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Kinderliteratur aus den Niederlanden und Flandern
Mut zur Anarchie

Sie sind warmherzig und frech, zeigen Mut zu Anarchie, Humor und Witz: Autorinnen aus Flandern und den Niederlanden schaffen es, in ihren Büchern eine Lebenswirklichkeit darzustellen, die Kinder und Erwachsene beglückt.

Von Siggi Seuss | 15.10.2016
    Judith Uyterlinde aus Amstardam liest am 15.10.2015 auf der Buchmesse in Frankfurt am Main (Hessen) am Stand von Flandern und den Niederlanden in einem Roman des niederländischen Schriftstellers Arnon Grünberg. Flandern und die Niederlande sind 2016 Ehrengast der Buchmesse.
    Der Stand von Flandern und den Niederlanden auf der Buchmesse Frankfurt 2015 (picture alliance / dpa Arne Dedert)
    LESUNG (aus "Das tolle ABC-Buch."):
    kommt dir plötzlich 'ne Idee
    mittags gegen drei beim Tee
    abends gegen sieben, acht
    wenn du gar nicht dran gedacht
    oder morgens gegen zehn
    wenn du sprudelst vor Ideen
    lass sie raus aus deinem Kopf
    pack sie immer gleich beim Schopf
    Joke van Leeuwen in "Das tolle ABC-Buch", übersetzt von Hanni Ehlers Wandert man durch die Geschichten von Kinderbuchautoren aus den Niederlanden und Flandern wird man auch in diesem Jahr das Gefühl nicht los: "Irgendetwas ist dort ein bisschen anders als in der Kinderliteratur anderer Länder." - Das ist so ein Gefühl, wie wir es seit Jahrzehnten gegenüber der Kinderliteratur aus Schweden pflegen. Wenn man den kleinen Helden in den Büchern begegnet, entsteht häufig das Bild eines eigensinnigen Kinderlebens, in dem die großen und kleinen Krisen ziemlich unorthodox, mit Courage und Pfiffigkeit und Augenzwinkern, angegangen werden.
    Deshalb begeben wir uns jetzt auf Spurensuche. Wie wird dieses Bild eines freien, eigensinnigen Kinderlebens – das einst von der hierzulande recht unbekannt gebliebenen niederländischen Kinderbuchautorin Annie M.G. Schmidt schon in den 1960er Jahren begründet wurde -, wie wird dieses Bild heute in den Niederlanden und in Flandern gepflegt? - Dazu besuchen wir die bekannteste Autorin und Illustratorin des niederländischen Sprachraums, die im flandrischen Antwerpen lebende Joke van Leeuwen, die seit über 40 Jahren Kinderbücher schreibt und illustriert. Wir sprechen mit der jungen Autorin Anna Woltz. Wir begegnen ihrer Übersetzerin Andrea Kluitmann in Amsterdam und besuchen die spätberufene Autorin Annet Huizing auf ihrem Hausboot in Utrecht.
    Kein nationales Phänomen
    Dass es nur einer Minderheit von Autorinnen und Autoren gelingt, ein literarisches Kinderbild zu formen, das frei - oder zumindest arm - an Klischees ist, ist kein nationales Phänomen. Erstaunlich aber ist, dass gerade aus den überschaubar großen Niederlanden und Flandern bei uns mehr literarische Figuren aus jener Spezies jugendlicher Persönlichkeiten auftauchen als aus anderen Ländern. Man denke nur an die Geschöpfe, zum Beispiel, von Joke van Leeuwen, Guus Kuijer, Bart Moeyaert, Annemarie van Haeringen, Toon Tellegen, Philip Hopman, Edward van der Vendel, Simon van der Geest, Anna Woltz oder Anke Kranendonk. - Nicht, dass es unkonventionell handelnde Kinderbuchgestalten bei uns nicht gäbe, aber in der Kinderliteratur unserer Nachbarn scheinen diese Charakterzüge literarischer Figuren mehr im realen Leben im Lande zu Hause zu sein als andernorts.
    "Ich denke, das Wichtigste ist, wie die Niederländer denken. Und wir schreiben wie wir denken und wie wir sein," meint die in Utrecht lebende 34jährige Anna Woltz, die in ihren jungen Jahren bereits achtzehn Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht hat, zuletzt bei uns "Ein Sommer mit Tess" und nun ganz neu "Gips oder Wie ich an einem einzigen Tag die Welt reparierte."
