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Kolumbien
Nähkasten der Erinnerung

Nach einem halben Jahrhundert des bewaffneten Konflikts herrscht offiziell Frieden in Kolumbien. Doch die Mehrzahl der Täter läuft frei herum. Eine Gruppe von Frauen trifft sich seit fünf Jahren. Sie sind die Mütter von Ermordeten. Sie nähen Figuren auf Stoffe und klagen mit ihren Handarbeitsbildern unermüdlich an.

Von Olaf Nussbaum | 08.04.2017
    Eine Frau sammelt am 25.11.2015 in dem kolumbianischen Dorf Vereda Boqueron nach einem Essen die Töpfe wieder ein. Das weiße Kreuz ist Mittelpunkt des Ortes. Der Krieg hatte die 55 Familien des kolumbianischen Dorfes der Heimat beraubt, 2004 flüchteten die Letzten, nachdem die Rebellen ihnen einen Tag zum Verlassen der Häuser gegeben hatten. 18 Familien kehren nun in ihr Dorf zurück.
    Kolumbiens Kriegsopfer kehren heim. (dpa / Georg Ismar)
    Eine lange rote Stoffbahn wird in einzelne Stücke aufgetrennt. Ein Dutzend Frauen haben sich am frühen Nachmittag in der Bibliothek im "Zentrum für Erinnerung, Frieden und Versöhnung" in Bogotá getroffen. Jede von ihnen bekommt ein Stück Stoff. Lilia Yaya steht auf und hält ihr Stück hoch:
    "Wir legen uns den Stoff zu einem Rechteck zurecht. Und wir lassen oben fünf Zentimeter frei. Da schlagen wir den Stoff um und nähen ihn fest. Da kommt dann später ein Holzstab rein. Daran können wir den Stoff in den Ausstellungen aufhängen. Das Thema heute: der 9. April, der Tag der Opfer."
    Über 90 Prozent der Täter laufen frei herum
    Seit fünf Jahren gibt es den "Nähkasten der Erinnerung". Die Frauen verbindet ein ähnliches Schicksal: Meist wurden ihre unschuldigen Familienangehörigen außergerichtlich hingerichtet. Bis heute sind noch weit über 90 Prozent der Täter auf freiem Fuß. Auch der Mann, der 1989 Lilia Yayas Vater, einen Gewerkschaftsführer, ermordet hat:
    "Dies ist ein politischer Raum des Widerstandes gegen das Vergessen und die Straffreiheit. In diesem Raum wollen wir unsere eigenen Fälle sichtbar machen. Jetzt könnten Sie sagen: Wir sind nur harmlose Frauen. Aber wir gehen unseren Weg, Schritt für Schritt, Naht für Naht. Wir rekonstruieren die Geschichte, die sich nicht in den Schulbüchern findet."
    Die Frauen erzählen zuerst ihre eigenen Geschichten und die ihrer Familienangehörigen, später thematisieren sie auch den Frieden. Sie schneiden Figuren und Bäume aus und nähen sie auf die Stoffleinwand. Auf einem Bild sind in der Landschaft verstreute Leichen von jungen Männern zu sehen, auf einem anderen ein Bergfriedhof.
    Mehrere Mitglieder der FARC-Guerilla in Kolumbien machen sich auf den Weg in von der UNO überwachte Zonen, wo sie ihre Waffen abgeben sollen.
    Mehrere Mitglieder der FARC-Guerilla in Kolumbien machen sich auf den Weg in von der UNO überwachte Zonen, wo sie ihre Waffen abgeben sollen. (afp / Luis Robayo)
    Unschuldig zwischen die Fronten geraten, bedroht und mehrfach vertrieben
    Adonay Tique vom Indianerstamm der Pijaos hat ihr verlorenes Paradies genäht, ihren Heimatort im Bundesland Tolima. Ein Haus mit Tieren in einer trügerischen Idylle. Denn Tiques Schwager geriet unschuldig zwischen die Fronten von Guerilla-Kämpfern und Paramilitärs und wurde ermordet.
