alles lauscht seinen Worten.

    Heinemann: Karajan hat einmal gesagt, um dirigieren zu können, hätte er auch einen Mord begehen können. Das hat er nicht getan, Gott sei Dank. Aber er ist mindestens einmal in die NSDAP eingetreten. War er Nazi?

    Stern: Erstens: Er ist nicht nur einmal, sondern zweimal eingetreten, damit es besser hält. Und zweitens: Nazi war er nicht, denn man muss ja nun mal definieren, wer ist Nazi und wer ist nur Mitläufer, wer ist nur Opportunist und so weiter. Also er war das letzte. Er war Opportunist, aber das waren andere auch. Es war wohl opportun, in die Nazi-Partei einzutreten. Dass er keine Verbrechen gemacht hat, das ist ganz klar. Auf der anderen Seite kann man natürlich sagen, wie kommt es, dass solche Menschen die Augen zugemacht haben und nichts wissen wollten von dem, was ja offen auf den Straßen passierte? Diese ganze Erniedrigung, diese Überfälle auf Menschen, die auf der Straße sichtbar waren, das wurde alles verdrängt.

    Heinemann: Herr Stern, Ihre Familie musste vor den Nazis fliehen. Haben Sie mit Herbert von Karajan jemals über das Dritte Reich gesprochen?

    Stern: Nein!

    Heinemann: Warum nicht?

    Stern: Das ist eine seltsame Sache, die ich mir im Nachhinein auch gestellt habe. Ich habe verdrängt, und er hat verdrängt. Verdrängt haben wir alle und vor allem auch meine damaligen Kollegen. Da waren ja noch welche von früher, das waren Soldaten. Und es gab welche, die Mitläufer, und es gab richtige Nazis. Die mussten dann zwar raus aus dem Orchester. Ich bin zum Beispiel niemals gefragt worden von meinen Kollegen, und ich habe auch von mir aus nichts gesagt. Nur ab und zu habe ich mal beim Kartenspielen, das war in China ganz anders. China, was hast du denn da gemacht? Na ja, überlebt! Was heißt das, warum? Warum bist du nach China und so?

    Also vollkommene Ignoranz, was mit uns geschehen ist. Aber das ist nun mal so, und das gilt auch für Herrn von Karajan. Musiker sind sogar stolz darauf, dass sie keine Politiker sind. Das heißt, wir haben mit der Politik nichts zu tun, wir spielen!

    Heinemann: Und verdrängen kann man gut, wenn man sich den Terminkalender vollpackt. Karajan war nicht nur Chef des Berliner Philharmonischen Orchesters, er leitete zwischendurch die Wiener Staatsoper, war Direktoriumsmitglied der Salzburger Festspiele. Mit einer Plattenfirma hat er über 1000 Stunden Musik eingespielt. Der Dirigent als Musikunternehmer, das war schon etwas Neues, oder?

    Stern: Ursprünglich wollte er eigentlich gar nicht so sehr mit Schallplatten, aber dann ist er so eingestiegen. Er hatte natürlich einen guten Freund gehabt. Das war Herr Morita bei Sony in Japan. Der hat ihm dann die neuesten Entdeckungen, die neuesten Errungenschaften, gezeigt, und da wir jedes zweite Jahr nach Japan gefahren sind, konnte er ihm auch immer etwas Neues zeigen. Er war begeistert und am nächsten Probetag hat er dann sofort begeistert gesagt, ihr könnt euch gar nicht vorstellen, was die hier machen. Dann hat er uns Beispiele gegeben, und wir haben auch die erste Filmaufnahme in Japan gemacht, die sofort am Abend gezeigt wurde, und zwar wie wir ins Hotel zurückkamen sehen wir uns selber spielen.

    Heinemann: Herr Stern, als Beginn einer Entfremdung zwischen Karajan und dem Orchester gilt die Einstellung der Klarinettistin Sabine Meyer Anfang der 80er Jahre. Karajan wollte sie, das Orchester wollte sie nicht. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

    Stern: Erstens: Wir haben Sabine Meyer selber gebracht. Dann hat Sabine Meyer ihre Probezeit mit uns gemacht, und dann kam die Zwei-Drittel-Abstimmung. Wenn man die Probezeit besteht, dann wird man ständiges Mitglied des Orchesters. So einfach war das. Das haben wir seit 100 Jahren so gehalten. Sie hat nicht die Zwei-Drittel-Mehrheit bekommen. Ich selber habe noch für sie gestimmt, aber die Klarinettengruppe, die ja zu sagen hat und die zu empfehlen hat für die Gesamtversammlung, hat gesagt, nein, sie ist eine gute Klarinettistin, aber sie passt in ihrem Ton nicht zu uns. Ich habe das - ehrlich gesagt - so nicht empfunden, aber wenn die es gesagt haben, wird es schon stimmen.

    Heinemann: Und Karajan wollte sie dennoch?

    Stern: Ja. Das war ein Vorwand. Er wollte sie oder wollte sie nicht. Das hat überhaupt damit gar nichts zu tun. Erstens hatte er gar nicht zu wollen, sondern er hatte sich zu beugen dem Beschluss des Orchesters. Das Orchester hat eine ziemlich weitgehende Selbstbestimmung und ist damit nach 125 Jahren gar nicht so schlecht gefahren.

    Heinemann: Sie sagten eben, Karajan habe das als Vorwand benutzt. Vorwand wozu?

    Stern: Vorwand dazu, das Orchester zu strafen. Er war in der Zwischenzeit alt geworden. Er war krank geworden. Vor allem hatte er um sich herum ein paar Ja-Sager. Ich habe sie Jagos genannt. Ich habe mal gesagt, der Herr von Karajan ist der Othello und unser damaliger Intendant Herr Dr. Gierth ist der Jago. Aber wir werden nicht die Desdemona sein. Das werden alle die verstehen, die mal in die Oper gehen.

    Heinemann: Und das Orchester litt auch nicht unter Hamletscher Handlungsschwäche?

    Stern: Nein, überhaupt nicht. Im Gegenteil! Aber wir waren auch sehr traurig, dass es so gekommen ist, dass er auf diese Stimmen gehört hatte, die ihm ins Ohr geflüstert hatten, das Orchester ist gegen sie - vor allem das Orchester, das kann man sowieso nicht sagen. Das Orchester besteht jetzt aus 119 künstlerischen Individualitäten. Wenn sie das nicht wären, kämen sie gar nicht ins Orchester rein.

    Heinemann: Herr Stern, ist Ihnen eine Begebenheit, ein Erlebnis, eine Anekdote mit Karajan besonders in Erinnerung geblieben?

    Stern: Ich weiß nicht ob es eine Anekdote ist, aber wir haben uns mal unterhalten über das Leben danach. Ich fragte ihn, ob er daran glaubt, dass er wieder aufstehen wird. Da sagte er: "Aber ganz sicher glaube ich daran. Ein Geist wie meiner, der kann doch nicht untergehen!"

    Heinemann: Herbert von Karajans 100. Geburtstag war Anlass für dieses Gespräch mit dem Geiger Hellmut Stern. Er war über drei Jahrzehnte lang führendes Mitglied des Berliner Philharmonischen Orchesters.