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Keine Zeit haben ist sexy

Heute Nacht wird die Uhr zurückgestellt auf die Winterzeit. Eine geschenkte Stunde, sagen viele und überlegen schon, was sie mit dieser Zeit alles machen können. Von wegen geschenkt, höchstens geliehen, urteilt dagegen Jutta Koster, hat aber eh keine Zeit, weiter darüber nachzudenken.

Von Jutta Koster |
    Geschenkte Stunde, wenn ich das schon höre. Es ist doch gar nicht wahr. Die Stunde ist nur geliehen, bei der Zeitumstellung im nächsten Jahr ist sie wieder weg. Und überhaupt Zeitumstellung, da habe ich überhaupt keine Zeit, darüber nachzudenken.

    "Die moderne Gesellschaft ist die erste, die gar nicht anders kann als sich ständig zu verändern. Wir können gar nicht bestehen ohne Veränderung, ohne Beschleunigung ohne Entwicklung."

    Wahrscheinlich redet der gute Mann so schnell, weil er weiß, dass ich ihm nicht richtig zuhöre, vor lauter Multitasking. Der peilt eben, was los ist in meinem Büro:

    "Ein Blick auf den Computerbildschirm nach der Mittagspause verrät: 10 neue E-Mails sind eingetroffen, 8 Voicemails, 5 Faxe. Viele mit einem Dringlichkeitsvermerk. Gleichzeitig piepst das Handy, ein Kollege kommt zum Gespräch, und über den Bildschirm im Büro flimmern die neusten Informationen."

    Ich mach unzählige Überstunden – sogar im Urlaub. Wir alles sind eben drin im internationalen Wettbewerb und den steuern Computer in Bruchteilen von Sekunden. Mein Chef hat also völlig recht, wenn er sagt: Es gibt viel zu tun, fangt schon mal an. Und ich arbeite gern:
    "Es ist so ein Statussymbol geworden, viel zu tun zu haben, immer beschäftigt zu sein. Weil wir in einer Gesellschaft leben, die der Arbeit einen unheimlich hohen Wert beimisst."

    Eben, keine Zeit haben ist sexy. Deswegen zeige ich das auch bei jeder Gelegenheit: Ich gehe sofort in die Luft, wenn die Kassiererin an der Kasse zu langsam ist. Und wehe, mein ICE hat drei Minuten Verspätung: Schließlich bin ich eine Karrierefrau und schnell unterwegs. Über 100 mal schneller als meine Urgroßeltern. Die wurden ja, auf dem Weg zum Geschäftsessen von jeder Schnecke überholt.

    "Wenig, glaub mir, ist bedrückender, als schnurstracks das Ziel zu erreichen. Wir haben ja Zeit. Die haben wir, ziemlich viel Zeit." (Aus dem Tagebuch einer Schnecke)

    Dieses Tagebuch müsste wirklich mal umgeschrieben werden. Verflixt, schon wieder eine Mail. Schnell antworten. Ich bin schließlich kein Loser. Das sind:

    "Leute mit sehr sehr guter Ausbildung,die nicht mitspielen wollen, Leute, die ihr ganzes Leben entschleunigt verbringen wollen und dann zu dieser neuen Unterschicht gehören werden."

    Trotzdem wollen ja immer mehr aussteigen, wollen mehr Zeit für sich. Warum das denn?

    "Ich komme nicht zu dem, was mir wichtig wäre."

    Und was ist das?

    "Freunde treffen, feiern gehen, Sport machen."

    Und wenn sie dann völlig abgehetzt auf die Party kommen, dann reden sie stundenlang über ihr missglücktes Zeitmanagement. So ein Quatsch: Zeit ist Geld. Wer viel Zeit hat, muss auch auf Vieles verzichten. Verzicht, das klingt nach Askese. Ich bin schließlich kein Mönch. Da wir gerade schon bei der Bibel sind. Nicht die Letzten werden die Ersten sein, sondern die mit dem schnellen Auto. Und so ein Porsche, der wird mir genauso wenig geschenkt wie die Stunde heute Nacht. Oh nee, schon wieder das Handy, jetzt ist aber Schluss!