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Koalitionsverhandlungen
Der harte Weg zur Zielgeraden

Bis Mitte der Woche soll der Koalitionsvertrag stehen. Doch gerade der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel kann längst nicht sicher sein, dass ihm dieses Paragrafenwerk die Große Koalition beschert und damit das eigene politische Überleben sichert.

Von Frank Capellan und Stephan Detjen |
    Seehofer: "Ich hole mir hier eine Grippe ... "
    Gabriel: "Ist ja nett, dass Sie uns empfangen!"
    Am Anfang pflegen die Herren noch zu scherzen. Es ist ein ungemütlicher Novembermorgen. Vor aller Augen hat der CSU-Chef auf der Straße auf seinen SPD-Kollegen gewartet, minutenlang sind die Kameras auf Horst Seehofer gerichtet, ehe dann - nach einer gefühlten halben Stunde – endlich Sigmar Gabriel mit Generalsekretärin Andrea Nahles im Gefolge vor der Bayerischen Landesvertretung erscheint.
    Sigmar Gabriel: "Er hat uns oben links positioniert - unter der Büste von Franz-Josef Strauß."
    Sigmar Gabriel und Horst Seehofer verstehen sich irgendwie, zumindest haben sie einen ähnlichen Humor und den gleichen Sinn für deutliche Worte in die eigenen Reihen hinein. Beide sind Meister der Inszenierung, das zeigt sich immer wieder, wenn in Berlin zur sogenannte Großen Runde geladen wird. Wirklich verhandelt wird in diesem 75er-Gremium eigentlich nichts, dazu sitzen einfach viel zu viele Politiker um den riesigen Tisch herum.
    Seehofer: "Heute wird die Koalition vom bayerischen Lebensgefühl beflügelt: Leben und leben lassen!"
    Wer hier wen leben lässt, ist zu Beginn der alles entscheidenden Verhandlungswoche offen. Bis Mitte der Woche soll der Koalitionsvertrag stehen, doch gerade der SPD-Vorsitzende kann längst nicht sicher sein, dass ihm dieses Paragrafenwerk - wie erhofft - die Große Koalition beschert und damit auch das eigene politische Überleben sichert. Nachdenklich und ungewohnt zurückhaltend ist Sigmar Gabriel vor zehn Tagen in den SPD-Parteitag gestartet, dann aber bekommt er zu spüren, dass die Stimmung an der SPD-Basis noch schlechter als befürchtet ist. Spontan entschließt er sich, einen flammenden Appell an die Delegierten zu richten, ihm doch bitte auf dem Weg in die Große Koalition zu folgen. Seither ist "Schluss mit Lustig" im Umgang mit den künftigen Partnern. Mit Rücksicht auf 470.000 Parteimitglieder, die am Ende über Wohl und Wehe der nächsten Regierung in Deutschland zu entscheiden haben, verschärft Gabriel den Ton Richtung CDU und CSU:
    "Ihr habt uns jetzt zweimal gebeten, weiter zu verhandeln - ohne jedes Ergebnis. Ihr habt uns in einen Parteitag geschickt - ohne jedes Ergebnis. Jetzt müsst Ihr liefern, liebe Leute von der Union. Jetzt müsst Ihr liefern!"
    Horst Seehofer aber wäre nicht Horst Seehofer, würde er auf markige Ansagen nicht ebenso deutlich reagieren. Am Wochenende hat er selbst einen Parteitag in München zu bestehen, auf dem die Erwartungen von Wahlsiegern zu erfüllen waren. Tatsächlich droht der Ministerpräsident den Sozialdemokraten mit der vermeintlich schärfsten Waffe: Mit Neuwahlen. "Wir lassen uns nicht erpressen!" lautet die Botschaft des einflussreichen CSU-Vorsitzenden. Zu sozialdemokratisch darf die Handschrift in diesem Koalitionsvertrag nicht sein, nicht bei einem SPD-Ergebnis von 25,7 Prozent! Geliefert wird von uns nicht.