    "Für mich ist es kein Problem, um zu reden, was ich fühle. Oder die Liebe. Oder das ganze Leben."
    "Kinder, die genauso sind wie in diesen Büchern – das weiß ich jetzt nicht," meint die Übersetzerin Andrea Kluitmann zur Übereinstimmung von Realität und Fiktion."
    "Aber viele Kinderbuchkinder haben das schon gemein. Die haben öfter so ein bisschen dieses extrem Robuste, Schlagfertige, Witzige. Ich hab mich mal gefragt, ob es nicht auch das ist, wonach Erwachsene sich sehnen, wenn sie an Kindheit denken. Vielleicht hat es damit auch zu tun. So was Verlorenes oder So-hätte-man-sein-Müssen.
    "Nein, sie war mir von Beginn an ganz deutlich vor Augen," beschreibt die 56jährige gelernte Werbetexterin Annet Huizing Katinka, die Hauptfigur ihres neuen Kinderbuchs – einer originellen Mischung aus Sachbuch und Roman über ein zwölfjähriges Mädchen, das Schriftstellerin werden möchte.
    "Ich weiß nicht, woher sie kommt. Aber sie kommt nicht aus meiner Kindheit. Vielleicht hätte ich so sein wollen wie Katinka. Ich weiß nicht. Aber sie war in mir vom ersten Augenblick an sehr lebendig, als ob sie vor mir stehen würde.
    Und Joke van Leeuwen, von der jetzt bei uns "Das tolle ABC-Buch" erschien, bekennt:
    "Und dann hab ich vielleicht neu ausgefunden, wie schön Kinderbücher sein können, wenn man das sieht, wie ein bisschen anarchistisch. Man guckt von unten nach der Welt, sozusagen, und dann dachte ich: "Das ist schön. Ich will keine Kinderbücher schreiben wie ein Erwachsener, die alles besser weiß."
    "Ich bin immer noch ein bisschen ein Kind. Wenn meine Freundinnen etwas erzählen über ihr Baby oder über ihre Zehnjährige, dann fühle ich mich nicht wie die Eltern, aber die Zehnjährige. Und ich stelle mich vor, wie das sein muss für die Zehnjährige, nicht wie der Vater oder die Mutter.
    Übereinstimmende Pfiffigkeit
    Annet Huizing und Anna Woltz in Utrecht oder auch Anke Kranendonk in Amsterdam sind Schriftstellerinnen, deren entdeckungsfreudige kleine Persönlichkeiten bei uns angekommen sind und angenommen werden. Ihre literarischen Figuren sollen hier exemplarisch für Charaktere stehen, die sich einer pauschalen Einordnung ins Schema "Jugendliche Helden" entziehen. Dazu sind sie trotz übereinstimmender Pfiffigkeit zu individuell. Dennoch darf nicht vergessen werden, was Joke van Leeuwen und Andrea Kluitmann über die schrumpfende Zahl solcher Kinderbuchfiguren zu bedenken geben:
    "Es ist schwieriger für Kinder auch um es zu entdecken, dass es noch andere Sachen gibt als Hypes. Es gibt eigensinnige junge Autoren. In 80er Jahren, 90er Jahren war es sehr viel besseres Klima für solche Bücher. Das denke ich: ja. Aber es ist mehr als das. Politiker in den Niederlanden, mehr als hier, geben nicht nur weniger Investition in Kultur, aber auch gab es einen Staatssekretär von Kultur und er sagte, Kultur war nur Hobby der Linken.
    "Naja, die Verlage machen eben immer noch so viel. Jeder hofft: Wenn ich nur viel schieße, werde ich - ich werf da 300 Pfannkuchen gegen ne Wand und zwei bleiben hängen. Und das ist so die Methode, die sehr nachvollziehbar ist, aber irgendwie natürlich auch schade, weil es so viel Mist gibt, auch."
    "Es war keine Nische in 80er und 90er Jahren. Dann gab es Kinderjury auf den Niederlanden. Und auch Guus Kuijer und ich standen dort. Und nun ist es jedes Jahr populäre Series – ganz anders als was wir versucht haben zu machen. Das macht nichts. Ich schreibe und ich soll niemals aufhören auch für Kinder zu schreiben. Obwohl, als ich diesen literarischen Preis bekommen hab."
