„Europa, das ist übertragen auf einen Fußballklub ein fantastischer Verein mit einer großen Geschichte, mit enthusiastischen Anhängern, und immer vom Abstieg bedroht.“ Martin Schulz, der langjährige Präsident des Europaparlaments, wählt dieses Bild – und die Wahlen in Europa geben ihm recht.
Verein, Geschichte, Anhänger, Abstieg – die Wählerinnen und Wähler haben sich für eine Neusortierung entschieden. Sie haben die Gewichte nach rechts verschoben, und sie haben der AfD im Osten Deutschlands in einem Maße zugesprochen, das nach dem chaotischen Wahlkampf und dem Verdacht gegenüber dem Spitzenpersonal erschrecken lässt.
Die Zuwächse für Rechts in unterschiedlichsten europäischen Färbungen sind immens. Nur: Wie sich diese Zuwächse im Europaparlament in Formationen fügen werden, ist offen. Die Fraktion der europäischen Christdemokraten – die Europäische Volkspartei – hat hinzugewonnen, Sozialdemokraten, Liberale und vor allem Grüne haben deutlich verloren. Die Mitte, so betrachtet, schrumpft.
Wählerinnen und Wähler haben ins Plenum des Parlaments mehr Vertreter von Parteien entsandt, die Europa mindestens skeptisch sehen, wenn nicht gar zurückbauen oder ganz und gar abschaffen wollen.
Le Pen und Meloni könnten Bündnis eingehen
Die europäische parlamentarische Welt sortiert sich frisch. Mitten in dieser Umordnung und Unordnung ist denkbar, dass sich Marine Le Pen in Frankreich und Giorgia Meloni in Italien enger zusammenschließen und für sich die historische Chance ergreifen, ihre Macht auszubauen. Weil die anderen Parteien unter anderem mit ihrer Migrations- und Klimapolitik ein Vakuum geschaffen haben. Weil die sich aufhellende wirtschaftliche Stimmung der Eurozone viele Bürger nicht erreicht, das Wohlstandsversprechen wankt.
In den USA sitzt dem Amtsinhaber Joe Biden Donald Trump im Nacken. Bundeskanzler Olaf Scholz hat eine anhaltend unsortierte Ampelkoalition zu bändigen, und in Frankreich muss Präsident Emmanuel Macron damit rechnen, dass auf ihn Marine Le Pen folgt.
Bei allen Schwächen ist EU eine Erfolgsgeschichte
Halten wir fest, dass neben diesen düsteren Momenten ein Licht zu sehen ist: Die Wahlbeteiligung ist historisch stark, das ist gut. Die wachsende Anzahl von Problemen, die auf nationaler Ebene nicht mehr gelöst werden können, sind das beste Argument für Europa. Die Geschichte dieses Kontinents ist es allemal. Viel zu schnell wird vergessen, was für ein Erfolg diese Geschichte Europas bei allen Schwächen ist, und wie unwahrscheinlich ein solches Bündnis zwischen verfeindeten und kriegsführenden Nationen einst war, und welche innere Kraft darin vorhanden ist.
Schauen wir von außen auf diesen Kontinent, in dem der russische Angriffskrieg in der Ukraine weiterhin alle gemeinsame Kraft erfordert. Der amerikanische Autor Steven Hill tut dies, wenn er sagt: „Am Ende des Tages haben die Europäer einen ziemlich erstaunlichen Ort geschaffen, etwas, von dem wir bisher nicht herausgefunden haben, wie wir es in den USA erreichen können.“