    Seehofer: "Ich habe nix dabei. Keinen Rucksack dabei. Keinen Lieferwagen. Nichts!"
    Dass er in dieser Woche etwas auf den Tisch legen muss, ist Seehofer dennoch bewusst. So einfach ist das mit den Neuwahlen nicht. Ob ein erneuter Urnengang am Ende nicht nur der SPD, sondern auch der Union schaden könnte, weiß niemand vorherzusagen. Seehofer könnte sich schnell auch in Verhandlungen mit den ungeliebten Grünen wiederfinden; in Hessen wird gerade ein denkbarer Weg vorgezeichnet. Und Grünen-Chef Czem Özdemir spricht seinerseits Drohungen aus, die die Konservativen seit der Öffnung der SPD in Richtung Linkspartei umtreiben.
    "Da gibt es nicht nur die Option, dass man mit der CDU/CSU spricht. Da gibt es natürlich auch die Option, dass die SPD einladen kann zu Gesprächen mit der Linkspartei und den Grünen. Alle Optionen sind dann auf dem Tisch!"
    Dann doch lieber mit den Sozialdemokraten, selbst wenn die gerade dabei sind, sich von den eigenen Mitgliedern knebeln zu lassen. Angela Merkel ist pragmatisch genug, um auf sozialdemokratische Befindlichkeiten einzugehen. Die CDU-Chefin braucht die Einigung mit der SPD, um ihren grandiosen Wahlerfolg am Ende nicht doch noch zu verspielen. Wenn sich Merkel in dieser Woche zu Sechs-Augen-Gesprächen mit Horst Seehofer und Sigmar Gabriel zurückziehen wird, um die wirklich harten Nüsse dieses Bündnisses zu knacken, dann werden die Fronten wohl genauso zwischen ihr und dem Chef der Schwesterpartei wie zwischen ihr und ihrem künftigen Vizekanzler von der SPD verlaufen. Dass sie grundsätzlich bereit ist, Sigmar Gabriel bei dessen ganz großen Anliegen entgegenzukommen, hat die Kanzlerin pünktlich zum Parteitag der SPD öffentlich wissen lassen:
    "Jetzt können wir ja mal überlegen ... der Mindestlohn: 82 Prozent der Deutschen und 78 Prozent der Unionswähler finden den super ... ob es eigentlich so richtig ist, mal leichtfertig zu sagen, am Mindestlohn lasse ich die Sache scheitern. Und ich sage Ihnen ganz ehrlich: Die 8,50 Euro werden eine Rolle spielen in diesem Mindestlohn, so wie ich die Dinge realistisch einschätze!"
    Sigmar Gabriel vertraut auf die Kanzlerin. Gabriel hat einen guten Draht zu Angela Merkel. Seit seiner Zeit als deren Umweltminister in der Großen Koalition 2005 bis 2009 stand der heutige SPD-Vorsitzende stets mit ihr in Kontakt - zumindest in SMS-Kontakt. Die Art, wie sich Merkel in der von Männern dominierten Union durchgesetzt hat, imponiert Gabriel.
    2005 bis 2009 haben Union und SPD harmonischer miteinander regiert als Union und FDP in den letzten vier Jahren
    Nicht nur Sigmar Gabriel - eine ganze Reihe von denen, die seit einigen Wochen am großen Verhandlungstisch von Union und SPD sitzen, sind Veteranen der letzten großen Koalition. Was für weite Teile der SPD Basis als traumatische Erfahrung nachwirkt, ist für die meisten von ihnen mit den Erinnerungen an ein reibungsloses Miteinander, die gemeinsame Bewältigung historischer Probleme und Reformprojekte verbunden. Merkels und Steinbrücks Garantie der Spareinlagen nach der Lehman-Pleite, die Rente mit 67, die Föderalismusreform – 2005 bis 2009 haben Union und SPD harmonischer miteinander regiert als Union und FDP in den letzten vier Jahren. Enge Vertrauensverhältnisse sind dabei gewachsen. Auf einer Trauerfeier für den im letzten Jahr verstorbenen Peter Struck erinnerte Unions-Fraktionschef Volker Kauder daran, wie eine verstreckte Hintertreppe, die die Büros der beiden im Jakob-Kaiser-Haus des Bundestages verband, zum Bindeglied einer Freundschaft und eines effizienten Regierungsmanagements wurde.
