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Kinder- und Jugendliteratur
Leben ohne Eltern

Die Hauptfiguren in Kinder- und Jugendbüchern sind oftmals von vornherein auf sich gestellt oder sie verbringen ihre Tage an einem fernen Ort. Auch in den sogenannten Internatsromanen sind Eltern nicht anwesend. Das kann ein Freiraum sein, aber auch ein Problem, das in vielen Romanen thematisiert wird, etwa bei Harry Potter oder Pippi Langstrumpf.

Von Karin Hahn | 18.02.2017
    Pippi Langstrumpf eingehüllt in einen blauen Schal.
    Frech, frei und unabhängig: Pippi Langstrumpf ist eine der weltweit bekanntesten Kinderbuchfiguren (imago)
    Ob Oliver Twist, Heidi, Jim Knopf, Harry Potter, die rote Zora, Mowgli, Krabat, Momo, Pippi Langstrumpf, Ira, Flo, Krempe, Julian oder Holly – alle haben eins gemeinsam: Sie verbringen ihr Leben ohne Eltern. Beschäftigt man sich mit der Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur, so begegnet man vom Grimmschen Märchen über die klassischen Comichelden wie Spiderman bis hin zur aktuellen realistischen Literatur jungen Protagonisten, die sich ohne elterlichen Schutz mal mit, mal ohne Bezugspersonen durch den Alltag schlagen. Väter und Mütter verschwinden oder sterben nicht im Lauf der Handlung, sie sind einfach nicht existent.
    "Aber ich glaube, dass es das so häufig gibt, liegt einfach daran, dass die Herausforderungen, die da sind, ohne Eltern sich zu bewähren, ungleich größer sind. Und in Geschichten sucht man ja immer extreme Situationen, um anhand von extremen Situationen etwas zu erzählen, was man dann für seinen Alltag herunterbrechen kann oder auch nutzen kann und daran wachsen kann, ja, sich daran aufrichten kann."
    Meint die Kinderbuchautorin Nina Weger.
    Buchausschnitt "Pippi Langstrumpf": "Sie hatte keine Mutter und keinen Vater, und eigentlich war das sehr schön, denn so war niemand da, der ihr sagen konnte, dass sie zu Bett gehen sollte, gerade wenn sie mitten im schönsten Spiel war."
    Hätte Pippi Langstrumpf mit Vater und Mutter ihr autonomes Leben mit eigenem Häuschen, Meerkatze und Pferd führen können? Sicher nicht.
    Nina Weger: "Ich betreue mehrere syrische Kinder und Familien und da erzählten mir die Mädchen, sie haben jetzt ein Buch in der Schule gekriegt, da ist ein Mädchen, das wohnt ganz allein in einem Haus und hat große Schuhe und niemand passt auf sie auf. Und dann sagte ich halt, ja Pippi Langstrumpf. Und dann sagten sie: Was, die kennst du auch? Und dann sagte ich, ja, jeder kennt Pippi Langstrumpf. Und dann habe ich gedacht ja, wie toll, dass diese Figur an Aktualität nichts verloren hat. Also, wenn sie ganz neu auf Kinder trifft und die gleiche Faszination ausübt, wie auf mich damals, jemand, der ganz allein über sein Leben bestimmt. Das fand ich ganz spannend."
    Superstarke Pippi ist bis heute aktuell
    Alles was sich Kinder in ihrer Fantasie erträumen, finden sie in den Geschichten um die superstarke Pippi: Autonomie, Selbstständigkeit und vor allem Spaß an Verrücktem. Im Vordergrund steht bei Astrid Lindgren aber nicht, wie ein Kind sich in die Gesellschaft einfügt, sondern wie es sich selbst treu bleibt und den Erwachsenen Paroli bietet. Die Geschichte über Pippi Langstrumpf hat allerdings auch einen ernsthaften Hintergrund. Es ist das Werk einer überforderten Mutter mit schlechtem Gewissen. Die sehr junge Astrid Lindgren musste ihren Sohn nach der Geburt in eine Pflegefamilie geben. In ihrer fröhlichen Geschichte entwarf sie 1944 nun das Szenario eines verlassenen Kindes, das auch ohne fürsorgliche Eltern glücklich sein kann. Dabei käme Pippi nie auf die Idee, dass ihre Eltern, die Mutter ist tot, der Vater weit fort, sie nie geliebt hätten.
