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Koalitionsverhandlungen
Gysi kritisiert geplanten Hauptausschuss als "Grundgesetzverletzung"

Union und SPD planen, durch einen neu geschaffenen Hauptausschuss die Funktionsfähigkeit des Parlaments in der Übergangsphase bis zur Regierungsbildung zu sichern. Auf diese Weise die Fachausschüsse zu ersetzen, sei "grundgesetzwidrig" und zeuge von einer "Arroganz der Macht", kritisiert Fraktionsvorsitzender Gregor Gysi (Die Linke).

Gregor Gysi im Gespräch mit Dirk Müller | 22.11.2013
    Dirk Müller: Dass wir in diesem Land ohne Regierung sind, daran haben wir uns fast schon gewöhnt. Aber dass wir auch ohne Parlament sind, das ist noch vielen gar nicht so klar. Stimmt auch nicht so ganz, denn eine amtierende Bundesregierung ist immer noch im Amt, wie auch der Bundestag mit Abgeordneten bestückt ist. Seit Wochen gehen die Neuen nämlich bereits im Reichstag auf und ab. Aber wo sind die Ausschüsse, der Wirtschaftsausschuss, der Finanzausschuss oder beispielsweise der Verteidigungsausschuss? Nicht da, einfach nicht vorhanden, noch keine Zeit gehabt, weil die Koalitionsverhandlungen noch laufen.
    Doch da fragen sich viele: Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Ist das Parlament nicht da, um die Regierung zu kontrollieren? Um dieses Machtvakuum zu beenden, wollen Union und SPD nun einen Superausschuss, einen Hauptausschuss, der bis Weihnachten und Neujahr alles regeln soll. Das hat es noch nie gegeben. Gegen diesen Hauptausschuss ist Linken-Fraktionschef Gregor Gysi. Guten Morgen!
    Gregor Gysi: Einen schönen guten Morgen, Herr Müller.
    Müller: Herr Gysi, fahren Sie dann nicht besser in Urlaub?
    Gysi: Ich habe da zwar genug zu tun, aber es ist wirklich so: Die Abgeordneten werden bezahlt und können ihre Arbeit nicht verrichten. Ich nenne mal nur ein kleines, oder was heißt kleines Beispiel: der Petitionsausschuss. Jeden Tag kommen Briefe von Bürgerinnen und Bürgern und von Unternehmen, die sich über Dinge beschweren. Die Briefe werden geöffnet, der Beamte macht einen Eingangsstempel darauf und Schluss. Es gibt keinen Abgeordneten, der das liest, weil es ja keinen Petitionsausschuss gibt, und damit niemand, der zuständig ist.
    "Der Bundestag muss die Regierung kontrollieren"
    Nur Sie haben ja schon zurecht gesagt: Der Bundestag hat sich konstituiert, wir haben das Präsidium gewählt, und eigentlich müssten Ausschüsse gebildet werden. Und Union und SPD verhindern das, weil sie immer denken, der Bundestag ist die Fortsetzung der Regierung. Dabei ist es umgekehrt: Der Bundestag ist der Souverän, er bildet die Regierung, und er hat sie zu kontrollieren, das gilt auch für die amtierende geschäftsführende Regierung, und das kann er zurzeit gar nicht.
    Müller: Jetzt sind Sie ja auch, Herr Gysi, Realpolitiker. Das heißt, die Koalitionsverhandlungen laufen noch. Man weiß nicht, wer wird Minister, wer wird Staatssekretär, wer bekommt andere Positionen. Da ist es ja ganz schwer, objektiv gesehen, zumindest aus Sicht der Matadoren, die Positionen zu besetzen, die Ausschüsse zu besetzen. Also wartet man lieber noch ein bisschen. Ist das nicht normale demokratische Gepflogenheit?
    Gysi: Nein. Wenn Verhandlungen so lange dauern wie bei Union und SPD, nicht, sondern dann muss man die Ausschüsse bilden, mein Gott, und dann ändert man nachher etwas. Wenn ein Ausschussvorsitzender Bundesminister wird, schlägt man eben einen anderen vor. Das ist ja nun auch nicht so wahnsinnig tragisch. Aber der Bundestag könnte arbeiten, und die Bürgerinnen und Bürger würden mitbekommen, dass er etwas tut, dass er Anträge berät, dass er auch Entwürfe berät, dass er ihre Petitionen bearbeitet und vieles andere mehr, und das fällt zurzeit alles aus. Und die Idee vom Hauptausschuss, weil Sie ja darüber gesprochen haben, ist natürlich so: Den gibt es gar nicht in der Geschäftsordnung. Den gibt es auch nicht im Grundgesetz. Aber weil es das nicht gibt, ist es natürlich auch nicht verboten. Man kann einen solchen Weg gehen.
