„Zeig ihnen DAS. Sollen sie ihr Zaudern bei diesen Bildern erklären“, schrieb meine Mutter mir per WhatsApp. Anbei ein Video aus Mariupol. Frauen schreien die Namen ihrer Liebsten vor einem zerstörten Gebäude. Eltern bringen blutige Bündel im Laufschritt in ein Krankenhaus. Säuglinge werden wiederbelebt. Ärztinnen weinen. Eine Frau sitzt über der Leiche ihres Sohnes und schreit: „Warum? Warum? Warum?“
Ich kann das nicht retweeten. Kann ich das wirklich meinen 200.000 Followern antun, so etwas unvorbereitet zu sehen? Ich weiß, dass der Krieg in der Ukraine für viele weit weg ist. Ich weiß, dass viele meinen, teureres Benzin sei der Untergang unserer Wirtschaft. Menschen könnten arbeitslos werden. Wäre es nicht notwendig, ihnen vor Augen zu führen, was die Konsequenzen des Zögerns ihrer Regierung in Sachen Waffenlieferungen und Energiezahlungen bei realen Menschen anrichten?
Bilder toter Kinder retraumatisieren
Dann wiederum ist es in dieser schweren Zeit unser aller Aufgabe, psychisch gesund zu bleiben. Wenn mir ohne Vorwarnung beim Durchscrollen meines Feeds Bilder toter Kinder unter die Augen kommen, retraumatisiert mich das. Es macht mich arbeitsunfähig.
Was ist mit all jenen, die die Bilder wirklich nicht sehen sollten? Wirklich nicht verkraften? Mehr noch, was passiert, wenn es so viele davon gibt, dass Menschen abstumpfen? Dass sie komplett aufhören, Nachrichten zu konsumieren? Einfach, um sich zu schützen? Sascha Lobo sagte in seinem Podcast „Feel the News“ dazu: „Wenn man die Bilder nur zeigt, wo man sie erwartet, gibt es zu viele Menschen, die so tun können, als sei nichts.“
Wir wissen aus der Geschichte, dass es gerade Fotographien sind, die Menschen nicht nur das Wesen des Kriegs vermitteln können – sondern sogar die Macht haben, die Geschichte zu beeinflussen.
Ohne die Fotos aus Konzentrationslagern wäre das Leugnen des Holocausts leichter gewesen. Das Foto der vierjährigen Phan Thi Kim Phúc, die mit verbranntem Rücken nackt aus ihrem Dorf rennt, trug stark zur Antikriegsbewegung bei, die letztlich half, den Vietnamkrieg zu beenden. Das Foto des ertrunkenen dreijährigen Alan Kurdi ging um die Welt und trug zu empathischerem Umgang mit geflohenen syrischen Familien bei. Bilder haben diese Macht, gerade weil sie bei uns bleiben. Weil sie sich in unsere Köpfe brennen und uns eine Geschichte erzählen.
Warnung vor drastischen Bildern
Es ist ein schwieriges Spannungsfeld, das aufgemacht wird. Ich habe eine Umfrage unter meinen Followern gemacht, ob ich sowas retweeten soll. Zwei Drittel haben sich dafür ausgesprochen. Ein Drittel dagegen. Die Kommentare forderten größtenteils, solche Bilder als sensibel zu kennzeichnen, aber zu teilen. So sieht man sie nur nach einer Warnung, wenn man weiß, dass man sie ertragen kann. Ich halte es für klug und handhabe es auch so.
Mein Foto nutzen, um Mitmenschen zu retten
Aber was ist mit der Würde der darauf gezeigten Menschen? Ist das Teilen dieser Bilder aus ihrer Sicht überhaupt moralisch? Dazu gibt es verschiedene Meinungen und keine eindeutige Antwort. Angehörige gehen sehr verschieden damit um. Ich persönlich denke nicht, dass das Foto eines toten Kindes ihm seine Würde nimmt. Ich denke, es nimmt die Würde derjenigen, die es umgebracht haben. Die Menschen in der Ukraine betteln darum, diese Bilder um die Welt gehen zu lassen. Denn nur die Aufmerksamkeit der Welt kann sie vor Putin schützen.
Ich habe keine fertigen Antworten. Aber sollte ich jemals – G'tt behüte – durch solch eine Grausamkeit sterben, dann möchte ich, dass mein Foto instrumentalisiert wird, um wenigstens meine Mitmenschen zu retten. Darin fände ich meine höchste Würde.
G’tt ist eine Schreibweise für das Wort Gott im Judentum, die darauf abzielt, den Namen Gottes JHWH nicht in eine Form zu bringen, in der er beschmutzt oder zerstört werden kann.