    "Drei Tage nach der Beerdigung meines Schwagers haben wir schriftliche Morddrohungen bekommen: ‚Haut ab! Oder ihr seid auch bald tot!‘ Am nächsten Tag bin ich früh aufgestanden und habe meine Hühner und meine Schweine verschenkt. Ich hatte Angst um meine vier Kinder – die waren damals dreizehn bis siebzehn Jahre jung – und habe meiner Mutter gesagt: ‚Wir gehen!‘ Zwei Jahre haben wir in Soacha bei Bogotá gelebt. Und dann kamen die Paramilitärs. Da wurden wir zum zweiten Mal vertrieben. Diese schrecklichen Vertreibungen haben eine unheilbare Wunde in mir erzeugt."
    Der "Nähkasten der Erinnerung" habe ihr die Kraft gegeben, über ihren Fall überhaupt zu sprechen, und ihr Handarbeitsfähigkeiten vermittelt. Einige ihrer Nähbilder und auch Stoffschildkröten verkauft sie nun. Die meisten Teilnehmerinnen sind so arm, dass sie kaum das Busticket zum "Nähkasten" bezahlen können. Aber das Projekt bedeutet ihnen viel. Auch wenn der Treffpunkt, das "Zentrum für Erinnerung", eine vom Staat mitfinanzierte Einrichtung(*) ist und die angeprangerten Menschenrechtsverletzungen teilweise den Charakter von systematischen Staatsverbrechen haben.
    Angehörige geben Präsidenten Mitschuld an Ermordung von 3000 Männern
    Dem jetzigen Präsidenten Juan Manuel Santos geben die Frauen eine Mitschuld an der Entführung und Ermordung von etwa 3000 Jugendlichen und jungen Männern besonders in den Jahren 2002 bis 2008. Kolumbianische Soldaten behaupteten, bei den Toten handele es sich um im Kampf gefallene Rebellen, und kassierten dafür Belohnungen. Ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Einer der Ermordeten war der Bruder von Jacqueline Castillo. Damals war Santos Verteidigungsminister. Jetzt ist er Friedensnobelpreisträger. Jacqueline Castillo kann es nicht fassen:
    "Für uns ist es sehr traurig zu beobachten, wie Santos versucht hat, seine Hände in Unschuld zu waschen, so als ob er außen vor wäre. Es ist doch absurd zu glauben, dass jemand, der Oberbefehlshaber der Streitkräfte war, nicht mitbekommen hat, was da passiert ist. Es waren so viele Menschen in diese Sache verwickelt. Entweder sind das alles Komplizen oder Dummköpfe."
    Morddrohungen gegen die Mütter der Ermordeten
    María Doris Tejada näht eine Bordüre in ihren roten Stoff. Auch ihr Sohn war ein sogenannter "falscher Positiver", ein junger Mann, den Soldaten ermordet und zum getöteten Rebellen umdeklariert haben, um unter anderem längeren Urlaub zu erhalten. Ihr Sohn liegt noch in einem Massengrab im Bundesland Cesar. Tejada lebt in Girardot, viereinhalb Stunden mit dem Bus von Bogotá entfernt. Sie kommt trotzdem jede Woche.
    "Der Fall meines Sohnes ruht gerade zusammen mit anderen Fällen. Die Angeklagten haben in den Anhörungen immer wieder darum gebeten, das Verfahren zu verschieben, weil sie selbst oder ihre Mütter angeblich krank sind oder weil ihr Nachbar Kopfschmerzen hat. Deshalb erscheinen sie einfach nicht vor Gericht. Das ist eine Farce."
    Aber die Frauen verarbeiten weiter nähend ihre Traumata und klagen mit ihren Handarbeitsbildern unermüdlich an. Einige der Näherinnen haben Morddrohungen erhalten. Hat María Doris Tejada da nicht Angst, dass auch sie, wie ihr Sohn, umgebracht werden könnte? Während sie antwortet, führt sie sehr ruhig Nadel und Faden durch den Stoff:
    "Angst? Nein. Die Täter sollten Angst haben und zittern."

    (*) Anmerkung der Redaktion: An dieser Stelle wurde die Organisationsform des Zentrums für Erinnerung korrigiert.