Kommentar
Es lastet eine große Verantwortung auf Frankreichs Wählern

Macrons Entscheidung für Neuwahlen ist richtig. Es ist jetzt an Frankreichs Wählerinnen und Wählern, sich klar zu machen, was ein Wahlsieg der Rechten bedeuten würde und ob sie eine nationalistische Regierung mit einem Anti-EU-Kurs wirklich wollen.

Von Christiane Kaess |
Auf einem TV-Bildschirm verkündet Emmanuel Macron Neuwahlen für Frankreich. Im Vordergrund stehen Mitglieder der rechten Reconquête-Partei und reagieren, teils mit ernsten Gesichtern, teils lachend.
Mitglieder der rechten Reconquête-Partei reagieren, als Präsident Emmanuel Macron Neuwahlen ankündigt. (AFP / Ian Langsdon)
Die Entscheidung von Emmanuel Macron, die Nationalversammlung aufzulösen, ist richtig. Auch wenn sie verheerende Folgen für Frankreich, seine Partner und die EU haben kann. Ob es so kommt oder nicht, liegt jetzt in den Händen der französischen Wählerinnen und Wähler.
Der französische Präsident und das Regierungslager seiner Partei haben in der Nationalversammlung keine absolute Mehrheit. Deshalb regieren sie seit dem Beginn von Macrons zweiter Amtszeit gegen jegliche denkbaren Widerstände: Für umstrittene Reformen wie die des Rentensystems finden sie keine Mehrheiten. Das Gesetz dann ohne ein Votum der Abgeordneten durchzudrücken, provoziert die Wut auf den Straßen des Landes.

Konsequente Entscheidung

Die Blockadepolitik der Opposition verschärft die Lage. So kann man auf Dauer nicht regieren. Nach dem haushohen Sieg des extrem rechten Rassemblement National bei der Europawahl ist Präsident Macron zusätzlich geschwächt. Den Ball jetzt zurückzuspielen an die Wählerschaft ist konsequent.
Dass Macron bei der anstehenden Parlamentswahl eine Mehrheit für seine Politik einfährt, ist unwahrscheinlich. Unklar ist, ob die zerstrittenen linken Parteien eine breite Union zustande bringen und damit einen Sieg des extrem rechten Rassemblement National verhindern können. Im Moment ist leider das wahrscheinlichste Szenario, dass Frankreich bald zum ersten Mal in der Fünften Republik eine extrem rechte Regierung bekommt.
Es ist nicht die Aufgabe französischer Politikerinnen und Politiker, auf Biegen und Brechen eine Brandmauer gegen den Rassemblement National aufrechtzuerhalten, wenn der Wählerwille ein anderer ist. Es ist jetzt an den Französinnen und Franzosen sich klarzumachen, was ein Wahlsieg des Rassemblement National bedeuten würde und ob sie das tatsächlich wollen: eine nationalistische Regierung mit einem EU-feindlichen Kurs, einem rassistischen Menschenbild und wahnwitzigen wirtschaftspolitischen Vorstellungen. Der Abstieg Frankreichs wäre programmiert.
Es ist nicht unmöglich, dass der Rassemblement National in Regierungsverantwortung demaskiert wird – was offenbar zu Macrons Kalkül gehört. Die extrem Rechten müssten sich in einer sogenannten Cohabitation mit einem Präsidenten arrangieren, der ein politischer Gegner ist.
Und wenn sie – wie jetzt die Macronisten – auch nur mit einer relativen statt einer absoluten Mehrheit in der Nationalversammlung regieren müssten, hätten sie die gleichen Probleme: Sie müssten für ihre Politik Mehrheiten finden. Es ist nicht absehbar, ob sich der Rassemblement National in einer solchen Lage eher abnutzen oder an Unterstützung gewinnen würde.
Klar ist aber, dass die Auswirkungen einer extrem rechten Regierung über Frankreich hinausgingen: Die deutsch-französischen Beziehungen, die schon schwierig genug sind, würden einen nie gekannten Tiefpunkt erreichen. Das würde die gesamte EU belasten und das vor dem dramatischen Hintergrund des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine.
Es lastet jetzt also eine große Verantwortung auf den französischen Wählerinnen und Wählern. Man kann nur hoffen, dass sie sich dessen bewusst sind.
Porträt: Christiane Kaess
Christiane Kaess ist Deutschlandradio-Korrespondentin in Frankreich. Sie hat in Berlin Politikwissenschaft studiert und in Amsterdam ein Graduierten-Programm Internationale Beziehungen und European Social Studies absolviert. Sie war vor ihrem Volontariat im Deutschlandradio als freie Autorin tätig und berichtete als Reporterin u.a. aus Zentral- und Ostafrika. Außerdem hat sie als Redakteurin und Moderatorin in der Hauptabteilung Kultur des Deutschlandfunk gearbeitet. In der Abteilung Aktuelles war sie Redakteurin und Moderatorin, u.a. moderierte sie die Sendung „Informationen am Morgen“. Sie war in dieser Zeit regelmäßig als Urlaubsvertreterin und Verstärkung immer wieder auf dem Korrespondentenplatz Paris im Einsatz.