Montag, 29. April 2024

40 Jahre Kirchenasyl
Ein Akt der Bamherzigkeit - und des zivilen Ungehorsams

Mit dem Kirchenasyl treten die Kirchengemeinden in Deutschland für den Schutz Hilfsbedürftiger ein. Seit nunmehr vier Jahrzehnten helfen sie auf diese Weise Geflüchteten in Not - und geraten dabei auch immer wieder in Konflikt mit staatlichen Stellen.

05.09.2023
    In der Kapelle der Katholischen Hochschulgemeinde in Göttingen lebten 1999 neun Kurden, darunter drei Kinder, im Kirchenasyl. Die Gruppe kämpfte um ein neues Asylverfahren und hatte Angst vor einer Abschiebung in die Türkei.
    In der Kapelle der Katholischen Hochschulgemeinde in Göttingen lebten 1999 neun Kurden, darunter drei Kinder, im Kirchenasyl. Die Gruppe kämpfte um ein neues Asylverfahren und hatte Angst vor einer Abschiebung in die Türkei. (picture-alliance / dpa / Holger Hollemann)
    Seit 40 Jahren bieten evangelische und katholische Kirchen sowie jüdische Gemeinden in Deutschland Geflüchteten Asyl. Die allermeisten Menschen suchen Unterschlupf, weil sie eine Abschiebung entweder in ihr Heimatland oder aber in ein anderes europäisches Land befürchten. Gemäß dem Dublin-Übereinkommen aus den 1990er-Jahren müssen Geflüchtete in dem Land einen Antrag auf Asyl stellen, das sie in der EU zuerst betreten haben.
    In vielen Fällen sind dies osteuropäische Länder sowie Griechenland, Spanien oder Italien. Viele Flüchtlinge berichten von unmenschlichen Bedingungen für Asylsuchende und seelischen wie körperlichen Misshandlungen, vor allem in osteuropäischen Ländern.

    Überblick

    Was ist Kirchenasyl und was führte 1983 zum ersten Fall in Deutschland?

    Ende August 1983 stand der türkische Asylbewerber Cemal Kemal Altun vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin. Aus Angst vor der Abschiebung in die Türkei sprang der 23-Jährige am zweiten Verhandlungstag aus einem offenen Fenster des Gerichtsgebäudes in den Tod.
    Wenig später gewährte die Heilig-Kreuz-Kirche in Berlin-Kreuzberg – wohl auch unter dem Eindruck von Altuns Verzweiflungstat -  einer palästinensischen Familie aus dem Libanon Unterschlupf. Ihr drohte die Abschiebung, es waren die ersten Menschen in Deutschland, die Kirchenasyl fanden – und später tatsächlich in Deutschland bleiben durften.

    Schutz vor dem Zugriff durch die Staatsmacht

    Kirchenasyl als zeitlich befristeten Schutz vor dem Zugriff durch die Staatsmacht gibt es im Prinzip schon, seit es Religionen gibt. Im antiken Griechenland fanden Schutzsuchende Zuflucht in Tempeln und in der Nähe von Götterbildern oder Altären. Später entwickelte sich das kirchliche Asylrecht zu einem auch staatlich garantierten Recht. 1059 wurde auf einer Synode in Rom ein Friedensbereich um große Kirchen von 60 Schritten festgelegt.
    Frühmittelalterliche alemannische Rechtssammlungen regelten die Einzelheiten des Kirchenasyls. Der absolutistische Staat der Aufklärung hingegen war daran nicht mehr interessiert: Im 18. Jahrhundert war das offizielle Kirchenasyl in weiten Teilen Europas abgeschafft. Erst vor einigen Jahrzehnten gewann es wieder an Bedeutung. Vorreiter waren die USA. Christliche Gemeinden dort setzten sich für Verfolgte aus Mittelamerika ein.

    Wie viele Fälle von Kirchenasyl gibt es jährlich in Deutschland?

