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Kolloquium in Paris
Wie essentiell ist die Kultur?

Kultur ist ein erfolgreicher Wirtschaftszweig, sie ist unverzichtbar für die Gesellschaft und wird dringend gebraucht für die Erziehung des Individuums jenseits einer menschenfeindlichen Konsumlogik: Ein Kolloquium in Paris lieferte gute Argumente als Rüstzeug für den Dialog mit der Politik.

Von Eberhard Spreng |
February 20, 2021, Brussels, Belgium: Demonstration of the world of culture for the reopening after almost one year of closure because of Covid-19. Brussels Belgium -
Die Kultur macht kreativ auf sich aufmerksam, würde aber lieber wieder stattfinden (IMAGO / ZUMA Wire / Arnaud Brian)
Was ist das genau, was uns fehlt, wenn die Theater geschlossen sind? Was ist die "Seelennahrung", die uns vorenthalten wird? Der Autor und Neurologe Pierre Lemarquis hat verschiedene Bücher über die Verknüpfungen zwischen Gehirn und Kunst geschrieben.
"Unser Gehirn erfasst Informationen über alles, was uns umgibt, vergleicht sie mit unseren Erinnerungen und erlaubt uns zu handeln. Das ist seine apollinische, rationale Seite. Und das kann auch ein Computer. Aber glücklicherweise gibt es eine ältere und interessantere Seite, die dionysische Dimension. Da geht es um Freude und Belohnung. Die Künste formen dieses Gehirn und bereiten ihm gleichzeitig Freude. Und damit schafft es die Voraussetzungen dafür, dass wir am Leben bleiben wollen. Es gibt also eine Seite des Gehirns, die uns sagt, was wir tun müssen, um zu überleben und eine, die uns Lust macht, überhaupt zu leben."

Kultur wirkt wie Liebe, Glück und Schlaf zusammen

Lemarquis schilderte, was Kultur genau mit uns anstellt: Sie aktiviert das Glückshormon Dopamin, das Antidepressivum Serotonin, körpereigenes Morphin, das uns einen freudigen Schauder bereitet und körperliche Schmerzen lindert, ja sogar das Liebeshormon Oxytocin. Eine Psychiaterin erzählte auf dem Panel über 'die Rolle der Kultur bei der Konstruktion des Individuums', dass sie seit kurzem in ihrer Klinik zahllose neue Patienten behandelt, die noch nie psychische Probleme hatten. Kunst heilt, waren sich die Wissenschaftler einig und zitierten aus einer vor wenigen Jahren erschienenen Studie der WHO über die gesundheitlichen Wohltaten der Künste.
Einen argumentativen Werkzeugkasten zusammenstellen, um in der Debatte für die Notwendigkeit von Kultur auch in Pandemiezeiten besser gerüstet zu sein: Das kündigte der Veranstalter zu Beginn dieses Kolloquiums an, das sich der Bedeutung von Kultur auf individueller, gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Ebene widmete. Kultur kostet, das hören die Kulturschaffenden immer wieder. Die erste Kulturministerin in der Regierung von François Hollande mochte das in der Debatte um Kulturfinanzierung nicht so stehen lassen:
"3,2 % des Bruttoinlandsproduktes kommen aus der Kultur, 800.000 Jobs schafft sie. Für unser Land bedeutet Kultur Reichtum und ist nicht einfach nur eine Ausgabe."
Blick in den Saal des Opernhaus im Staatstheater Nürnberg - die Ränge sind leer.
Kultur in der Coronakrise - "Die Branche stirbt" Die Kreativwirtschaft ist laut einer Studie mit Umsatzeinbußen von über 30 Prozent stärker von der Corona-Krise betroffen als der Tourismus oder die Autoindustrie. Massive Hilfszahlungen vom Bund seien unerlässlich, sagte der Komponist Matthias Hornschuh im Dlf.

Kunst erzieht gegen die entmenschlichte Konsumgesellschaft

In einem Panel über Fragen der Stadtentwicklung wurde ebenfalls der Beitrag der Kultur betont. Die Kommunalpolitikerin Florence Portelli sieht sie aber insbesondere als zwingend notwendigen Teil der Bevölkerungspolitik:
"Bevor wir an die Entwicklung der Städte und Gemeinden denken, sollte uns die Entwicklung der Menschen am Herzen liegen. Das ist entscheidend in einer Zeit, in der viele Kinder überhaupt keine Freundschaften mehr aufbauen können, mit anderen nicht mehr zurechtkommen, keine Empathie empfinden und den Schmerz der anderen gar nicht mehr verstehen. Und all das, weil sie sich sehr früh an Videospiele gewöhnen und an deren brutale Unmenschlichkeit. In unserer entmenschlichten Konsumgesellschaft müssen die Kinder schon in frühen Jahren eine künstlerische Erziehung bekommen, sonst sind wir alle verloren."
Bildung der Herzen - Stiftung von Gemeinschaft. Das ist die tägliche Arbeit für Hortense Archambault, die in einer Pariser Banlieue, in der viele Menschen mit Migrationshintergrund leben, ein Theater leitet.
"Beim Schauen auf Kunst sind wir gleich. Deshalb ist sie für uns alle konstituierend, wenn wir den Traum einer egalitären Gesellschaft in uns tragen."

Die Kultur nicht den Händlern überlassen

Es braucht eine Renaissance der Kultur, forderte der wohl berühmteste europäische Kulturpolitiker der letzten Jahrzehnte, Jack Lang:
"Der Staat muss wieder der Staat werden. Und Impulse setzen, und mit Elan Neues entwickeln und Kraft haben für die Umsetzung. Ich sehe doch, dass man den audiovisuellen Industrien immer mehr Herrschaft zugesteht, bis zum Monopol. Unser Kulturministerium ist ausgehöhlt. Schon seit vielen Jahren. Wir müssen ihm seine Seele, Energie und Handlungsfähigkeit zurückgeben. Wir dürfen die Kultur nicht den Händlern überlassen. Lasst uns erfinderisch sein und kämpferisch!"
Das Pariser Symposium wies nach, dass Kultur eine große Wirtschaftsbranche, eine notwendige Hilfe für die Entwicklung von Kommunen und Regionen ist, und unverzichtbar für die Formung von Gesellschaft und Individuum. Sie befreit uns aus dem Gefängnis unseres eigenen Selbst und eröffnet Möglichkeitsräume mit dem Blick in die Zukunft. In besseren Zeiten waren das alles Binsenweisheiten. Aber nach einem Jahr Berufsverbot war das Kolloquium über die Notwendigkeit von Kultur in dieser gebündelten Form eine erfrischende Gedächtnisstütze fürs Gespräch mit Corona-Politikern.