Donnerstag, 18. April 2024

Militarisiertes Gedenken
Welche Bedeutung der 9. Mai in Russland und in der Ukraine hat

Der 9. Mai wird in Russland als "Tag des Sieges" der Sowjetunion über Nazi-Deutschland begangen. Doch der Staat konstruiert Heldengeschichten, statt an Leid zu erinnern. Auch in der Ukraine hat der 9. Mai eine sehr wechselhafte Geschichte hinter sich.

Von Thielko Grieß und Florian Kellermann | 09.05.2023
    Militärparade zum "Tag des Sieges" über Nazi-Deutschland am 9. Mai 2023: Militärfahrzeuge fahren über den Roten Platz an einer Tribüne vorbei.
    Der 78. Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland wird am 9. Mai 2023 in Moskau mit einer Militärparade gefeiert. (imago / ITAR-TASS / Sergei Bobylev)
    Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg in Europa. Die deutsche Wehrmacht musste in die bedingungslose Kapitulation einwilligen. Die tatsächliche Unterzeichnung der Kapitulationserklärung zog sich allerdings noch bis in die Nacht zum 9. Mai hinein, weshalb in einigen Ländern wie Russland dieses Datum als Kriegsende gilt. Die Sowjetunion erklärte den "Tag des Sieges" 1965 zum Feiertag.

    Welche Bedeutung hat der 9. Mai in Russland?

    Der „Tag des Sieges“ ist für eine große Mehrheit der Russinnen und Russen einer der wichtigsten Tage im Jahreskreis. Die meisten haben viel Zeit, um einen entspannten Tag in patriotischer Stimmung zu verbringen, weil der Zeitraum vom 1. bis etwa 10. Mai für viele arbeitsfrei ist.
    Die Erinnerung an den Sieg über das nationalsozialistische Deutschland ist zu Zeiten der Sowjetunion strengem staatlichen Zugriff unterworfen worden. Dies ist im modernen Russland in der mehr als 23-jährigen Herrschaft Wladimir Putins wieder so, allerdings mit inzwischen veränderten Akzenten.
    Bis zum Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine 2022 fanden große Militärparaden auch in vielen regionalen Hauptstädten statt. In diesem Jahr wurde die Militärparade dagegen in mehr als 20 Großstädten abgesagt, darunter in Kursk, Belgorod und Tjumen. Offiziell wurde dies unter anderem mit der Angst vor Anschlägen begründet. Kremlkritiker vermuteten dagegen, Russland verfüge wegen der Kriegsverluste nicht mehr über genug moderne Militärtechnik. Auf den Einsatz der Luftwaffe wurde bereits bei den Paraden im vergangenen Jahr verzichtet.
    Doch dürften in Moskau wieder Zehntausende dicht gedrängt am Nowyj Arbat stehen, einer der großen Ausfallstraßen, die auf neun Fahrspuren vom Kreml wegführt. Welche Militärtechnik dort und in Sankt Petersburg zu sehen sein wird, wurde im Vorfeld nicht bekannt gegeben. Der Rote Platz in Moskau, wo die Hauptfeierlichkeiten stattfinden, wurde bereits zwei Wochen vor der Veranstaltung für die Öffentlichkeit gesperrt.

    Was ist das "Unsterbliche Regiment"?

    Nach den großen Militärparaden folgt am 9. Mai vielerorts das „Unsterbliche Regiment“. Dabei ziehen Angehörige von Soldaten der Roten Armee, die im Zweiten Weltkrieg dienten, mit deren Porträts über die Hauptstraßen ihrer Stadt.
    Das „Unsterbliche Regiment“ geht auf eine private Initiative zurück und ist kurz darauf vom russischen Staat vereinnahmt worden. Der verfolgt das Ziel, historische Erinnerung zu kontrollieren. Gleichzeitig will er die von ihm gelenkte Erinnerung bei jüngeren Generationen verankern.
    Beim „Unsterblichen Regiment“ mitzumachen, ist einfach: Wer keine Angehörigen hat, an die man erinnern könnte, findet auf offiziell betriebenen Seiten Porträts zum Herunterladen und Ausdrucken.
    Das "Unsterbliches Regiment" bei einer Militärparade zum "Tag des Sieges" am 9. Mai in Russland: Angehörige von Soldaten der Roten Armee, die im Zweiten Weltkrieg dienten, ziehen mit deren Porträts über eine Hauptstraße in Sankt Petersburg
    Das "Unsterbliches Regiment" bei einer Militärparade zum "Tag des Sieges" in Sankt Petersburg (picture alliance / dpa)
    Weitgehend verblasst ist die direkt gefühlte und meist stille Trauer um die etwa 27 Millionen Toten, die die Sowjetunion nach dem „Großen Vaterländischen Krieg“, wie der Zweite Weltkrieg bis heute genannt wird, beklagte.
    Das Narrativ, das über die vergangenen Jahre von Polittechnologen konstruiert worden ist, knüpft nun nahtlos an die Erzählung an, die im heutigen Russland über den Krieg gegen die Ukraine verbreitet wird. Sie ist eine Heldengeschichte, die mit historischen Fakten wenig gemein hat.