    Die Ökumenische Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche hat für dieses Jahr bereits - Stand August 2023 - rund 430 Kirchenasyle mit mehr als 650 Menschen gezählt. 285 Kirchenasyle mit 423 Personen, darunter 88 Kinder, wurden inzwischen beendet. Die meisten sind sogenannte Dublin-Fälle, denen eine Rückführung in das europäisches Erstaufnahmeland droht.
    Schaffen es die Geflüchteten jedoch, mindestens sechs Monate in Deutschland zu bleiben, dürfen sie ihren Antrag auf Asyl auch hier stellen. Das Kirchenasyl ist deshalb für die Schutzsuchenden eine Möglichkeit, sich so lange in der Obhut der Kirche aufzuhalten, bis die Frist verstrichen und eine Neuprüfung des Falls durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge möglich ist.

    Bürgerkriege spiegeln sich in der Statistik

    Die Zahl der Kirchenasyle ist in den zurückliegenden Jahren stark gestiegen: 2003 waren es nur 38 Fälle, 2018 aber 1325. Bürgerkriege und gewaltsame Verfolgung und Ermordung von Minderheiten spiegeln sich in dieser Statistik wider, aber auch der Umgang mit Asylsuchenden in Deutschland. So gingen im Jahr 2015 – dem „Wir schaffen das“-Jahr unter Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) – nur knapp halb so viele Menschen ins Kirchenasyl wie 2018, als der Umgang mit Flüchtlingen wieder deutlich restriktiver geworden war.

    Gibt Kirchenasyl den Betroffenen eine Perspektive?

    Laut dem Theologen Benedikt Kern, aktiv im Netzwerk Kirchenasyl Münster, haben 98 Prozent der Menschen, die Kirchenasyl in Anspruch nehmen und anschließend in Deutschland Asyl beantragen, eine reelle Bleibeperspektive. Der Schutzraum der Kirchen bleibt also in Zeiten von Kriegen und Konflikten für viele Geflüchtete weiterhin von großer Bedeutung.

    Wie ist das Kirchenasyl rechtlich zu bewerten?

    In ganz Deutschland gewähren derzeit Gemeinden einen zeitlich befristeten Schutz. Die Kirchen berufen sich bei diesem Akt zivilen Ungehorsams auf die grundgesetzlich verankerte Menschenwürde, das Recht auf Freiheit und körperliche Unversehrtheit.
    Aber: die Kirchen bewegen sich in einer Grauzone: „‘Kirchenasyl‘ im rechtlichen Sinn gibt es im modernen Rechtsstaat nicht, weil der sakrale Ort kein rechtsfreier Raum mehr ist. Da nur der Staat Flüchtlinge anerkennen und insbesondere Asyl gewähren kann, nimmt die Kirche ein solches Recht auch nicht in Anspruch", heißt es etwa in den Handreichungen der Evangelischen Kirche Mitteldeutschland zu diesem Thema.

    Zugriff des Staates auf das Kirchengelände

    Und, so steht es dort weiter: "'Kirchenasyl‘ ist eine Beistandsleistung aus christlicher Verantwortung. Durch eine in besonderen Härtefällen gewährte, zeitlich befristete Aufnahme von Flüchtlingen in kirchliche Räume soll Zeit gewonnen werden, um bei den Behörden eine rechtlich, sozial und humanitär vertretbare Lösung für die betroffenen Menschen und in der Regel eine Aufhebung der Abschiebeentscheidung zu erwirken."
    Ziel der Kirchengemeinden ist es also, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Fälle erneut aufgreift und prüft. Das Kirchengelände genießt jedoch rechtlich keine Ausnahmestellung gegenüber dem sonstigen Hoheitsgebiet des Staates. Staatliche Organe wie Polizei und Staatsanwaltschaft haben uneingeschränkten Zugriff auf Personen, die sich dort aufhalten.
    Im Juli 2023 sorgte ein Fall von Kirchenasyl im nordrhein-westfälischen Viersen für Aufsehen: Ein irakisches Paar war im Gemeindeshaus einer Kirchengemeinde aufgegriffen und in Abschiebehaft genommen worden. Letztlich intervenierte die Bürgermeisterin der Stadt persönlich und erreichte, dass die beiden aus der Haft entlassen wurden.
    Kirchenasyl ist eine freiwillige Leistung der Gemeinden. Sie müssen es nicht anbieten - es gibt keinen Anspruch darauf.