    Andere literarische Figuren, die sich als Außenseiter empfinden, haben da schon Zweifel, sie fühlen sich einsam, ängstlich und ungeliebt. Junge Leser durchleben in den Geschichten über elternlose Kinder ambivalente Gefühle. Zum einen spüren sie die eigenen inneren Ängste und Befürchtungen, ihre Eltern zu verlieren, andererseits jedoch wollen sie sich abgrenzen. Und so werden Waisen- oder Pflegekinder oft zum Objekt der Empathie, dienen aber auch als Projektionsfiguren.
    Buchausschnitt "Die rote Zora": "Ich las hauptsächlich in den alten Chroniken, und am liebsten das, was von den Uskoken darin stand. Aber als ich das alles gelesen hatte, wurde mir das Leben im grauen Haus immer langweiliger, und ich ging auf und davon."
    Mit Regeln oder Vorschriften hält sich das widerspenstige Waisenmädchen Zora nicht lang auf. Sie gründet ihre eigene Bande, die Uskoken, eine Notgemeinschaft von Jungen, die ebenfalls Waisen sind, obdachlos oder von den Eltern verstoßen. Abseits der Gesellschaft nehmen sich die Kinder alle Freiheiten und übertreten moralische Grenzen, aber sie lehnen sich auch gegen sozial ungerechte Verhältnisse auf. Kurt Held erzählt in "Die rote Zora und ihre Bande", geschrieben 1941, eine durchaus lebensnahe Geschichte mit einer durchsetzungsstarken Heldin. Die modernen Klassiker wie "Die rote Zora", "Pippi Langstrumpf", aber auch "Heidi" von Johanna Spyri und später dann "Jim Knopf " oder "Momo" von Michael Ende zeichnen ein ideales Bild von einem starken und unabhängigen Kind, das fern realer Verpflichtungen lebt. Ganz anders jedoch sieht es bei Charles Dickens und seinem "Oliver Twist" im 19. Jahrhundert aus.
    Buchausschnitt "Oliver Twist": "Man sagte Oliver, wenn er nicht gutwillig ginge oder sich im Armenhaus je wieder blicken ließe, würde man ihn nach entsprechender Züchtigung zur See schicken, wo er unfehlbar ertrinken müsse."
    Der Willkür der Erwachsenen ausgesetzt
    Immer hungrig, einsam und der brutalen Willkür der Erwachsenen ausgeliefert, lebt Oliver als Waise in England. Charles Dickens entwirft, auch nach eigenen Erfahrungen als Kind, ein atmosphärisch dichtes Gesellschaftspanorama. Oliver wird an einen Leichenbestatter verkauft, er flieht und gerät in die Hände von Dieben. Die Gegenfigur zum skrupellosen Bandenchef Fagin ist der belesene Mr. Brownlow. Beutet Fagin die Kinder aus, um seinen eigenen Reichtum zu mehren, setzt Brownlow auf die individuellen Stärken der Kinder und Bildung.
    Ein schwarz-weiß Porträt des Schriftstellers Charles Dickens (1812-1870).
    Der Schriftsteller Charles Dickens (AFP / INP)
    Wird Oliver Twist öffentlich für seine vermeintlichen Verfehlungen gezüchtigt, so erfolgen Bestrafungen von Waisenkindern heute eher hinter verschlossenen Türen. In Robin Roes neuem Jugendbuch "Der Koffer" wohnt der 14-jährige Julian nach dem Tod der Eltern im großen Haus seines Onkels Russell, der ihn demütigt und mit der Rute schlägt. Von den Mitschülern gemobbt, Julian trägt viel zu enge Sachen und hat weder ein Handy noch einen Computer, und ohne Selbstwertgefühl quält sich der Jugendliche durch den Alltag bis Adam, er ist vier Jahre älter, sich seiner annimmt und nach und nach herausfindet, warum Julian so verunsichert ist.
    Buchausschnitt "Der Koffer": "Ich hasse mich selbst dafür, dass ich immer wieder alles falsch mache. Ich hasse das Gefühl, wenn Russell wütend auf mich ist. Und ich hasse die Spuren seiner Wut auf meinem Körper."