    Wie wird der aktuelle Krieg in der Ukraine offiziell eingeordnet?

    Der heutige Krieg, der in Russland nur „Spezialoperation“ genannt werden darf, wird als Fortsetzung des „Großen Vaterländischen Krieges“ dargestellt. Russland befinde sich, so wird im Internet gebloggt, im Fernsehen gezeigt und auf Plakaten dargestellt, abermals in großer Gefahr. Der Nazismus habe diesmal in Kiew Wurzeln geschlagen und erhalte aktive Hilfe aus Warschau, Berlin und Washington. Russland kämpfe nun, wie damals, als Verfechter des Guten gegen das Böse, wozu Entbehrungen für Russinnen und Russen unumgänglich seien.
    Das Leid des Krieges wird den Menschen in Russland nicht gezeigt, vielmehr wird das Land dank seiner Atomwaffen als unverwundbar beschrieben. Üblich sind Appelle an Wehrhaftigkeit und Kampfbereitschaft, Stärke, Entschlossenheit und nationale Einigkeit. Gepriesen werden die Entscheidungen der Staatsführung.

    Was ist für den diesjährigen 9. Mai in Russland geplant?

    Der russische Präsident Wladimir Putin wird auf dem Roten Platz in Moskau wieder eine Rede halten. In Moskau war spekuliert worden, er könne diesmal darauf verzichten – wegen zweier Drohnen, die in der vergangenen Woche auf den in unmittelbarer Nähe liegenden Kreml abgeschossen wurden. Russland macht die Ukraine für den Beschuss verantwortlich, Kiew weist dies zurück.

    Wie wurde und wird das Ende des Zweiten Weltkrieges in der Ukraine gefeiert?

    Wegen des Krieges finden in der Ukraine in diesem Jahr keine Gedenkveranstaltungen statt. In den vergangenen drei Jahrzehnten hatte das ukrainische Gedenken an das Kriegsende 1945 teils gegensätzliche Ausrichtungen. Zunächst feierte die seit 1991 unabhängige Ukraine die Jahrestage ähnlich wie Russland mit einer Parade.
    Das änderte sich im Jahr 2005. Die Siegesparade zum 60. Jahrestag des Kriegsendes in Kiew wurde zu einem Gegenentwurf der Moskauer Veranstaltung. Präsident, Kabinettsmitglieder und Veteranen liefen in lockerer Gruppe zum Unabhängigkeitsplatz, schweres Kriegsgerät wurde nicht zur Schau gestellt.
    2010 gab es eine erneute Wendung: In Kiew fand am 9. Mai wieder eine Militärparade statt, synchronisiert mit den Paraden in Minsk und Moskau. Nach dem Sieg des Euromaidans folgte die nächste Wende: 2015 fand in Kiew am 9. Mai wieder eine Parade statt, allerdings ohne Waffen und mit Armeeorchestern aus westlichen Ländern wie Polen, Litauen oder Lettland.
    In den Folgejahren geriet das Datum 9. Mai zunehmend aus dem Fokus. Der 8. Mai wurde zum „Tag des Gedenkens und der Versöhnung“. Der 9. Mai war privaten Initiativen vorbehalten.
    In diesem Jahr erklärte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj den 9. Mai zum „Europatag“. Gleichzeitig schlug er dem Parlament vor, den 8. Mai in Abgrenzung zu Russland zum „Tag des Gedenkens an den Sieg über den Nationalsozialismus im Zweiten Weltkrieg zwischen 1939 bis 1945“ zu erklären. Zum Tag, an dem Kiew militärische Stärke demonstrieren wollte, entwickelte sich indes zunehmend der Unabhängigkeitstag am 24. August.