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Keine Rangliste der Kernkraftwerke

Kernenergie. - Die Ergebnisse des Stresstests für europäische Kernkraftwerke liegen vor. Was die Unterlagen genau sagen und wo sie Lücken lassen, erklärt der Wissenschaftsjournalist Sönke Gäthke im Gespräch mit Arndt Reuning.

Sönke Gäthke im Gespräch mit Arndt Reuning | 04.10.2012
    Reuning: Herr Gäthke, mit den Ergebnissen des Stresstests liegt da jetzt eine Art Liste vor, eine Rangfolge vom sichersten Atomkraftwerke bis zum sichersten in Europa?

    Gäthke: Das kann man so nicht sagen. Zu so einer Aussage ließ sich auch der EU-Kommissar Günther Oettinger gar nicht erst hinreißen. Was es jetzt gibt, ist eine Tabelle mit den Atomkraftwerken Europas, schön aufgelistet nach Ländern und aufgegliedert nach den elf Punkten, nach denen die Kommission gefragt hatte. Und wenn die Gruppe von Experten der peer group, wie wir gehört haben, eine Nachrüstung oder eine Verbesserung für angebracht hielt, dann hat sie in diese Tabelle ein X gesetzt und eine Referenz, unter der diese Details in einem Schriftstück aufgelistet sind.

    Reuning: Das heißt, man könnte in dieser Liste diese Markierungen, diese X-Markierungen zählen und käme dann aber zu einer Rangfolge?

    Gäthke: Es ist aber immer noch keine richtige Rangfolge. Denn alles, was geprüft wurde, waren nur ganz bestimmte Aktionen. Es wurde gar nicht die gesamte Sicherheitseinrichtungen der Kraftwerke vollständig geprüft. Gefragt wurde nur nach der Auslegung der Baustruktur, nach Ersatznotstromaggregaten an sicheren Orten, Unfallmanagementrichtlinien, Containmentfiltern, Explosionsschutz oder Ersatzsteuerständen. Und das alles nach den vor Ort gültigen Normen. Das sind natürlich alles wichtige Fragen, gar keine Frage. Aber sie betreffen alle den Moment, in dem schon ein Unfall, ein Desaster eingetreten ist. Das geht also alles der Frage nach: Was passiert, wenn das Unglück da ist? Und das gilt auch nur für den Fall eines Erdbebens oder einer Flutkatastrophe. Das ist aber noch nicht die Sicherheit einer Atomanlage.

    Reuning: Das heißt, man hat bestimmte Aspekte sich angeschaut. Was hat man denn dann weggelassen?

    Gäthke: Man hat eigentlich sich… Andersrum gesagt: Atomkraftwerke haben eigentlich vier Sicherheitsebenen. Und von diesen vier Sicherheitsebenen hat man sich nur eine einzige angeguckt, nämlich die vierte. Da müsste ich vielleicht ein bisschen zu ausholen: Normalerweise ist es so, dass die erste Sicherheitslinie, oder die erste Verteidigungslinie die Qualität der Anlage ist. Das heißt, Druckbehälter, Rohre, Turbine, Generator, alles das muss makellos und perfekt sein, damit ein Atomkraftwerk gar nicht erst einen Unfall bekommen. Passiert trotzdem mal etwas, was den Reaktor aus dem normalen Lauf herausbringen könnte - das können Druckstöße sein, das können Temperaturänderungen sein, mit denen man nicht gerechnet hat - dann kommt eine zweite Sicherheitsebene. Das sind Regelanlagen, Begrenzeranlagen, die sollen dazu dienen, dass der Reaktor wieder in seinen normalen Betriebszustand zurückfindet. Klappt das auch nicht - es könnte ja mal sein, dass ein Rohr bricht, ein Kühlwasserrohr bricht, dann läuft Kühlmittel aus - dann hilft nur noch die dritte Ebene. Das sind Noteinrichtungen. Dann schaltet man den Reaktor ab, dann schaltet man Notstromaggregate an, Notkühlanlagen an, um die Anlage dann wieder in Betrieb zu bekommen. Das sind die ersten drei Ebenen, die haben eigentlich bis Harrisburg ausgereicht. Danach haben die Ingenieure angefangen nachzudenken und eine vierte Ebene eingeführt, und diese vierte Ebene tritt dann in Kraft, wenn die ersten drei nicht mehr funktionieren. Und das soll sein, die Radioaktivität in irgendeiner Form am Austritt zu hindern. Und nur diese vierte Ebene, das ist diejenige, die man sich angeguckt hat. Das ist, wenn ich das beim Auto mal übertragen darf, das ist so, als würde man die Sicherheit eines Autos untersuchen, indem man sich nicht Fahrerassistenzsysteme ansieht, ABS oder ESP, sondern nur: Hat das Auto eigentlich Sicherheitsgurt oder Airbags.