    AKO-Literaturpreis
    2013 erhielt Joke van Leeuwen die renommierteste niederländische und flandrische Literaturauszeichnung in der Sparte Belletristik, den AKO-Literaturpreis.
    "Interview von ein Television: "Und nun hörst du auf für Kinder zu schreiben?" Das war auch so eine Frage: "Ha, nun machst du das wirklich Literatur, kannst du aufhören für Kinder zu schreiben." So will ich niemals denken. Es ist zu wichtig, weil mit Kindern fängt alles an – das ist wichtig. Kinder müssen gute Sachen bekommen, das man mit Herz und Seele und Talent geschrieben hat."
    Will man das reale Lebensumfeld der heutigen literarischen Kinderpersönlichkeiten im niederländischen Sprachraum näher kennenlernen, ist es ratsam, sich vorab ein gerade auf Deutsch – im Rotterdamer Kinderbuchverlag Lemniscaat – erschienenes Wimmelbuch anzusehen, das die niederländische Geschichte und den niederländischen Alltag - im Stile von Rotraut Susanne Berner, nur noch viel wimmeliger - auf farbenfrohen Seiten dokumentiert.
    Geschöpfe konkreter Fantasie
    Die Französin Charlotte Dematons, die seit Langem in ihrer Wahlheimat Niederlande lebt, hat in ihrem Bilderbuch "Niederlande" und - zusammen mit Jesse Goossens - im Begleitband "Tausend Dingetjes über die Niederlande" wie keiner vor ihr das bunte und graue Leben im Lande in Bildern beschrieben, in allen vier Jahreszeiten, Tag und Nacht, zu Lande und zu Wasser.
    LESUNG (aus "Tausend Dingetjes ..."):
    Mein Buch fängt nicht am 1. Januar an, weil das Meer im Sommer natürlich am schönsten ist. Da kann jeder mit den Füßen im Wasser am Strand entlangschlendern – wie hier auf meinem Bild. … Hier erkennen wir den Küstenstreifen mit Strand und Dünen. Mein Verleger meinte: "Davon kannst du doch einen ruhigen Ort der Entspannung machen." Entspannung? Ruhe? Hier gibt es Reitwege, Wanderwege, Radewege, jede Menge Wegweiser und Informationstafeln. Nach echter Ruhe und Entspannung sucht man auf diesem Bild vergebens. So wie auf den übrigen Bildern in diesem Buch auch. Die Niederlande sind einfach komplett durchorganisiert.
    Wolkenleichte Illustrationen
    Nach dieser Lektüre wird man die Milieus im Lande weitaus differenzierter sehen, vielleicht auch jene, die dazu führen, dass es solche literarische Gestalten gibt, wie die Figuren in den neuen Büchern von Anna Woltz, Annet Huizing oder Anke Kranendonk. Je näher man ihre eigenständigen kleinen Persönlichkeiten kennenlernt, desto mehr erscheinen sie als wirkliche Menschenkinder – oder zumindest als leibhaftig gewordene Geschöpfe konkreter Fantasie, die viele von uns einmal sein wollten – und für Augenblicke vielleicht auch gewesen waren: ausgerüstet mit einem wachen Sinn für Ungerechtigkeiten und mit einem aufgeweckten Gespür für Abenteuer diesseits des Horizontes.
    Man kann diesen Typus Kind – etwas pathetisch ausgedrückt - in seiner Reinform wunderbar in "Käpt'n Kalle" kennenlernen, dem neuen Roman von Anke Kranendonk, mit wolkenleichten Illustrationen von Annemarie van Haeringen.
    LESUNG (aus "Käpt'n Kalle"):
    Seine Mutter macht die Augen auf. "Wo willst du hin?", flüstert sie.
    "Weg", sagt Kalle leise.
    "Wohin?"
    "Nur kurz nach draußen."
    "Mit wem?"
    "Mit Max und Hektor."
    "Gehst du auch nicht zu weit weg?"
    "Nein."
    "Kommst du pünktlich wieder nach Hause?"
    "Klar."