    Kauder: "Meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben praktisch immer darauf gewartet, dass Peter Struck kommt. Über die inzwischen berühmt gewordene Geheimtreppe, die unsere Büros so verbunden hatte, dass niemand uns sah, wenn wir uns besuchten. Und wenn Peter Struck in mein Büro kam, dann war der Raum ausgefüllt. Ich vermisse ihn",
    gestand Kauder bei seiner Trauerrede im Januar und machte kaum einen Hehl daraus, dass er sich in den zähen Jahren des schwarz-gelben Durchwurstelns mehr als einmal nach dem professionellen Miteinander der letzten Großen Koalition gesehnt hat. Doch Volker Kauder und die Spitzen der Union wissen, dass das Bündnis, das sie jetzt schmieden, nicht einfach an das Jahr 2009 anschließen wird. Die Vorzeichen stehen anders. Und obwohl man – wie ein Teilnehmer erzählt – am Ende geradezu heiter aus den Gesprächen der Großen Verhandlungsrunde von Union und SPD gegangen ist, steht der erste Härtetest erst in diesen und den kommenden Stunden bevor.
    Dobrindt: "Das heißt, es wird die Arbeit der nächsten Stunden sein, die Maßnahmen zu identifizieren, die man gemeinsam in der nächsten Legislatur dann auch erledigen will."
    Letzte Kompromisse in heiklen Sachfragen wie der doppelten Staatsbürgerschaft, Finanzierungsprioritäten, zum Beispiel für die Mütterrente, gesichtswahrende Formulierungen bei Prestigeprojekten wie dem Mindestlohn oder der Maut müssen ausgehandelt werden.
    "Die Wähler haben weder dem Wirtschaftsflügel der CDU die absolute Mehrheit gegeben, noch dem linken Flügel der SPD",
    bereitet Angela Merkel mögliche Kritiker in den eigenen Reihen auf das vor, was sie etwa zum Symbolthema Mindestlohn im Koalitionsvertrag lesen werden. Wie als Reflex auf das anhaltende Murren an der sozialdemokratischen Basis laufen Vertreter von Wirtschaftsverbänden in der Schlussphase der Verhandlungen gegen die, in ihren Augen zu nachgiebige Verhandlungslinie der Unionsleute Sturm.
    "Insgesamt gehen die Entwicklungen in die völlig falsche Richtung. Wir machen uns große Sorgen. Wir reden über zu hohe Mehrausgaben größtenteils für neue Sozialleistungen über 50 Milliarden Euro, wenig Investitionen",
    liest BDI-Chef Ulrich Grillo der Kanzlerin per Deutschlandfunk-Interview die Leviten. 10 zu 2 stehe es beim Koalitionskicker für die SPD, titelt die Bild-Zeitung. CDU- Generalsekretär Gröhe tut das – neben einer fröhlich-kichernden Kollegin Nahles stehend - als Ergebnis einer Rechenschwäche ab.
    "Ich bin versucht zu sagen, dass mich diese Rechnung darin bestärk, dass viele Bildungspolitiker fordern, die Fähigkeit bei Mathematik und Naturwissenschaften nachdrücklich zu verbessern in unserem Land. Das hätte vielleicht zu einer anderen Bewertung geführt."
