Samstag, 27. April 2024

Kommentar zur Migrationspolitik
Keine Scheu vor unpopulären Entscheidungen

Die etablierten Parteien befinden sich in einer Abwärtsspirale, die AfD in einem Allzeithoch. Dafür verantwortlich sei eine verfehlte Migrationspolitik, kommentiert Dirk Birgel von den "Dresdner Neuesten Nachrichten". Er rät zu unpopulären Entscheidungen.

Ein Kommentar von Dirk Birgel, "Dresdner Neueste Nachrichten" | 23.09.2023
Nancy Faeser (SPD), Bundesministerin für Inneres und Heimat, spricht im Plenum des Bundestags.
Die Opposition attackierte Innenministerin Nancy Faeser (SPD) am 22.September 2023 ungewöhnlich scharf für ihre Migrationspolitik. Auch der Journalist Dirk Birgel plädiert für eine Wende. (picture alliance / dpa / Kay Nietfeld)
Kann etwas ein Schock sein, wenn man damit rechnen musste? Viele Journalisten titelten jedenfalls jüngst „Umfrageschock“, als das Meinungsforschungsinstitut INSA bei der sogenannten Sonntagsfrage bundesweit 23 Prozent für die AfD ermittelte. Wenn also diesen Sonntag Bundestagswahl wäre, würde fast jeder vierte Wahlberechtigte sein Kreuz bei den Rechtspopulisten machen. In Sachsen wären es mehr als ein Drittel, im gesamten Osten ist die AfD im Spiegel der Demoskopie derzeit stärkste politische Kraft.
Die Ursache für den starken und seit Monaten stetig wachsenden Wert, da sind sich alle einig, ist vor allem die Flüchtlingspolitik. Viele Menschen in Deutschland trauen den etablierten Parteien nicht mehr zu, die Krise in den Griff zu bekommen. Die Grenze der Belastbarkeit ist vor allem in den Kommunen erreicht. Aber noch viel zu zögerlich nennen die etablierten Parteien die Probleme beim Namen – geschweige denn, dass sie Lösungen anbieten würden, die diese Bezeichnung verdienen.

Migrationspolitik wird zum Spaltpilz in der EU

Die Aufteilung der Flüchtlinge innerhalb der EU funktioniert nicht. Und das ist die Krux. Die Migrationspolitik erweist sich immer mehr auch innerhalb der EU als Spaltpilz. Je mehr Boatpeople über das Mittelmeer kommen, desto größer werden die Fliehkräfte innerhalb der Gemeinschaft der 27. Infolgedessen begehren mehr und mehr Menschen Schutz und Asyl in Deutschland. Es sind mittlerweile zu viele. Und obendrein finden von denen, die zu uns kommen, zu wenige einen Zugang zum Arbeitsmarkt.
Im Ergebnis steht unsere Gesellschaft gerade vor einer Zerreißprobe. In Krisenzeiten jedoch ist es angezeigt, das alte Spiel von Regierung und Opposition einzustellen. Da gehören alle demokratischen Kräfte an einen Tisch, um einen Weg in die Zukunft zu finden.

Kubicki: „Die Politik der offenen Arme ist gescheitert“

Leichter gesagt als getan, wie ein Blick auf die Parteien der demokratischen Mitte zeigt. Die SPD von Olaf Scholz ist seit Gerhard Schröder immer weiter nach links gerückt, der Kanzler selbst hat mit der Ampel eine schwierige Koalition zu führen, taktiert mehr, als dass er entschlossen handelt. Wer in den letzten Tagen das Hin und Her in der Debatte um die Grenzsicherung verfolgt hat, wird kaum darauf vertrauen, dass die jetzige Regierung das Problem in den Griff bekommt.
Davon müsste eigentlich die CDU als größte Volkspartei in der Opposition profitieren. Aber erstens hat die Krise 2015 mit Angela Merkels „Wir schaffen das“ ihren Anfang genommen, und zweitens gehen auch in der Union die Meinungen zum Teil weit auseinander. Auch Friedrich Merz ist als Parteichef in der Flüchtlingsfrage schon öfter zurückgerudert. Am klarsten hat es bislang FDP-Vize Wolfgang Kubicki ausgedrückt, als er sagte: „Die Politik der offenen Arme ist gescheitert.“

An Dänemarks Sozialdemokraten orientieren

Diese drei Parteien hätten aktuell im Bundestag übrigens eine Zweidrittelmehrheit, könnten also die Verfassung ändern. Aber für einen breiten gesellschaftlichen Konsens muss man auch die Grünen ins Boot holen. Und die tun sich in der Flüchtlingsfrage am schwersten, sind sie es doch, die sich Humanität ganz groß auf die Fahne geschrieben haben. Kürzlich erst scheiterte der Versuch, mehr Staaten als sichere Herkunftsländer zu deklarieren, wieder einmal an den Grünen.
Alle Parteien der demokratischen Mitte eint, dass sie sich in einer Abwärtsspirale befinden. Wenn sie sich keinen Ruck geben und die Probleme anpacken, die den Menschen in Deutschland Sorge bereiten, dann kann sich die AfD entspannt zurücklehnen und auf die nächste Umfrage warten. Wer die unkontrollierte Einwanderung stoppen will, der darf unpopuläre Entscheidungen nicht scheuen. Warum wollen so viele Menschen nach Deutschland? Die beiden wichtigsten Gründe sind die üppigen Sozialleistungen und der de-facto-Schutz vor Abschiebung. Hier muss man ansetzen.
In Dänemark haben die Sozialdemokraten gezeigt, dass sich die Probleme lösen lassen. Rückkehrzentren für abgelehnte Asylbewerber, Sach- statt Geldleistungen, Sonderstaatsanwälte in Problembezirken und Kitapflicht für Migrantenkinder. Damit haben sie Vertrauen zurückgewonnen und den Rechtspopulisten das Wasser abgegraben. Dieses Beispiel sollte den Verantwortlichen in Deutschland Mut machen.
Dirk Birgel, Chefredakteur Dresdner Neueste Nachrichten
Dirk Birgel, Jahrgang 1966, studierte Journalistik und volontierte bei der "NRZ", "Neue Rhein-Zeitung". Er war bis Mitte 1993 freier Mitarbeiter der "Westfälischen Rundschau" in Dortmund, ab Juli 1993 Rathaus-Reporter der "Dresdner Morgenpost", wo er ab September stellvertretender Lokalchef war. Im Oktober 1994 wechselte er als Korrespondent zur "Leipziger Volkszeitung". Im Juli 1995 wurde er stellvertretender Chefredakteur der "Dresdner Neueste Nachrichten", im April 1998 ging er als Lokalchef zur "Kölnische Rundschau". Seit Februar 1999 ist Birgel Chefredakteur der "Dresdner Neueste Nachrichten".