Geschlecht auf Bestellung
Ein Mädchen, bitte!

Was in Deutschland verboten ist, zieht immer mehr Paare ins Ausland – die gezielte Auswahl des Geschlechts eines Kindes. Nordzypern ist dabei zu einem wichtigen Standort geworden. Kritiker warnen vor einem Schritt Richtung Designerbaby.

    Mehrere Embryonen liegen in einer Petrischale in einem Labor. Die Schale liegt unter einem Mikroskop, daneben sind feine medizinische Instrumente zu sehen.
    Bei der In-vitro-Fertilisation (IVF), einer künstlichen Befruchtung außerhalb des Körpers, können Embryonen auch nach dem Geschlecht ausgewählt werden (picture alliance / Associated Press / Michael Wyke)
    In Nordzypern bieten Reproduktionskliniken etwas an, das in Deutschland verboten ist: die gezielte Auswahl des Geschlechts eines ungeborenen Kindes. Jedes Jahr reisen Tausende Paare aus Europa dorthin, um sich den Wunsch nach einem „Dreambaby“ zu erfüllen. Doch der Boom der künstlichen Geschlechtswahl wirft Fragen nach den ethischen Grenzen moderner Reproduktionsmedizin auf.

    Inhalt

    Warum entscheiden sich Paare für eine künstliche Geschlechtswahl?

    Schon in der griechischen Antike habe es Versuche gegeben, das Geschlecht eines Kindes zu beeinflussen – allerdings ohne großen Erfolg, erklärt die Ulmer Jugendmedizinerin Miriam Wilhelm. Der Wunsch nach einem bestimmten Geschlecht sei also keineswegs neu.
    Heutzutage gibt es verschiedene Gründe, warum Paare sich für eine künstliche Geschlechtsauswahl entscheiden. Ein Motiv ist das sogenannte „Family Balancing“: Wer bereits mehrere Kinder eines Geschlechts hat, wünscht sich gezielt noch einen Sohn oder eine Tochter.

    Gender Disappointment: Wenn das Geschlecht enttäuscht

    Ein weiterer Grund ist das immer häufiger auftretende Phänomen des „Gender Disappointment“, also die Enttäuschung über das Geschlecht eines ungeborenen Kindes.
    „Ich glaube, dass der größte Treiber natürlich immer noch unsere Vorstellung von Geschlecht ist, also unseren Rollenbilder, die wir haben”, erklärt die Dresdner Psychologin Julia Ditzer. Eltern hätten klare Vorstellungen davon, welche Aktivitäten man mit Jungs und welche mit Mädchen machen könne. Verstärkt werde das durch soziale Medien. „Wir sehen so ein perfektes Familienleben bei anderen und was die mit ihren Kindern so machen. Und dann sind wir natürlich enttäuscht, wenn wir das nicht genau so machen können”, so Ditzer.
    Hinzu kommen biografische und kulturelle Motive: religiös-konservative Erwartungen, mindestens einen Sohn haben zu müssen, oder eigene traumatische Erfahrungen, zum Beispiel mit Männern, die dazu führen können, keinen Sohn zu wollen. Viele Betroffene sprechen darüber kaum, weil Enttäuschung über das Geschlecht gesellschaftlich tabuisiert ist.

    Wie läuft die Geschlechtsselektion medizinisch ab?

    Die künstliche Auswahl des Geschlechts läuft im Rahmen einer In-vitro-Fertilisation (IVF) ab, einer Form der künstlichen Befruchtung. Dabei werden Eizellen außerhalb des Körpers befruchtet, und die entstehenden Embryonen anschließend im Labor untersucht. Dazu entnimmt man den Embryonen einige Zellen und untersucht sie genetisch, um unter anderem das Geschlecht zu bestimmen. Dieses Verfahren nennt man auch Präimplantationsdiagnostik (PID).
    Danach wird ein Embryo des gewünschten Geschlechts in die Gebärmutter eingesetzt. Embryonen des nicht gewünschten Geschlechts werden aussortiert und ggf. eingefroren.
    Als weniger erfolgversprechende Alternative gilt das sogenannte Microsort-Verfahren. Dabei trennt man die Spermien bereits vor der Befruchtung nach X- und Y-Chromosomen, um die Wahrscheinlichkeit für ein bestimmtes Geschlecht zu erhöhen.

    Warum hat sich Nordzypern zu einem wichtigen Standort für solche Behandlungen entwickelt?

    Ein entscheidender Grund, warum gerade in Nordzypern so viele Behandlungen durchgeführt werden: Die embryonale Geschlechtsselektion ist dort weder ausdrücklich erlaubt noch verboten. Es fehlt eine gesetzliche Regelung.
    Für das kleine Land mit seinen 470.000 Einwohnern ist die Reproduktionsmedizin ein Millionengeschäft geworden. Der türkische Teil der Insel wird völkerrechtlich nur von der Türkei anerkannt, hat keinen Zugang zu globalen Märkten und Finanzsystemen und wäre ohne die finanzielle Unterstützung aus Ankara nicht lebensfähig.
    Das Land verdient sein Geld fast ausschließlich im Dienstleistungssektor. Neben Tourismus und dem Bildungsbereich mit mehreren internationalen Universitäten ist in den vergangenen Jahren der Gesundheitstourismus hinzugekommen – insbesondere die Reproduktionsmedizin.
    Inzwischen gibt es rund 30 Reproduktionskliniken, die künstliche Befruchtungen durchführen, auch gezielt zur Geschlechtsselektion. Auf ihren Webseiten werben sie auf Englisch mit Begriffen wie „Dreambaby“.