    Und die Kanzlerin? Sie ist öffentlich geradezu unsichtbar geworden. In den Koalitionsrunden – so heißt es – habe sie sich stets bis in die letzten Details informiert gezeigt. Keine neuen Schulden, keine Vermehrung der Arbeitslosigkeit, Wahrung des Wohlstands – das sind Merkels grob gesteckte Zielvorgaben für ihre dritte Regierung. Im Jahr 2017 solle es möglichst vielen Menschen besser gehen als heute, hat sie vor zehn Tagen dem Parteinachwuchs von der Jungen Union versprochen. Und im Übrigen lautet das Merkel'sche Gesetz, das vielleicht als Leitsatz ihrer ganzen Kanzlerschaft in die Geschichte eingehen wird:
    Als gesetzt gilt mittlerweile, dass Wolfgang Schäuble Finanzminister bleibt
    "The proof of the pudding is the eating ... Zum Schluss werden uns die Menschen fragen, geht es Deutschland in einigen Jahren besser als heute?"
    Vor allem aber ist jetzt die Stunde gekommen, über das zu sprechen, worüber bisher eisern geschwiegen wird: Ressortverteilung und Personalverteilung würden erst ganz am Schluss und im kleinsten Kreis beantwortet, haben die Verhandlungsteilnehmer mehr als einen Monat lang wieder und wieder beteuert. Jetzt aber laufen die Drähte heiß. Am Sonntag getrennte Vorabsprachen der Parteispitzen, heute und Dienstagmittag der sogenannte Steuerungskreis aus Vorsitzenden, Fraktionschefs, Generalsekretären und dem Chef des Kanzleramts. In dieser Runde dürfte ausgehandelt werden, wie das neue, das dritte Kabinett Merkel aussehen wird.
    Als gesetzt gilt mittlerweile, dass Wolfgang Schäuble Finanzminister bleibt. Siegmar Gabriel dürfte als Vizekanzler ein um Energiekompetenzen gestärktes Wirtschaftsressort übernehmen. Möglich, dass Frank Walter Steinmeier doch eine zweite Amtszeit als Außenminister bevorsteht, obwohl er stets betont, wie gern er Fraktionschef ist.
    Interessant ist, dass sich die SPD schnell davon verabschiedet hat, das Finanzressort zu übernehmen. Gegen den Widerstand vieler Genossen. Der Schatzkanzler ist in Zeichen der Euro-Krise längst zum Schattenkanzler geworden. Dennoch erscheint Sigmar Gabriel das Risiko offenbar zu groß, wegen des fehlenden Geldes immer wieder mit leeren Händen stehen zu können. Zudem könnten einem SPD-Finanzminister allzu sehr die Ministerpräsidenten im Nacken sitzen, auch die eigenen.
    Bleiben wird vermutlich auch Verteidigungsminister Thomas de Maiziere – trotz der Drohnen-Affäre. Auch auf Ursula von der Leyen kann die CDU-Chefin nicht verzichten. An der CDU-Basis ist sie äußerst beliebt und gilt als potenzielle Nachfolgerin der Kanzlerin. Von der Leyen wird dem neuen Kabinett angehören, auf keinen Fall aber mehr als Arbeitsministerin. Nun könnte der gelernten Ärztin das Gesundheitsressort bevorstehen. Sicher ist, dass die SPD auf ihr bisheriges, das Arbeitsministerium besteht.
    "Vor mir liegt noch eine große Aufgabe: das Mitgliedervotum, dann schauen wir mal."
    Für Generalsekretärin Andrea Nahles wäre es ein gewaltiger Karriereschritt, dieses sozialdemokratische Schlüsselressort zu übernehmen. SPD-Fraktionsgeschäftsführer Thomas Oppermann wird für das Innen- oder Justizministerium gehandelt. Welches Ressort er bekommen kann, hängt von den bayerischen Ambitionen ab: Innenminister Hans-Peter Friedrich oder Verkehrsminister Peter Ramsauer: Einer der beiden Christsozialen wird wohl Platz machen müssen, denn CSU-Chef Horst Seehofer will seinen Generalsekretär Alexander Dobrindt in Merkels drittes Kabinett schicken.
