Donnerstag, 02. Mai 2024

Kommentar: Polen nach der Wahl
Ein Vorbild für Europa

Nein zu Hass und Angstmache sowie eine sehr hohe Wahlbeteiligung führten zur Abwahl der PiS-Regierung in Polen, meint Johanna Herzing. Ein Lehrstück in Demokratie, das Menschen auch andernorts interessieren sollte.

Ein Kommentar von Johanna Herzing | 21.10.2023
Parlamentswahlen in Polen am 15. Oktober 2023.
74 Prozent der wahlberechtigten Polinnen und Polen wollten mitentscheiden, welche Richtung ihr Land künftig einschlagen wird. (IMAGO / Eastnews / Artur Barbarowski)
Die PiS, zu deutsch „Recht und Gerechtigkeit“, hat sich dramatisch verrechnet und die Polinnen und Polen haben Europa und wohl auch sich selbst überrascht: Diese Wahl war eine demokratische und europäische Sensation und sie war ein Lehrstück, das Menschen auch jenseits von Polen interessieren sollte. Warum?
Zum einen, weil Europa mit einer neuen polnischen Regierung wieder deutlich handlungsfähiger werden dürfte. Polen ist der größte mittelosteuropäische EU-Staat. Gelingt es der polnischen Opposition, die Geschäfte in Warschau zu übernehmen – und dafür werden die relevanten Parteien vermutlich alles tun – dann wird Polen als häufiger Blockierer bei der europäischen Kompromissfindung wegfallen. Der polnisch-ungarische Schulterschluss ist dann Geschichte.

Höhere Wahlbeteiligung als 1989

Und damit wären wir auch schon beim „Lehrstück“. Die polnische Wahl zeigt, wie Parteien, wie Bürgerinnen und Bürger in Europa Rechtspopulismus und autokratischen Tendenzen entgegenwirken können, nämlich erstens mit Mobilisierung:
74 Prozent der wahlberechtigten Polinnen und Polen wollten mitentscheiden, welche Richtung ihr Land künftig einschlagen wird. Nicht mal 1989 sind so viele Menschen zur Urne gegangen. Bei der PiS hat man das nicht kommen sehen. Die regierende Partei hat sich auf ihre Stammwählerschaft und fatalerweise auf politisches Desinteresse verlassen.
Dass es einen starken Wunsch nach einem deutlichen Kurswechsel gibt, hat die PiS im wahrsten Sinne des Wortes ausgeblendet. Die zwei riesigen Demos der Opposition im Vorfeld der Wahl fanden im regierungsgesteuerten und seit Jahren nur noch grotesken Programm der staatlichen Medien kaum Erwähnung. So ist die PiS Opfer ihrer eigenen verzerrten Weltsicht und Hetze geworden. Gerade auch junge Wählerinnen und Wähler hat die PiS nur noch abgeschreckt und gleichzeitig ungewollt politisiert.
Zweitens lässt sich ableiten: Es braucht ein klares, schlichtes und gutes Gegenangebot: Die regierende Partei in Polen hatte im Wahlkampf wenig anzubieten außer Hass und Angstmache. Angst vor allem: vor Ausländern und Migranten, vor Deutschland, vor Russland, vor Europa, vor Veränderung und vor der Zukunft. Die Opposition hat sich davon nicht provozieren lassen, hat den Wettbewerb nach unten ausgeschlagen.
Stattdessen: Ja, so einfach ist es: Herzen! Auf Stickern, Plakaten, als Demonstrationsmotto: Der sogenannte „Marsch der Millionen Herzen“ in Warschau kurz vor der Wahl hat das Bild eines ganz anderen Polens als das der PiS entworfen: ein optimistisches, der Zukunft zugewandtes, solidarisches Land. Die Opposition hat auf die Hoffnung auf Veränderung gesetzt. Das ist ein unwahrscheinlich starkes Motiv und Versprechen.

Mögliche Regierung Tusk vor Mammutaufgabe

Die politische Realität nach einer Regierungsbildung aber entspricht selten Idealen. Und das wird die Mammutaufgabe für eine mögliche Regierung unter mutmaßlich Donald Tusk sein: Spürbar Veränderung zu schaffen und gleichzeitig zu erklären, was nicht kurzfristig machbar ist. Kommt die Opposition in Regierungsverantwortung, dann erbt sie von der PiS einen deformierten Staat.
Der Rechtsstaat wurde völlig ausgehöhlt, die staatlichen Medien zu Propagandainstrumenten gemacht, eine enorme Vetternwirtschaft gezüchtet, gesellschaftliche Gruppen wurden an den Rand gedrängt und diskriminiert. Wenn man an die Frauen und das rigide Abtreibungsrecht denkt, dann ist es keine Übertreibung zu sagen: Ihr Leben wurde aufs Spiel gesetzt.

In Ministerien und Behörden wird geschreddert, was das Zeug hält

Die Opposition hat versprochen, die Ärmel hochzukrempeln und in Ordnung zu bringen, was die PiS in den vergangenen acht Jahren, ja, man muss es so sagen, verbrochen hat. Doch wie lange dauert die Reparatur eines Rechtsstaats mit legalen Mitteln? Und wie entzieht man sich dem Vorwurf einer Hexenjagd und persönlichen Abrechnung?
In den Ministerien, Ämtern und Behörden, so berichten es viele polnische Stimmen in den sozialen Netzwerken, da wird in diesen Tagen geschreddert und versteckt, was das Zeug hält. Gleichzeitig gibt es öffentliche Aufrufe zum Whistleblowing, Informationen über Rechtsbrüche der PiS an Medien und die Opposition weiterzugeben.
Recht walten zu lassen und die gesellschaftliche Spaltung dabei nicht weiter zu vertiefen – das wird ein politischer Kraftakt. Viele Partnerländer Polens und die EU werden so schlau sein, das wo immer möglich zu unterstützen. Und viele andere Regierungen und Parteien werden sich an die polnische Wahl erinnern, wenn sie selbst im eigenen Land gegen Rechtspopulisten antreten.
Johanna Herzing (Deutschlandfunk – Hintergrund)
Johanna Herzing studierte Osteuropäische Geschichte und Kulturwissenschaften an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) und der Universität Warschau. Stationen u. a. in verschiedenen Online-Redaktionen, Volontariat beim Deutschlandradio. Seit 2011 als Redakteurin, Moderatorin und Autorin in der Abteilung "Hintergrund" beim Deutschlandfunk. Alumna des Marion Gräfin Dönhoff-Journalistenstipendiums und des EU Journalism Fellowship in Brüssel.