    Nur was SPD und Union beachten müssen, ist Folgendes: Dort wo das Grundgesetz einen Ausschuss vorschreibt, nämlich zum Beispiel den Petitionsausschuss, zum Beispiel den Verteidigungsausschuss, zum Beispiel den Außenausschuss, zum Beispiel den Wahlprüfungs- und Immunitätsausschuss, dort wo das Grundgesetz einen Ausschuss vorschreibt, kann nicht ein anderer Ausschuss die Arbeit erledigen. Das wäre grundgesetzwidrig. Das heißt, bestimmte Sachen, wenn sie sich zumindest ans Grundgesetz halten, fallen raus, die können dort gar nicht beraten werden.
    Müller: Sie sind da auch nicht bereit, in der jetzigen Situation ein Auge zuzudrücken?
    Gysi: Bei einer Grundgesetzverletzung kann ich niemals ein Auge zudrücken, andere auch nicht. Der Hauptausschuss kann andere Sachen machen wie der Verkehrsausschuss oder so. Ausschüsse, die nicht geregelt sind im Bundestag, da darf er tätig werden, aber nicht für Sachen, wo das Grundgesetz vorschreibt, welcher Ausschuss zuständig ist. Sehen Sie mal, so ein Hauptausschuss ist doch ganz anders zusammengesetzt. Wahrscheinlich entsenden wir fünf Leute. Jetzt wissen wir gar nicht, wen sollen wir da eigentlich hinschicken. Wenn sie verteidigungspolitische Fragen nicht behandeln, müssen wir keinen Verteidigungspolitiker hinschicken. Wenn sie das aber illegal doch machen, müssen wir jemand hinschicken, der was davon versteht.
    "Bei einer Grundgesetzverletzung kann ich niemals ein Auge zudrücken"
    Dann steht die Frage, geht man zum Bundesverfassungsgericht; das will ich eigentlich nicht. Ich will das nicht übertreiben, das Ganze. Aber wissen Sie, es ist so eine Arroganz der Macht, die dahinter steckt. Die sagen sich, mein Gott, wir haben 80 Prozent der Sitze, wir können doch hier machen, was wir wollen.
    Müller: Aber Sie könnten doch hingehen. Sie wissen doch so gut wie alles da.
    Gysi: Ja natürlich. Aber ich bin doch die einzige Ausnahme im Bundestag. – War nur ein Scherz!
    Müller: Jetzt ernst gemeint. Da gehen die Allrounder hin, die Fraktionschefs, die Stellvertreter, die das große Ganze im Blick haben.
    Gysi: Ja gut, das kann man schon machen bei fünf Abgeordneten. Aber was ist das dann für eine Belastung? Und dann macht ein Ausschuss alles, wo wir sonst über 20 Ausschüsse haben? Dann lesen wir die Petitionen illegal, weil grundgesetzwidrig, dann machen wir verteidigungspolitische Entscheidungen, dann machen wir den Haushaltsausschuss, dann machen wir den finanzpolitischen, den Steuerausschuss, dann entscheiden wir über Verkehrswege. Ich bitte Sie, das ist nun auch überzogen. Auch Generalisten haben ihre Grenzen.
    Müller: Entscheidungen muss man nicht fällen, das ist ohnehin ja im Moment nicht die Stärke, da hat die Koalition auch Schwierigkeiten. Kann man das nicht alles vertagen bis Mitte Januar?
    Gysi: Man gibt eine Empfehlung an das Plenum des Bundestages. Das ist ja das Entscheidende. Wenn die natürlich nur den Hauptausschuss einsetzen, um gar keine Empfehlungen zu geben, weil sie ja wieder verhindern, dass der Bundestag tagt, ja dann frage ich mich, wo wir hier leben. Der Bundestag hat die Pflicht, die Regierung zu kontrollieren, und das machen wir zurzeit nicht. Wir hatten jetzt eine konstituierende Sitzung – wie immer: Da wird ja nichts beraten und entschieden außer der Geschäftsordnung – und dann hatten wir jetzt eine Sondersitzung zum Verhältnis zu Osteuropa und vor allen Dingen zu dieser NSA-Affäre.
    Jetzt wird es noch mal eine Sitzung geben, weil sie verlängern müssen oder wollen das Bundeswehrmandat im Sudan etc., ist auch egal. Da werden wir noch mal eine Sondersitzung haben. Und den Rest lassen die einfach ausfallen. Wissen Sie, schon das stört mich. Die Abgeordneten sind gewählt, sie sind verpflichtet, ihre Arbeit zu leisten, und dann sagen die beiden Koalitions- oder künftigen Koalitionsfraktionen – zumindest muss man davon ausgehen, dass sie es werden -, die sagen dann, nein, wir haben jetzt keine Lust, wir tagen nicht, wir können noch nichts beraten, wir reden noch miteinander. Und dann machen sie das Ganze bis Mitte Januar oder was?