    10.000 künstliche Befruchtungen pro Jahr

    Die Behandlungen sind deutlich günstiger als in den USA, wo die Geschlechtswahl ebenfalls erlaubt ist. Schon für rund 6000 Euro ist eine Behandlung möglich.
    Zwar gibt es keine offiziellen Zahlen zu Wunschgeschlechtsbehandlungen, inoffiziell heißt es jedoch, dass von rund 10.000 künstlichen Befruchtungen pro Jahr in Nordzypern etwa jede zweite mit dem Wunsch nach einem bestimmten Geschlecht verbunden sein könnte.

    Was ist in Deutschland erlaubt und was verboten?

    In Deutschland ist die künstliche Geschlechtswahl ohne medizinische Indikation durch das Embryonenschutzgesetz verboten. Das gilt auch mehr oder weniger in der gesamten Europäischen Union.
    Auch die Präimplantationsdiagnostik (PID) – ein Verfahren, bei dem im Rahmen einer künstlichen Befruchtung Embryonen genetisch untersucht werden, bevor sie in die Gebärmutter eingesetzt werden – darf in Deutschland nicht frei angewendet werden. Sie ist nur in eng begrenzten Ausnahmefällen zulässig, zum Beispiel bei Verdacht auf eine schwere geschlechtsspezifische Erbkrankheit wie die Muskeldystrophie Duchenne, die fast ausschließlich Jungen betrifft.
    Ob eine PID durchgeführt werden darf, entscheidet nicht die einzelne Klinik, sondern eine interdisziplinäre Ethikkommission nach strenger Prüfung des Einzelfalls. Eine Anwendung allein zur Erfüllung eines Wunschgeschlechts gilt als strafbar und wird nach deutscher Rechtsauffassung als Verstoß gegen die Menschenwürde bewertet.
    Um geschlechtsselektive Abtreibungen zu verhindern, dürfen Ärztinnen und Ärzte in Deutschland das Geschlecht des ungeborenen Kindes erst nach der 12. Schwangerschaftswoche mitteilen. Ab diesem Zeitpunkt sind auch Schwangerschaftsabbrüche nach Paragraf 218a des Strafgesetzbuches nicht mehr erlaubt.

    Welche ethischen Bedenken gibt es?

    Der Reproduktionsmediziner Erdal Aktan spricht sich dafür aus, die Geschlechtswahl zumindest ab dem zweiten oder dritten Kind zu erlauben und verweist darauf, dass bei künstlichen Befruchtungen ohnehin überzählige Embryonen entstehen, die aussortiert werden.
    Auch die Wunschkindberaterin Nathalie Wiederkehr hält die Behandlungen für vertretbar und spricht sich für eine Legalisierung der embryonalen Geschlechtsselektion aus. Sie begründet das mit der Selbstbestimmung der Frau.
    Kritiker hingegen sehen in der Wunschgeschlechtsbehandlung einen ersten Schritt hin zum „Designerbaby“. In den USA gibt es bereits erste Kliniken, die neben dem Geschlecht auch andere Merkmale wie die Augenfarbe anbieten.
    Für ihre Doktorarbeit zur vorgeburtlichen Geschlechtswahl befragte die Jugendmedizinerin Miriam Wilhelm Reproduktionsmediziner in Deutschland. Fast 80 Prozent von ihnen lehnen eine Geschlechtsselektion ohne medizinische Indikation ab – auch aus Sorge vor den Folgen einer Ausweitung der künstlichen Befruchtungen.

    Der Umgang mit Embryonen

    Ein weiterer zentraler ethischer Konflikt betrifft den Umgang mit Embryonen. Weltweit würden mittlerweile mehr als eine Million Embryonen konserviert, die Zahl steige jedes Jahr. „Was passiert damit? Kann man die für die Forschung nehmen? Verwirft man die? Wie sieht es mit dem Lebensstatus von so einem Embryo aus, wie ist das ethisch vertretbar?“, fragt Wilhelm.
    Hinzu kommen mögliche gesellschaftliche Folgen, zum Beispiel eine Verschiebung des Geschlechterverhältnisses, sowie psychologische Risiken. Für Kinder könne es belastend sein, später zu erfahren, dass sie nur wegen ihres Geschlechts ausgewählt wurden, erklärt die Dresdner Psychologin Julia Ditzer.
    Nicht zuletzt warnt der Bioethiker Jonte Lindemann vor einer zunehmenden Kommerzialisierung der Reproduktionsmedizin insgesamt. Hinter vielen Angeboten stünden Klinikkonzerne und Vermittlungsagenturen. Es handele sich um einen wachsenden Markt mit guten Gewinnprognosen, der wenig mit Altruismus zu tun habe.

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