    Reuning: Was kann man denn mit den Ergebnissen dieses Tests eigentlich nun anfangen?

    Gäthke: Man kann zumindest nicht sagen, welches Atomkraftwerkes sicherer ist, weil es natürlich viel mehr mögliche Fehler gibt, die zu Unfällen führen können als Erdbeben oder Flutwellen. Aber man kann sagen, was die peer group von der vierten Verteidigungslinie europäischer Atomkraftwerke hält, nach Aktenlage, und wie sie die Ausstattung verbessern würde. Und man kann festhalten, dass die Experten in Europa ziemlich unzufrieden sind mit den national ziemlich unterschiedlichen Normen, die einen direkten Vergleich der Atomkraftwerke in Europa eigentlich ziemlich unmöglich machen.

    Reuning: Warum kann man das nicht sagen? Hat man sich nicht die Anlagen vor Ort auch angeschaut?

    Gäthke: Nein, das war zu Beginn des Stresstests gar nicht erst vorgesehen. Tatsächlich ist es dann so gekommen. Die Expertengruppen der EU haben offenbar 24 Atomkraftwerke besucht im vergangenen halben Jahr, was eine außerordentlich, eine außerordentliche Leistung ist. Denn jeder Besuch muss erst einmal angemeldet werden, das dauert Zeit. Es dauert eine ganze Zeit lang, sich das Atomkraftwerk anzugucken, ein oder zwei Tage mindestens. Und selbst das ist eigentlich nicht genug. Eine normale Inspektion dauert Wochen von so einem Atomkraftwerk. Dass aber selbst diese Kurzbesuche sinnvoll waren, das hat zum Beispiel der Besuch der französischen Aufsichtsbehörde ASN im Kraftwerk Cattenom gezeigt. Der hat nicht lange gedauert und trotzdem fanden die Inspektoren viele kleine Schäden, das waren verrostete Schrauben, fehlende Brandmelder, das waren gefährlich verlegte Stromkabel, sich zersetzende Fundamente für Pumpen. Alles Dinge, die in den Akten so nicht auftauchen, die aber die Sicherheit eines Atomkraftwerks beeinflussen.

    Reuning: Das heißt, man sollte eigentlich Nachbesserungen vornehmen, oder?

    Gäthke: Die sollte man vornehmen, und die EU hat ja eine Reihe von Nachbesserungen vorgeschlagen, die sich aber alle auf die Auslegung der Atomkraftwerke beziehen. Sie geht nicht hin und schlägt jetzt vor, noch einmal alle Kraftwerke einen grundsätzlichen Sicherheitstests unterziehen.

    Reuning: Ist das denn in anderen Ländern anders?

    Gäthke: Ja und Nein. Also es ist zumindest in den europäischen Ländern jetzt nicht so, dass es besonders detaillierte Verbesserungsvorschläge gäbe, in Deutschland kaum. Andere Länder, Belgien oder die Tschechoslowakei [Gesprächspartner meint Tschechien, die Redaktion] sind sehr konkrete Vorschläge gemacht worden, was man verbessern könnte. Bis hin zu einzelnen Stromkabeln oder Batterien, die man nachrüsten sollte.


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