    Müller: Herr Gysi, ich muss noch mal einschreiten. Ich habe noch ein paar Fragen. Wir müssen auch ein bisschen auf die Zeit achten. Sie sagen, die machen das einfach. Die haben jetzt einen Kompromiss gefunden, die beiden Koalitionäre. Jetzt gibt es ja auch einen Bundestagspräsidenten, Norbert Lammert. Der hat sich in den vergangenen Jahren, vielen noch im Kopf, immer für die Rechte des Parlaments starkgemacht. Auch der sagt, das ist jetzt in Ordnung, das muss in dieser Übergangszeit passieren. Ist er jetzt auf dem falschen Dampfer, ist er gar kein überzeugter Parlamentarier mehr?
    Gysi: Doch, das ist er schon, und er war natürlich unglücklich darüber, dass der Bundestag gar nicht arbeiten kann, und beim Hauptausschuss kann er immerhin tätig werden. Aber trotzdem bitte ich ihn, noch mal zu überlegen, auch den Bundestagspräsidenten, was mit den Ausschüssen ist, die das Grundgesetz vorschreibt, ob der Hauptausschuss diese ersetzen darf. Da gehen wir wirklich sehr, sehr nahe heran an die Grundgesetzwidrigkeit. Ich weiß nicht, ob diese Frage bei ihm schon stand, aber ich werde ihm dringend raten, darüber nachzudenken, oder ob die Fragen, die solche Ausschüsse behandeln, einfach gar nicht aufgerufen werden.
    Müller: Was raten Sie den Grünen, die bisher gesagt haben, na ja, wir wissen das noch nicht so recht, das könnte schon in Ordnung gehen? Warum sind die Grünen, frage ich Sie jetzt, da nicht konsequenter?
    "Bestimmte Fragen werden den Hauptausschuss überfordern"
    Gysi: Na die Grünen sind halt, wie die Grünen sind. Ich sage mal, sie enthalten sich ja auch gerne der Stimme bei bestimmten Dingen. Sie wollen anfangen zu arbeiten und sagen, ein Hauptausschuss ist wenigstens ein Beginn. Das verstehe ich ja. Wir nehmen ja auch teil. Es ist doch nicht so, dass wir den boykottieren oder so. Wir sind ja nicht albern. Aber ich möchte einfach darauf hinweisen, dass das Grundgesetz bestimmte Vorschriften macht, die man einzuhalten hat, und dass man auch eine 80-prozentige Mehrheit nicht nutzen darf, um das ganze zu umgehen.
    Ich glaube, dass bei bestimmten Fragen der Hauptausschuss auch überfordert sein wird. Und ich muss noch mal sagen: Die Gründe, die mir ja auch Union und SPD genannt haben, dass sie da noch nicht fertig sind und mit den Personen und so, das kann ich nicht akzeptieren. Das ist kein Ding, jemand in einen Ausschuss zu schicken und nach sechs Wochen zu sagen, er verlässt ihn wieder, und dafür kommt ein anderer. Das ist wirklich unproblematisch, muss ich mal sagen.
    Müller: Aber dennoch, Herr Gysi, wir reden ja, wenn wir das richtig hier zusammengetragen haben, Kanzlerinnenwahl, vorgesehen für den 17. Dezember, dann sollen sich die Fachausschüsse konstituieren, zusammenfinden, 19. Dezember, dann kommen Weihnachtsferien, das heißt, wir reden de facto von drei, vier, fünf Wochen.
    Gysi: Wobei gesagt worden ist, dass erst im Januar dann die Konstituierung der Ausschüsse stattfindet. Das heißt, dass wir – wann hatten wir die Wahl, irgendwann im September – vom September bis Mitte Januar keine Ausschüsse haben und im Kern auch keine wirkliche Parlamentsarbeit, abgesehen von ein, zwei, vielleicht drei Sondersitzungen, und das geht nicht, denn der Bundestag ist im Unterschied zu anderen Parlamenten ein fleißiges Parlament, auch wenn es manchmal nicht so aussieht.
    Er arbeitet regelmäßig. Der Stau wird immer größer, und wir müssen das einfach den auch künftigen Regierungen austreiben zu sagen, sie entscheiden, wann der Bundestag arbeitet und wann nicht. Umgekehrt: Der Bundestag entscheidet, wie eine Regierung zu arbeiten hat.
    Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk Linken-Fraktionschef Gregor Gysi. Danke für das Gespräch.
    Gysi: Bitte schön!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.