
Edith Aichinger hat extra eine kleine Schweizer Flagge in einen der Blumentöpfe neben all die Balkonblumen gesteckt. Damit ich gleich weiß, wo ich erwartet werde, wenn ich mit der Tram bei ihr in Zürich ankomme. Auf den gedeckten Tisch hat die 86-Jährige aber eine österreichische Sachertorte mit Schlagsahne gestellt. Schließlich ist Edith Aichinger Österreicherin. Warum sie schließlich in der Schweiz landete und wie es dazu kam - das ist eine Geschichte von Flucht, Armut und Hilfsbereitschaft.
Wir schauen uns alte Schwarz-Weiß-Fotos an. Von Edith Aichinger als kleines Kind, in den Nachkriegsjahren. Ihre Familie floh vor Mussolini aus Südtirol, kam 1939 nach Innsbruck. „Wir haben dort gelebt, ohne Papiere, ohne irgendetwas, in einem kleinen Zimmer zu viert ohne Wasser, ohne Toilette“, erzählt sie. „Und das im sechsten Stock. Wir konnten dann runter ins Parterre zu einer Familie, wo wir auf die Toilette durften.“ Das Wasser muss die kleine Edith alle sechs Stockwerke hochschleppen. Jeden Tropfen – und wehe, wenn sie etwas verschüttet.
Hunger in den Nachkriegsjahren
Ihre Mutter, ihr Vater, Edith und eine ihrer Schwestern wohnen in dem Zimmerchen. Die beiden anderen Schwestern von Edith leben damals bei Pflegeeltern. Auch Edith wird mal zur Pflege oder ins Kinderheim gegeben, kommt dann wieder zurück zu den Eltern: eine freudlose Kindheit mit einer jähzornigen Mutter – in großer Armut. „Ich hab nicht gewusst, dass man sogar einmal so viel essen kann, dass man keinen Hunger hat“, sagt sie, während wir uns viel Sahne auf die Torte sprühen.
Den Nachbarn geht es in den Nachkriegsjahren bereits besser. Immer wenn die kleine Edith beobachtet, wie sie Speisereste wegschmeißen, rennt sie schnell hinunter – und sammelt die Reste aus der Mülltonne. Irgendwann verbeißt sich eine Ratte in ihren Finger. „Ich hab sie verstanden. Sie wollte das Gleiche haben wie ich“, sagt Edith Aichinger und lacht. „Wir haben gestritten, die Ratte und ich. Aber ich habe gewonnen.“
Mehr als 150.000 Kinder werden in der Schweiz aufgenommen
Edith lässt sich nicht unterkriegen. Nicht von der Ratte und nicht vom Leben. Ihre Mutter erfährt von dem Hilfsprogramm des Schweizerischen Roten Kreuzes: Kinder dürfen zur Erholung für drei Monate in die Schweiz reisen, zu Gasteltern. Mehr als 150.000 Kinder aus verschiedensten Ländern Europas besuchen über das Hilfsprogramm in den Nachkriegsjahren die Schweiz. Die meisten kommen aus Deutschland. Trotzdem ist die Geschichte der sogenannten Zugkinder hierzulande heute fast vergessen.
Die erste heiße Schokolade ihres Lebens
Die neunjährige Edith möchte unbedingt mit in die Schweiz – und wird genommen. Denn bei der Auswahl der Kinder sind vor allem ihr Gewicht und der Gesundheitszustand entscheidend. So ausgehungert wie Edith ist, bekommt sie einen Platz. Als sie in den Zug steigt, weiß sie noch nicht, dass diese drei Monate ihr gesamtes weiteres Leben bestimmen werden. Es ist eine Schicksalsfahrt.