    Vielleicht allerdings erübrigen sich all diese Personalentscheidungen schnell. Mit Rücksicht auf die Basis wird bei der SPD sogar erwogen, erst nach dem Mitgliederentscheid Namen für die sozialdemokratischen Ressortbesetzungen zu nennen. Auch das zeigt, wie groß die Angst der SPD-Führung vor einem Nein der eigenen Mitglieder ist!
    "Lasst uns mit dem Ergebnis, was wir haben, in die Opposition gehen, denn mit 25 Prozent gehören wir nirgendwo anders hin. Und dann werden wir 2017 anklopfen und dann können wir uns die Koalitionspartner aussuchen, das ist der richtige Weg, vielen Dank!"
    Sozialdemokraten wie Lars Winter aus Schleswig-Holstein sind es, die Sigmar Gabriel zittern lassen. Noch denkt eine Mehrheit der SPD-Funktionäre wie er. Der Parteivorsitzende steckt in der schwierigsten Phase seiner vierjährigen Amtszeit. Seit der Bundestagswahl meidet er die Öffentlichkeit, Gespräche mit Journalisten finden praktisch nicht mehr statt. Ein falsches Wort – und der Traum von der Regierungsverantwortung wäre ausgeträumt. Ein Nein zum Bündnis mit der Union könnte sowohl die Republik als auch die eigene Partei in eine ernste Krise stürzen und die gesamte, gerade bestätigte SPD-Führung vom Platz fegen!
    Gabriel: "Ich bin ein bisschen zurückhaltend mit solchen Debatten, weil ich nicht den Eindruck erwecken will, dass ich sozusagen die Partei erpresse, nach dem Motto: Ihr dürft eigentlich gar nicht dagegen stimmen, weil sonst seid Ihr Euren Vorsitzenden und vielleicht noch ein paar mehr Leute sofort los!"
    Mit einer berauschenden Zustimmung seiner Basis rechnet der oberste Sozialdemokrat ohnehin schon lange nicht mehr. Viele werden Nein sagen, egal, was im Vertrag steht. Und so ist Gabriel längst bescheiden geworden:
    "Und ich bin ganz, ganz sicher: Bei einer guten Koalitionsverhandlung kriegen wir eine Mehrheit ... und selbst, wenn die nicht so groß ist ... . Darum geht es gar nicht bei dem Votum, sondern die Minderheit wird die Mehrheit akzeptieren, weil sie beteiligt waren!"
    Anfang kommender Woche wird jedes SPD-Mitglied die Abstimmungsunterlagen erhalten, bis zum 12. Dezember kann dann per Briefwahl entschieden werden. Niemals zuvor konnte in Europa eine Parteibasis über eine Regierung bestimmen. Die Frage, die es zu beantworten gilt, könnte simpler nicht gestellt werden, "Verbindliches Mitgliedervotum" steht über dem Wahlzettel, und dann der Satz: "Soll die Sozialdemokratische Partei Deutschlands den mit der Christlich Demokratischen Union und der Christlich-Sozialen Union ausgehandelten Koalitionsvertrag vom November 2013 abschließen? Ja? Nein?"
    Nahles: "Nicht die schönste Rede von mir oder Sigmar Gabriel wird es richten, sondern das, was jetzt ausgehandelt wird in den nächsten Tagen!"
    Nur ein Vertrag, der eine deutliche sozialdemokratische Handschrift erkennen lässt, wird die Mitglieder gnädig stimmen. Ganz oben auf der Liste: Der flächendeckende, gesetzliche Mindestlohn. 8,50 Euro die Stunde. Überall in Deutschland. Wenn möglich sofort! Bereits vereinbart ist: Eine Kommission aus Vertretern der Tarifparteien soll das Lohnniveau aushandeln. Die Union will Minijobs von der Lohnuntergrenze ausnehmen. Schon warnt Klaus Barthel, Chef des sozialdemokratischen Arbeitnehmerflügels, vor faulen Kompromissen:
    "Wir kennen ja die nebulöse Sprache von Frau Merkel und wo also dann zum Thema Mindestlohn wolkige Einschränkungen gemacht werden."