    Trotz psychologischer Betreuung kann niemand, weder die Lehrer noch die Psychologin, zu dem traumatisierten Julian vordringen. Seinem sadistischen Onkel schutzlos ausgeliefert, eskaliert die Handlung und liest sich zum Ende hin wie ein spannender Thriller. Durch die Erzählperspektiven der beiden Jungen, die die amerikanische Autorin wählt, kann der Leser in ihre Innenwelten blicken und verstehen, wie fatal abhängig und ausgeliefert Waisen von den Personen sind, die sie eigentlich schützen sollen. Auch im neuen Roman "Vorhang auf für Johanna!" von Annika Thor kehren einige Motive aus "Oliver Twist" wieder. Allerdings verbindet sie ihre Handlung mit dem Theatermilieu im Jahr 1835. Erzählt wird aus der Sicht des Findelkindes Johann.
    Buchausschnitt "Vorhang auf für Johanna!": "War es vielleicht für Mädchen einfacher, unentdeckt zu bleiben? Waren Jungen aus dem Waisenhaus leichter zu erkennen, und das nicht nur wegen der geschorenen Haare? Es dauerte ein paar Tage, bis ich alles geplant hatte. So vieles musste bedacht werden. Die Kleider. Die Haare. Genügend Proviant für die ersten Tage, damit ich nicht betteln musste und dadurch Aufmerksamkeit auf mich lenkte."
    Flucht aus dem Waisenhaus
    Der Elfjährige entflieht als Mädchen dem Hunger und der harten Arbeit in der Spinnerei des Waisenhauses und kann unter die Flügel der engelgleichen Schauspielerin Anna-Maria schlüpfen. Nicht ohne Angst vor Entdeckung, lernt Johann, der sich jetzt Johanna nennt, das faszinierende Leben in einer Theatertruppe kennen. Und Johanns Weg kreuzt der respektlose wie pragmatische Waisenjunge Gustav, der unter einem Boot am Fluss wohnt. Annika Thor verwebt ihre Geschichte über die elternlosen Kinder Johanna und Gustav, die eigentlich Johann und Stava heißen, mit Shakespeares Theaterstück "Wie es euch gefällt". Zu gern würde Anna-Maria diese Komödie spielen, aber ihr Vater liebt die historischen Dramen.
    Johann und Stava, die ihrem gewalttätigen Stiefvater entflohen ist, begeben sich wie Oliver Twist auf die Suche nach einem besseren Leben und versuchen sich selbst, durch den Geschlechtertausch und ihre neuen Rollen als Mädchen und Junge zu schützen. Die schwedische Autorin nimmt auch in ihrem Buch, wie Charles Dickens in "Oliver Twist", das Motiv der verborgenen hohen Herkunft auf. Wobei Johann vor dem märchenhaften und glücklichen Ende gerade noch so einem Mordanschlag entgehen kann. Ziemlich unglaubwürdig in diesem Roman jedoch ist, dass die Leute vom Fach das Theaterspiel der Kinder nicht durchschauen, zu konstruiert erscheint ebenfalls der Verlauf der voraussehbaren Handlung unweit vom Waisenhaus. Der Bezug zu Shakespeares Theaterstück wirkt künstlich und aufgesetzt. Lebensnaher und fern jeglicher Harmoniesucht ist da immer noch Mark Twains Roman "Tom Sawyers Abenteuer", trotz seines fernen Settings am Mississippi.
    Buchausschnitt "Tom Sawyers Abenteuer": "Tom lief um den Häuserblock und gelangte auf einen schmutzigen Weg, der hinter dem Kuhstall seiner Tante vorbeiführte. Nun war er außer Gefahr, eingefangen und bestraft zu werden. Und er begab sich zum Marktplatz der kleinen Stadt, wo sich einer Verabredung gemäß zwei "militärische Formationen" der Jungen getroffen hatten, um sich eine Schlacht zu liefern."
    Das zeitgenössische Porträt zeigt den amerikanischen Schriftsteller Mark Twain (1835-1910). 