    Wie wurde das Kirchenasyl in der Vergangenheit politisch diskutiert?

    Die Verschärfung des Asylrechts 1993 machte das Kirchenasyl für etliche Flüchtlinge zur letzten Hoffnung. Als „demokratisches Streitmittel für den Flüchtlingsschutz“ bezeichnete es die Arbeitsgemeinschaft „Asyl in der Kirche“ vor einigen Jahren.
    Der Theologe Jürgen Quandt, 1983 jener Pfarrer in der Heilig-Kreuz-Kirche, der die ersten Kirchenasyl Suchenden aufnahm, zieht nach 40 Jahren eine eher ernüchterte Bilanz: Das Kirchenasyl sei weiterhin dringend notwendig und genauso umstritten, sagt er.
    Quandt spricht von einem Dissens zwischen Staat und Kirchen, der in den vergangenen Jahren nicht überwunden werden konnte. Von staatlicher Seite habe immer die Behauptung im Raum gestanden, hier würden Gesetze nicht beachtet, so Quandt: "Das ist bis heute so geblieben."

    Meldung an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge

    Tatsächlich äußerte sich der ehemalige Innenminister Thomas de Maizière (CDU) 2015 entsprechend: „Das geht eben nicht, dass eine Institution sagt: ‚Ich entscheide jetzt mal, mich über das Recht zu setzen.‘“
    Im Gespräch mit dem Deutschlandfunk zog de Maizière einen Vergleich: „Ich will mal ein etwas anderes Beispiel nehmen: Die Scharia ist auch eine Art Gesetz für Muslime, sie kann aber in keinem Fall über deutschen Gesetzen stehen. Das ist, glaube ich, ganz eindeutig.“
    Seit 2015 gibt es eine Vereinbarung zwischen Staat und Kirchen über das Kirchenasyl: Jeder Fall wird von den Kirchengemeinden an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gemeldet und begründet.
    Wie frei sich Geflüchtete im Kirchenasyl dann außerhalb des Kirchengeländes bewegen können, ist von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich: Während sich die Geflüchteten in Berlin keine Sorgen machen müssen, wenn sie Besorgungen machen, kann in Bayern schon ein Arztbesuch zum Problem werden.
    Im Freistaat ging die CSU-Staatsregierung 2017 auf Konfrontation mit den christlichen Kirchen und kündigte an, Kirchenasyl stärker als bisher zu verfolgen. Tatsächlich mussten sich in den zurückliegenden Jahren mehrere bayerische katholische Geistliche beziehungsweise Ordensfrauen vor Gericht verantworten, weil sie Kirchenasyl gewährt hatten. In allen Fällen wurden sie jedoch entweder freigesprochen oder das Verfahren wurde eingestellt.

    Kirchenasyl als "Ausprägung der Gewissensfreiheit"

    Der bayerische Landtag wiederum erklärte im Sommer 2021, Kirchenasyl sei als Ausprägung der Gewissensfreiheit zu betrachten. Die Kirchen hätten einen verfassungsrechtlich hohen Rang, heißt es in einem Beschluss des Landtags. Hieraus entspringe das Kirchenasyl, das "eine lange Tradition in Bayern und Deutschland hat". Die wichtige humanitäre Schutzfunktion des Kirchenasyls als letzter Ausweg für Menschen in Not verdiene Respekt. In besonderen Härtefällen sei eine nochmalige Überprüfung der Fluchtgründe möglich. Gleichwohl seien auch die Kirchen an Recht und Gesetz gebunden.
    In Zukunft könnte sich die Situation aber auch in anderen Bundesländern wieder verkomplizieren. Grund sind die Verschärfungen der EU-Asylrechtsreform, die vermutlich auch Einfluss auf das Kirchenasyl haben werden. Geflüchtete bräuchten dann wahrscheinlich verstärkt das Kirchenasyl, "um überhaupt eine Chance zu haben, dass ihr Aufenthalt hier geprüft wird", sagt der Theologe Jürgen Quandt.

    mkn, epd, kna