    Formelkompromisse, Prüfaufträge – das sind Sollbruchstellen einer Koalition. Viele Sozialdemokraten drängen – die vier schwarz-gelben Regierungsjahre warnend vor Augen - auf handfeste Vereinbarungen. Die Basis aber will noch viel mehr: Das Betreuungsgeld soll abgeschafft, die Pkw-Maut verhindert werden, beides wird ihr Parteichef wohl kaum liefern können. Ein Ende des Kooperationsverbotes von Bund und Ländern im Bildungsbereich dagegen könnte ihm Pluspunkte verschaffen: Geld vom Bund für Ganztagsschulen, Unterstützung bei der Lehrerausbildung – für Sozialdemokraten steht außer Frage, dass es im Bereich der Bildungsinvestitionen Fortschritte geben muss. Damit könnte allerdings die Büchse der Pandora geöffnet werden – schließlich berührt die Bildungskooperation die Neuordnung der Bund-Länder-Finanzen insgesamt. Wohl kein Zufall, dass von einer echten Föderalismusreform kaum noch die Rede ist.
    Gabriel: "Ich werde der SPD keinen Koalitionsvertrag vorlegen, in dem die doppelte Staatsbürgerschaft nicht drin ist! Das mache ich nicht!"
    In diesem Punkt hat sich Sigmar Gabriel weit aus dem Fenster gelehnt. Der Optionszwang soll fallen. Zwei Staatsbürgerschaften über das 23. Lebensjahr hinaus – dagegen wehren sich insbesondere die Christsozialen. Die SPD aber steht im Wort. Die völlige Gleichstellung von Homosexuellen dagegen wird wohl scheitern. Vor allem aber ist eine Kernforderung der Sozialdemokraten aus dem Wahlkampf längst abgeräumt: Der Ruf nach Steuererhöhungen. Sigmar Gabriel wird nun für sein frühes Nachgeben in diesem Punkt geprügelt. Schon am Wochenende ist er deshalb in die Offensive gegangen. Eine Regionalkonferenz in Bruchsal bei Karlsruhe hat den Anfang eines Überzeugungsmarathons gemacht, bei dem die oftmals auf Krawall gebürstete SPD-Basis umgestimmt werden soll. Der Chef hat einen schweren Stand, selbst prominente sozialdemokratische Intellektuelle haben sich inzwischen auf die Seite der Koalitionsgegner geschlagen: Beststellerautor Bernhard Schlink oder Nobelpreisträger Günter Grass:
    Grass: "Ich hoffe, dass die Mitglieder der SPD nein sagen dazu. Das verträgt unsere Demokratie nicht, eine solche Übermacht einer Großen Koalition. Man sollte die CDU/CSU auffordern, eine Minderheitsregierung zu bilden!"
    Gabriel wischt solche Überlegungen vom Tisch. In einer hitzigen Diskussion mit baden-württembergischen SPD-Mitgliedern warnt er seine Partei vor dem Weg in den vermeintlichen Selbstmord.
    "Weil Frau Merkel gesagt hat, dass sie Neuwahlen macht ... und weißt Du, warum ich darüber nicht lachen kann? Weil es das Risiko der SPD ist, unter 20 Prozent zu gehen. Glaubst Du, die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes würden es der SPD verzeihen, wenn wir – weil wir zu blöd sind, eine Regierung im Parlament zu bilden, wir an den Neuwahlen schuld sind?!?"
    Am 15. Dezember soll klar sein, wie die Mitglieder entscheiden. Zwei Tage später könnte Angela Merkel zur Kanzlerin gewählt werden. Lehnt die SPD-Basis aber ab, dann droht in Merkels wie Gabriels Augen eine böse vorweihnachtliche Bescherung in Berlin.