    Das zeitgenössische Porträt zeigt den amerikanischen Schriftsteller Mark Twain (1835-1910). (picture alliance / dpa / Bifab)
    Die Figur des Tom Sawyer steht exemplarisch für ein freies, ungebundenes Leben. Mit seinem besten Freund Huck geht Tom keinem noch so dramatischen Abenteuer aus dem Weg. Aber die Jungen sind nicht gewissenlos, ganz im Gegenteil. Ihre Wahrheitsliebe und ihr Hang zum Risiko machen die beiden Hauptfiguren so sympathisch. Mark Twain lässt Tom Sawyer aber nicht nur Streiche spielen, sondern schaut ihm auch in die Seele. Als Kind ohne Eltern denkt Tom darüber nach, ob er überhaupt je geliebt wurde und inszeniert sogar, eine durchaus kindliche Fantasievorstellung, seinen eigenen Tod und die glückliche Auferstehung.
    Als Mara Schindler ihren Kinderroman "Krempe, Kottek und das Ding mit Misses Schulz" schrieb, hat sie unwillkürlich an die Bücher von Mark Twain gedacht.
    "Ich denke, dass Krempe auch so wild aufwachsen kann, wie das auch Tom Sawyer tat oder Huck Finn, weil der Altersunterschied zum Opa so immens groß ist. Dieses Freie, was auch Kottek verkörpert, das habe ich zumindest bei Mark Twain da wiedergefunden. Das Buch hatte ich im Sommer erst gelesen, wie die es sich gut gehen lassen und ihre eigenen Regeln aufstellen, da hat mich schon einiges daran erinnert."
    Nicht nur Eltern als Bezugspunkte
    Die zehnjährige Krempe, eigentlich Karoline, wohnt bei ihrem Opa Kottek in einem idyllisch stillgelegten alten Bahnhof. Ihre Eltern sind bei einem Wohnungsbrand ums Leben gekommen, da war das Kind gerade mal ein Jahr alt. Kottek legt nicht viel Wert auf Sauberkeit, sondern philosophiert lieber mit seine Enkelin über das Leben und ob die Flussforellen beißen. Krempe spielt auch nicht Mau Mau, sondern pokert, was das Zeug hält.
    Buchausschnitt "Krempe, Kottek und das Ding mit Misses Schulz": Krempe hält inne und lauscht. Was da so knurrt, ist ihr Magen, und der verlangt nach etwas Deftigem, das hört sie sofort. Vielleicht, weil heute Montag ist, denkt Krempe. Sie holt die Packung mit den Eiern aus dem Regal und macht sich daran, Spiegeleier zu braten. Und wenn Krempe Spiegeleier brät, hält man besser Abstand, denn sie geizt nicht mit der Butter, und sie spart nicht mit der Hitze."
    Mara Schindler: "Um Krempe zu verstehen, muss man Kottek kennenlernen. Das ist ihr Opa. Krempe ist ganz die Enkelin ihres Opas und da liegen auch die Probleme, die auftreten. Man könnte ihn sich als Cowboy vorstellen, der nichts und niemanden braucht, außer sich selbst. Und er hat ganz schwere Dinge schon erlebt in seinem Leben, Dinge, an denen die meisten wahrscheinlich zerbrechen, nicht aber Kottek. Er sagt, ich will trotzdem weitermachen, das Leben ist trotzdem schön. Das versucht er alles, Krempe mitzugeben. Krempe ist damit aber auch überfordert, denn sie ist eigentlich erst zehn Jahre alt, ist ein sensibles Mädchen. Nicht umsonst versteckt sie sich hinter ihrer großen Bahnwärtermütze. Ich denke, da wird auch deutlich, was Eltern leisten und was Kottek, weil er schon alt ist, nicht mehr ganz leisten kann. Und wo Krempe hinterherhinkt und was dann auch für sie zum Problem wird im Laufe der Geschichte."