    "Krieg ich einen Kuss?"
    "Nein."
    Manchmal spinnt Kalles Mutter ein bisschen. Wer gibt denn seiner Mutter einfach so einen Kuss? Er ist doch kein kleines Baby mehr.
    "Einen einzigen", sagt sie.
    "Na ja, einer ist okay."
    Kalle, acht Jahre alt, ist ein mutiger kleiner Welterforscher, der die Kanäle, die sich um sein Zuhause ziehen, als Kapitän seines kleinen Motorbootes - das ihm seine Eltern gerade geschenkt haben - erkunden möchte. Und so gibt es nichts Selbstverständlicheres für ihn, als sich mit Meerschweinchen Hektor und Nachbarshund Max das erste Mal auf eine Spritztour zu begeben, bis hin zum großen, viel befahrenen Fluss. Kalle erlebt dabei Überraschendes, gerät auch in sehr gefährliche Situationen, die er aber mit Glück und Verstand gerade noch so bewältigt.
    Wüssten die Eltern davon – die Haare würden ihnen zu Berge stehen. Nachdem ihn die Polizei per Hubschraubereinsatz aufgespürt hat, will Kalle am nächsten Tag, unternehmungslustig wie er nun mal ist, um einige Erfahrungen und eine Freundin reicher, schon wieder ins Boot steigen und das nächste Abenteuer bestehen, mit Freundin, nicht mit Papa, versteht sich. - Da ist er, dieser Tick Dreistigkeit, der in unseren, noch etwas mehr pädagogisch korrekt geprägten kinderliterarischen Gefilden weit eher die Ausnahme ist als in der Kinderliteratur der Niederlande und Flanderns. Ähnlich pädagogisch unkorrekt handeln die Kinder in Anna Woltz' neuem Roman "Gips oder Wie ich an einem einzigen Tag die Welt reparierte".
    LESUNG (aus "Gips"):
    "Erst muss ich zwei Sachen erklären," belehrt die zwölfjährige Felicitas, genannt Fitz, den drei Jahre älteren Adam, den sie gerade auf dem Flur eines Krankenhauses kennengelernt hat.
    LESUNG: "Erstens: Meine Eltern sind einander leid geworden und darum lassen sie sich scheiden. Und zweitens: Wir sind hier, weil meine Schwester einen Unfall hatte. Ein Schlitten hat ihre Fingerkuppe abgehackt."
    "Aua", sagt Adam.
    Ich nicke. "Bente ist neun und die coolste Schwester, die ich kenne. Sie will später sieben Kinder haben und dann reist sie mit der ganzen Familie mit einem Hundezirkus herum. Sie hat sieben Jungennamen und sieben Mädchennamen auf Vorrat, und mindestens hundert Hundenamen."
    "Hat der Vater der sieben Kinder auch noch was zu melden?", fragt Adam.
    "Der darf die Karten verkaufen. Und die Kinder bürsten. Bente kümmert sich um die Hunde."
    Eine Portion Dreistigkeit
    Anna Woltz' Roman schildert aus der Sicht von Fitz 24 chaotische Stunden im Krankenhaus. Chaotisch nicht zuletzt deshalb, weil irgendwie alles, was dem offenherzigen Mädchen im Leben wichtig ist, im Augenblick aus den Fugen zu geraten scheint. Im Krankenhaus lernt Fitz Adam kennen und ein gleichaltriges Mädchen – Patientin in der Herzchirurgie. Beide rücken Fitzens Perspektiven gehörig zurecht. Und auch hier: mit einer Portion Dreistigkeit bewegt sich das Trio den ganzen Tag durch die Krankenhausflure und tut dabei nebenbei noch Gutes, als seien die drei der amerikanischen TV-Serie "Emergency Room" entsprungen.
    "All meine Geschichten – ich weiß genau, wie die Zimmer aussieht oder alles was ich beschreibe, sehe ich im Kopf. Während ich schreibe, wird es Wirklichkeit. Ich fühle auch, was meine Hauptfiguren fühlen. Und "Gips" war ein schreckliches Buch, um zu schreiben. Vor einer Woche haben die Eltern von Fits sich getrennt. Also, ich habe vielleicht sechs Monate habe ich mich gefühlt, als ob meine Eltern sich vor einer Woche getrennt hatten. Aber das war schrecklich! Bevor hatte ich nie gedacht, dass es sooo schrecklich ist. Und eine Trennung und ein Krankenhaus! Und meine Schwester liebt Krankenhäuser. Sie ist Chirurgin und sie liebt Blut und Trauma - sie liebt alles."