Noch heute hat sie in Erinnerung, wie sie damals in Buch aus dem Zug steigt, entlaust und geduscht wird. Und dann: „Die erste Schokolade und die erste Semmel in meinem Leben. Das vergesse ich nie. Den Geruch von der heißen Schokolade. Die war himmlisch. Da habe ich mich wirklich wie im Paradies gefühlt.“
Von Buch aus werden die Kinder weiter verteilt und zu ihren jeweiligen Gasteltern gebracht. Edith kommt zu einer Familie nach Zug - und findet sich in einer großen Villa wieder: ein eigenes Bett, ein eigenes Zimmer. Die kleine Edith ist überwältigt. „Und ich konnte essen und essen. Das war wunderschön. Ich habe die Sorgen vergessen.“
In einem freien Land – ohne Angst
Keine drohenden Flugzeuge und Bomben am Himmel, keine Angst, wenn sie auf die Straße geht. Das sei sie gar nicht gewohnt gewesen, sagt Edith Aichinger. Dieses freie Leben in der Schweiz - und Menschen, die sich für sie interessierten. Dass Erwachsene ihr Aufmerksamkeit schenken, war für sie ungewöhnlich. „Ich kannte das ja gar nicht, dass man so nett sein kann mit jemandem und speziell mit mir. Ich konnte das lange nicht begreifen.“ Deswegen verkriecht sie sich erst einmal häufig unter dem Küchentisch. Erst allmählich kann die Kleine die Zuneigung annehmen.
Dass sie aus Österreich kam, dem Land, das Hitler-Deutschland „angeschlossen“ wurde, sei nie negativ erwähnt worden. Im Gegenteil, sagt Edith Aichinger. Sie sei ein Aushängeschild gewesen. Die Leute seien gekommen, um sie anzusehen: „Ach ja, ist das euer Mädchen von Österreich. Ach, wie schön. Oh, ist die herzig. Oh, ist die lieb.“ Die Hilfsbereitschaft der Schweizerinnen und Schweizer war groß: aus Nächstenliebe und aus Dankbarkeit, in dem einzigen Land Europas zu leben, das vom Krieg verschont worden war. Alle wollten helfen. Bisweilen gab es sogar mehr Gastfamilien als Zugkinder.
Die neunjährige Edith beschließt: In dieses Land möchte sie später ziehen. Sobald sie alt genug ist. Doch erst einmal muss sie wieder zurück – ins triste Nachkriegsösterreich. Die Gasteltern in der Schweiz möchten die kleine Edith gerne adoptieren. Aber Ediths Mutter unterbindet den Kontakt, verbrennt alle Briefe.
Ich verkaufe keine Kinder, habe ihre Mutter gerufen, erinnert sich Edith Aichinger. Ihr Stimme wird hart, beim Erzählen. Man merkt ihr noch heute den Schmerz an. Nie hätte sie ihren Gasteltern zurückschreiben können, dabei hätte sie sich damals so gerne bedankt.
Edith geht in die Schweiz – zack, zack
Dass sie in die Schweiz möchte, vergisst Edith aber nicht. Und setzt alles daran. Als sie 18 Jahre alt ist, liest sie eine Anzeige: Au-pair-Mädchen in der Schweiz gesucht. Sie bewirbt sich – und zieht in die Schweiz. Zehn Jahre nach ihrem ersten Aufenthalt. Einfach „zack, zack“, sagt Edith Aichinger. „Edith geht in die Schweiz und die Edith ist heute noch in der Schweiz.“
Erst arbeitet sie als Au-pair-Mädchen, dann in Hotels, in einem Fotolabor, in einem Papierhandel, einer Taxi-Zentrale. Sie modelt, reist viel und steht als Sopranistin auf der Bühne. Die Bilder in ihren Fotoalben zeigen sie bei einem Auftritt mit einem großen Kammerchor, wie sie Ski fährt, als Model mit einem Geparden auf einer Blumenwiese posierend.
86 Jahre ist Edith Aichinger jetzt alt. Trotzdem überlegt sie manchmal heute noch, wie ihr Leben wohl geworden wäre, wenn die Gasteltern sie damals adoptiert hätten. Vielleicht hätte sie Krankenschwester oder Hostess werden können - ihre Traumberufe. „Aber so war das Geld nicht vorhanden. Und so musste ich halt schauen, wie durchschustern durchs Leben, aber ich habe es auch geschafft.“