    Als die nervige Misses Schulz vom Jugendamt, die Meerhexe, wie Krempe sie nennt, vor der Tür steht, spürt das Mädchen zum ersten Mal wirklich Angst und nicht nur sie. Alle Nachbarn, Jakob, der Jäger, Bauer Lothar oder Polizistin Lydia, bemerken, dass Kottek, der immer gesund war, nach und nach sein Gedächtnis verliert und sich zeitweise in gefährliche Situationen manövriert. Als Kottek jedoch stirbt, muss eine Entscheidung getroffen werden. Mara Schindler erzählt diese feinsinnige Geschichte vom Waisenkind Krempe, von Opa Kottek und den Freunden im Dorf mit einer poetischen Leichtigkeit und großem Idealismus. Sie spricht den Leser direkt an, zieht ihn mitten hinein ins Geschehen und stellt sich die Frage:
    Mara Schindler: "Wie wichtig sind Eltern? Und können vielleicht Personen für Kinder, die nicht unmittelbar aus ihrem Verwandtschaftsverhältnis stammen, können die nicht ebenso wichtig sein? Und darum auch bei mir auch diese Dorfgemeinschaft, die Freunde, die eigentlich eine Ersatzfamilie sind und Krempe ein derartiges Netz versuchen, zu vermitteln, wie es sonst die Eltern tun. Und das hat Kottek auch in seiner Weisheit schon immer gesehen, wer von den ganzen Bewohnern der richtige Bezugspartner wäre für Krempe, nämlich Jakob in erster Linie."
    Bei Mara Schindler ist Verlass auf die Erwachsenen. Bei Sally Nicholls jedoch versagen sie. Die britische Autorin wählt für ihren Roman "Eine Insel für uns allein" die Ich-Perspektive, um eine unmittelbare Nähe zwischen den Lesern und ihrer Hauptfigur Holly herzustellen.
    Buchausschnitt "Eine Insel für uns allein": "Wenn mich Leute fragen: Dann kümmert sich also euer Bruder um euch beide?, antworte ich normalerweise: Na, ja, er kümmert sich um mich, und ich kümmere mich um Davy. Auch wenn ich selbst fast noch ein Kind bin, habe ich genauso gut Elternaufgaben wie Jonathan."
    Hollys Eltern sind gestorben und ihr Bruder, der erwachsene Jonathan, hat sein Studium aufgegeben, um die Kinder zu ernähren. Die drei wohnen ziemlich ärmlich über einer Frittenbude in London. Auch wenn Holly naiv und unverblümt die Sozialarbeiter auf den finanziellen Notstand der Kleinfamilie hinweist, ändert sich nicht viel. Als dann aber ihre wohlhabende Tante Irene stirbt, stellt sich heraus, dass die Geschwister ihren Schmuck erben sollen. Doch niemand, nicht mal der unausstehliche, geizige Onkel Evan ahnt, wo seine Frau in ihrer paranoiden Umnachtung Geld, Papiere und besagten Schmuck deponiert hat. Und so beginnt eine ungewöhnliche Schatzsuche, in der die tatkräftige und selbstbewusste Holly gegen alle Widerstände, besonders den der Erwachsenen, mit allen Mitteln an ihr Ziel gelangen will.
    Freiräume durch die Abwesenheit der Eltern
    Ohne Sentimentalität, mit trockenem Humor und viel Empathie erzählt Sally Nicholls diese wirklichkeitsnahe Geschichte, deren große Stärke der feste Zusammenhalt der Geschwister ist. Alles bewältigen sie gemeinsam, sogar den Kauf von Hollys erstem BH.
    Versuchen viele Autoren gerade die Abwesenheit der Eltern gegen die Freiräume, die sich für Kinder nun öffnen, aufzuwerten, so zeigt die britische Autorin S. E. Durrant in ihrem Roman "Der Himmel über Appleton House", wie tief die Verletzungen und emotionalen Defizite gerade bei Pflegekindern sind. Die Geschwister Ira und Zac wissen, dass ihre Mutter irgendwo lebt, sich aber nicht um sie kümmern kann oder will.
    Buchausschnitt "Der Himmel über Appleton House": "Normalerweise zeige ich meine Gefühle nicht, schließlich bin ich ja die Ältere. Zac stand mit diesem schrecklich traurigen Gesichtsausdruck im Flur, den er immer hat, wenn der Kummer ihn so fest umschließt, dass es aussieht, als würde er gleich ersticken. Dann dauert es immer ewig, ihn wieder daraus zu befreien."
    Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
    J.K. Rowling hat auch die Harry Potter Bücher geschrieben (Bild: picture alliance / dpa) (Wall to Wall Media Ltd)
    Aus Iras Perspektive begleitet der Leser die beiden Kinder ins heruntergekommene Kinderheim Skilly House in London. Trotz freundlicher Erzieher spüren die neunjährige Ira und ihr zwei Jahre jüngerer Bruder immer ein Gefühl der Scham und Minderwertigkeit. Viele Kinder verlassen Skilly House, doch Ira und Zac müssen bleiben, bis sie im Juni 1989 ihre ersten Sommerferien bei Martha Freeman verbringen dürfen. Die schüchterne Martha hat jahrelang mit Kindern gearbeitet, trotzdem ist sie irgendwie unsicher im Umgang mit Zac und Ira. Dabei mag Ira Appleton House, hier kann sie malen und sich zum ersten Mal wieder wohlfühlen. Nur Zac benimmt sich daneben, klettert auf allem herum und zerstört Marthas Schaukelstuhl. Ira, der jegliches Grundvertrauen fehlt, lebt nun in der Angst, dass Martha sie gleich wieder nach Hause schicken könnte. Dieses Gefühl der inneren Unsicherheit, nicht gewollt oder geliebt zu sein, kann Ira nicht ablegen, dabei lädt Martha die Kinder immer wieder zu sich ein. Sie versucht dem Mädchen die permanente Verantwortung für Zac abzunehmen und ihr klarzumachen, dass sie auch ein Recht auf Glück und Lebensfreude hat. Ganz nah am Gedankenstrom Iras versteht der Leser, was Kinder, die nie den Schutz von Eltern erfahren haben, mit sich selbst zum Teil schmerzvoll ausmachen müssen.
    Auch bei Harry Potter spielt Elternlosigkeit eine Rolle
    Auch J. K. Rowling nimmt dieses Thema in ihrem Welterfolg "Harry Potter" auf. Sie nutzt die Elternlosigkeit, um einen inneren Spannungsbogen aufzubauen, den äußeren nimmt die Magie ein. Und nur sie bewirkt, dass Harry in seinem schwersten Moment, dem Kampf gegen den Dunklen Lord, eine ihn stärkende Verbindung zu seinen Eltern aufnehmen kann.
    Buchausschnitt "Harry Potter und der Feuerkelch": "Er wusste es, denn der Mensch, der jetzt erschien, war der, an den er an diesem Abend öfter als an jeden anderen gedacht hatte. Der rauchige Schatten eines großen Mannes mit zerzaustem Haar viel zu Boden. Und Harry, dessen Arme jetzt zitterten, erwiderte den Blick und sah in das geisterhafte Gesicht seines Vaters. "Deine Mutter kommt", sagte er leise. "Sie will dich sehen. Es wird gut gehen. Halt durch."
    Auch in Nina Wegers neuem Kinderbuch "Club der Heldinnen" leben und lernen die Hauptfiguren fern von Zuhause, aber ohne Magie in einer traditionsreichen Schule. Im beliebten Genre des Internatsromans tauchen keine Eltern auf. Und die Kinder genießen ihre individuellen Freiheiten und oftmals das Glück der Freundschaft. Nina Wegers Hauptfiguren, die aus England, Paraguay und Nordamerika stammen, sind allerdings ausschließlich Mädchen mit besonderen Fähigkeiten.
    Nina Weger: "Die eine kann besonders gut Bogen schießen, die andere segelt fantastisch, die dritte ist eine super Reiterin. Sie haben aber auch alle besondere intellektuelle Fähigkeiten. Während Pina eine Naturbeobachterin ist, ist Flo eine Strategin, eine super Planerin und Blanca, ist, ja, ich würde sagen, die mutige Draufgängerin, die wenn Gefahr droht, blitzschnell reagiert. Und gemeinsam, na klar, man darf in dunkle Gewölbe steigen, man reitet nachts in den Wald, man muss in eine Höhle klettern, man muss tauchen. Es sind im Prinzip die klassischen Abenteuer, die wir uns alle wünschen. Wir kommen in Situationen, wo wir uns bewähren müssen, wo wir uns ausprobieren können und gefährlich Situationen bewältigen und gestärkt daraus hervorgehen."
    Buchausschnitt "Club der Heldinnen": "Was für ein Schatz?!" Blanca ballte die Fäuste. "Ich bin hier an dieser Schule, weil hier irgendwo unser Familienschatz liegt. Oder wenigstens der Schlüssel dazu. Wisst ihr eigentlich wie anstrengend es ist, die ganze Zeit das brave Mädchen zu spielen?! "Das interessiert mich jetzt überhaupt nicht", unterbrach Flo. "Ich will lieber wissen, warum meine kleine Schwester verschwunden ist und was du und dieser Schatz damit zu tun haben!"