    Und dann kommt ein denkwürdiger Satz, der vielleicht erklärt, warum Hauptfiguren wie Kalle oder Fitz oder Katinka so nahe am richtigen Leben und dennoch so eigensinnig sind:
    "Ich will wirklich sehr gerne über meine eigene Geschichte nachdenken und nicht von anderen Leuten hören, was ich tun sollte. Das ist so schön – schreiben. Ich bin wirklich mein eigener Boss.
    Auch Annemarie van Haeringens neues Bilderbuch "Schneewittchen strickt ein Monster" könnte einen versteckten Hinweis darauf enthalten, warum die herausragende niederländische und flandrische Kinderliteratur einen Tick anders ist als die anderer Länder. Ihr Buch ist, man könnte sagen: eine witzige Metapher darauf, was passiert, wenn man sich von anderen sagen lässt, was zu tun ist. Die Ziege Schneewittchen strickt nicht nur Socken, sondern, weil es ihr Spaß macht, ganze Ziegenkinder. Bis Frau Schaf zu Besuch kommt und losplappert:
    LESUNG (aus "Schneewittchen strickt ein Monster"):
    "Ich kann viiieeel besser stricken! Und auch viel schneller und schöner! Du strickst viel zu locker. Ich sehe, dass du Maschen fallen lässt. Was du da machst, taugt ja gar nichts. Das ist Schluderkram! Ich verstehe auch nicht, warum du immer noch mit Ziegenwolle strickst, damit handelt man sich doch nur Schwierigkeiten ein!"
    Kein Wunder, dass Schneewittchen den Faden verliert und fortan Dinge strickt, die ihr über den Kopf zu wachsen drohen – bis hin zu einem Monster. Was für ein Glück, dass sie ihre Strickereien wieder auftrennen kann.
    Fassen wir zusammen: Mit Herz, Seele und Talent zu schreiben – wie Joke van Leeuwen und eine Zahl junger Schriftsteller und Illustratoren das tun - scheint in den Niederlanden und in Flandern, trotz Literaturstiftungen, Literaturfonds und einem ausgeprägten System der Leseförderung, heutzutage eine schwierigere Kunst zu sein als in den 1990er Jahren. Die Politik kürzt Investitionen in allen Bereichen der Kultur und der Bildung. Und die Verlagslandschaft befindet sich – wie überall – in einem rasanten Wandel. Marketing, Verkaufszahlen und die Jagd nach umsatzsteigernden, allgemein verträglichen Themen bestimmen mehr denn je die Verlagspolitik, wie Joke van Leeuwen drastisch formuliert:
    "Mein Verlag ist noch immer – versucht die Bücher auszugeben, die sie lieben: Querido. Mein erster Direktor von Querido hat gesagt: "Ich verkaufe, weil es Qualität hat." Und nun kann man nicht mehr sagen: "Ich verkaufe, weil es Qualität hat", nun sagt man: "Ich verkaufe, because I have a lot of advertisements, because the newspapers write about me and more of that. Because my face is on television" - solche Sachen.
    Aber etablierte Schriftsteller wie sie, wie Guus Kuijer, Bart Moeyaert, Toon Tellegen oder Edward van der Vendel lassen sich nicht beirren. Und jüngere Autoren finden immer noch ihre Mentoren und Förderer. Vielleicht auf etwas weniger orthodoxem Weg als im deutschen Verlagswesen.
    "Ich kann mir wohl vorstellen, weil das Land klein ist und viele Verlage ihre Autoren auch so n bisschen – so ein Verlag sieht sich oft auch als Zuhause der Autoren, sprich: die kennen sich, tauschen sich aus – dass man sich da auch ein bisschen aneinander entwickelt.
    "Ich weiß nicht, wie das ist in einem großen Landwohnen, aber ich denke, dass es gut ist, dass wir uns kennen und auch glauben an das, was junge Schriftsteller und Zeichner machen."
    "Ich habe immer den Eindruck – das ist vielleicht schon ein bisschen so ne Volksart -, dass hier noch etwas mehr Frohsinn herrscht und etwas mehr - ja, Langsamkeit und ein Bewusstsein, dass es nicht so selbstverständlich ist, dass schöne Bücher geschrieben werden. Dass man auch Momente sich nehmen muss, um es zu erhalten."
    Das schöne schelmische Bilderbuch von Annemarie van Haeringen, zum Beispiel, würde sich sicher als eine Art alternatives Lehrbuch im Schreibunterricht verwenden lassen, den die Schriftstellerin Linda ihrer jungen Nachbarin, der zwölfjährigen Katinka, gewährt, in Annet Huizings "Wie ganz zufällig aus meinem Leben ein Buch wurde".
    LESUNG (aus "Wie ganz zufällig ..."):
    "Show, don't tell?", fragte ich.
    Zeigen, nicht erzählen. Erzähle nicht, dass deine Hauptfigur traurig ist, sondern beschreibe, wie sie mit hängenden Schultern durch die Stadt trottet. Erzähle nicht, dass sie etwas wirr ist, lasse sie lieber ständig zu spät zu Verabredungen kommen oder Dinge vergessen. Beschreibe die Löcher in ihren Jeans und ihr ungekämmtes Haar."
    Annet Huizing hat sich für ihr Buch eine schlaue Dramaturgie einfallen lassen, mit zwei parallelen Handlungssträngen: Zum einen Katinkas Tagebuch-Erzählung über ihr tragikomisches Familienleben, die die Schriftstellerin Woche für Woche lektoriert. Zum anderen Katinkas Berichte über ihre Besuche bei Linda. So fügen sich Fiction und Non-Fiction zu einem erzählerischen Ganzen. Katinkas Schöpferin – die selbst nie einen Schreibkurs besucht hat - weiß bis heute nicht genau, wie sie zum Schreiben kam. Vielleicht gehört auch das zu den Geheimnissen guter Geschichten, dass ihre Urgründe im Halbdunkeln liegen.
    "Das weiß ich auch nicht. Es war eine große Überraschung für mich. Ich war schon über die Idee erstaunt, hab sie dann aufgeschrieben und frage mich immer noch: Hab ich das geschrieben? Hab ich das gemacht? Die Geschichte wächst langsam in mir. Ich bin mit dem Rad gefahren und gelaufen – und dabei wurde die Idee immer konkreter.
    LESUNG (aus "Das tolle ABC-Buch ..."):
    kommt dir plötzlich 'ne Idee
    mittags gegen drei beim Tee
    abends gegen sieben, acht
    wenn du gar nicht dran gedacht
    oder morgens gegen zehn
    wenn du sprudelst vor Ideen
    lass sie raus aus deinem Kopf
    pack sie immer gleich beim Schopf
    LITERATURLISTE:
    Joke van Leeuwen: Das tolle ABC-Buch. Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers. Verlag Gerstenberg, Hildesheim 2016, 88 S., 12,95 Euro (ab 5)
    Anke Kranendonk: Käpt'n Kalle. Mit Bildern von Annemarie van Haeringen. Aus dem Niederländischen von Sylke Hachmeister. Carlsen Verlag, Hamburg 2016, 150 S., 9,99 Euro (ab 8)
    Anna Woltz: Gips oder Wie ich an einem einzigen Tag die Welt reparierte. Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann, Carlsen Verlag, Hamburg 2016, 176 S., 10,99 Euro (ab 12)
    Annet Huizing: Wie ganz zufällig aus meinem Leben ein Buch wurde. Aus dem Niederländischen von Birgit Erdmann, mixtvision, München 2016, 13,90 Euro (ab 12)
    Annemarie van Haeringen: Schneewittchen strickt ein Monster. Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2016, 15,90 Euro (ab 6)
    Charlotte Dematons: Niederlande. Übersetzt von Andrea Akkermann, Deutsche Ausgabe, Lemniscaat, Rotterdam 2016, o.P., keine Preisangabe (ab 10)
    Charlotte Dematons & Jesse Goossens: Tausend Dingetjes über die Niederlande, Deutsche Ausgabe, Lemniscaat, Rotterdam 2016, 96 S., keine Preisangabe (ab 10)