    Die drei Mädchen müssen nun gemeinsam herausfinden, wo Charly, die Schwester von Flo, hin verschwunden ist und vor allem, was die Entführer eigentlich wollen. Natürlich wird kein Erwachsener zurate gezogen, denn dieses Abenteuer gehört den cleveren Mädchen ganz allein.
    Nina Weger: "In der Geschichte habe ich auch ehrlich gesagt die Erwachsenen, auch die Pädagogen, ziemlich weit rausgelassen. Ich finde es immer spannender, wenn Kinder untereinander agieren und sich auch allein den Problemen stellen und sie auch allein ohne Erwachsene bewältigen. Grundsätzlich finde ich, ist es für Kinder in unsere Welt ganz schwierig, sich noch frei zu bewegen und sich Räume zu erobern, ja zurückzuerobern, die nicht von Erwachsenen besetzt sind."
    Nina Wegers spannende wie temporeiche Geschichte ist eine unterhaltsame Mischung aus Internats-, Abenteuer- und Detektivroman. Sicher idealisiert die Autorin das eigenverantwortliche Leben im Internat und doch bleibt sie immer auf dem Boden der realen Tatsachen.
    Heute müssen sich Kinder in Geschichten nicht unbedingt vom familiären Kontext entfernen, um autonom handeln zu können. Allerdings hat jeder Autor einen größeren erzählerischen Spielraum, wenn seine Helden keine Eltern haben. Die Literatur bietet jungen Lesern dazu vielfältigste Angebote, wobei sie einerseits dem starken, eigenständigen Kind begegnen können oder dem Kind ohne Schutz und Rückhalt, das trotz Widrigkeiten seinen eigenen Weg findet.
    Buchinfos:

    Astrid Lindgren: "Pippi Langstrumpf"
    aus dem Schwedischen von Cäcilie Heinig,
    Oetinger Verlag, Hamburg 2007, 144 Seiten, 12,95 Euro,
    978-3-7891-4161-4

    Charles Dickens: "Oliver Twist"
    aus dem Englischen von Susi Haberl,
    Arena Verlag, Würzburg 2016, 237 Seiten, 8,99 Euro,
    978-3-401-06800-8

    Kurt Held: "Die rote Zora und ihre Bande"
    Fischer Schatzinsel, Frankfurt a. M. 1994, 552 Seiten, 14,90 Euro,
    978-3-596-80013-7

    Mara Schindler: "Krempe, Kottek und das Ding mit Misses Schulz"
    rowohlt rotfuchs, Reinbek bei Hamburg 2017, 189 Seiten, 12,99 Euro,
    978-3-499-21770-8

    Mark Twain: "Tom Sawyers Abenteuer"
    aus dem Amerikanischen von Lore Krüger,
    Diogenes Verlag, Zürich 2002, 327 Seiten,
    978-3-257-00891-0

    S. E. Durrant: "Der Himmel über Appleton House"
    aus dem Englischen von Katharina Diestelmeier,
    Königskinder im Carlsen Verlag, Hamburg 2017, 240 Seiten, 16,99 Euro,
    978-3-551-56030-8

    Nina Weger: "Club der Heldinnen"
    Oetinger Verlag, Hamburg 2017, 208 Seiten, 12,00 Euro,
    978-3-7891-0465-7

    J. K. Rowling: "Harry Potter und der Feuerkelch"
    aus dem Englischen von Klaus Fritz,
    Carlsen Verlag, Hamburg 2000, 767 Seiten, 24,99 Euro,
    978-3-551-55193-6

    Sally Nicholls: "Eine Insel für uns allein"
    aus dem Englischen von Beate Schäfer,
    dtv Reihe Hanser, München 2017, 216 Seiten, 12,95 Euro,
    978-3-423-64028-2

    Annika Thor: "Vorhang auf für Johanna!"
    aus dem Schwedischen von Birgitta Kicherer,
    Urachhaus Verlag, Stuttgart 2017, 240 Seiten, 14,99 Euro,
    978-3-8251-7971-7