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Konsumgesellschaft
Patina - die Zukunft der Endlichkeit

Wenn in einer Gesellschaft der Markt im Mittelpunkt steht, geht es nicht mehr um den Gebrauchswert der Dinge, sondern um deren Erwerb. Aus diesem Grund hat sich die Konsumgesellschaft zur Wegwerf- und Vermüllungsgesellschaft gewandelt. Ihr melancholisches Antidot ist die Patina, in der sich das Bedauern über diesen Skandal ausdrückt.

Von Thomas Palzer |
    Drei alte Stahlrohrstühle stehen in einem alten Wartezimmer
    Patina als melancholischer Gegenpart zur Konsum- und Wegwerfgesellschaft (Imago)
    Patina träumt vom lebenslangen Gebrauch über Generationen hinweg und opponiert so gegen die Vergottung des Neuen, dessen einzige Qualität im Verlust besteht: dem Verlust des Alten. Darin finden wir die geheime Botschaft der Patina, die natürlich ihrerseits längst in den Markt eingepreist ist.
    Versteht man unter Konsum nicht den Erwerb, sondern - im zutreffenden Sinn - den Verbrauch beziehunsgweise Verzehr von Gütern, dann sind die Verhältnisse, in denen wir leben, gerade nicht die einer Konsumgesellschaft, weil eine solche den Gebrauchswert ihrer Produkte respektieren und bewahren würde, statt sie als Müll zu entsorgen.
    Mit der Patina wird daran erinnert, dass es einmal eine Welt gegeben hat, deren Konsumgüter nicht auf Anhieb zu potentiellem Müll degeneriert sind - und daran, dass unsere Zukunft, wenn überhaupt, in genau dieser Vergangenheit liegt.
    Thomas Palzer, geboren 1956, studierte Philosophie und Germanistik in München und Wien. Er ist Autor, Essayist, Journalist, Schriftsteller, Filmemacher und Hörfunksprecher. Zuletzt erschien 2014 bei Ars Vivendi sein Roman "Nachtwärts".

    Patina - die Zukunft der Endlichkeit
    Von Thomas Palzer
    "Nostalgie - das ist eine Art Heimweh, das die Vergangenheit verklärt. Die industrielle Nostalgie findet auf den Flohmärkten statt."
    Mit Heimweh sind eben nicht nur wir vertraut - auch die Objekte, mit denen wir uns umgeben, sind es. Wenn Dinge nostalgisch werden, erkennen wir das an einem bestimmten Glanz; an einer etwas altmodisch anmutenden Ausstrahlung; an einer hauchdünnen Firnis, die aussieht, als hätte sich die Zeit an der Oberfläche materialisiert.
    "Das Heimweh der Dinge nennen wir 'Patina'."
    "Erst seit circa 300 Jahren werden Gegenstände, die über eine besondere Patina verfügen, wertgeschätzt - allerdings aus wechselnden Gründen. Heute, wo kein Gegenstand mehr uneingepackt in die Hände von Konsumenten gelangt, hat es mit der Patina seine eigene Bewandtnis."

    Flohmärkte und Speicher sind die bevorzugten Orte, wo wir auf Dinge treffen, die Patina haben - in Aufbewahrungsdeponien also, die zusammen mit den Museen das exakte Pendant zu den Mülldeponien darstellen, Narben gleichsam, die das Gesicht der Erde verunstalten.
    Trödel steht auf einem Tisch
    Allerlei Trödel beim Hallenflohmarkt - vielleicht ist ein Stück mit Patina dabei? (imago / SMID)
    "I shop therefore I am."
    Passage, Kaufhaus, Shopping-Mall - das sind die Aufbewahrungsdeponien, mit denen der Kapitalismus der Gegenwart seinerseits Flohmarkt, Speicher und Abfalldeponien beerbt.
    "Aufbewahrungs- und Mülldeponien sind wie Fabrik und Warenhaus nur die entgegensetzten Enden ein- und derselben Sache."
    Wir sprechen nach einem Begriff des Philosophen Gernot Böhme vom "ästhetischen Kapitalismus".
    "Der Wille zur Patina ist Zeuge für das Unbehagen im Wohlstand. Ursprünglich herrschte im Verhältnis zwischen Menschen und Dingen Symmetrie. Diese Symmetrie bestand darin, dass das, was individuell hergestellt wurde, auf ebenso individuelle Weise konsumiert wurde."
    Patina ist Ausdruck des Geltungskonsums
    Patina ist das Wort, das auf genau dieses Verhältnis gemünzt scheint. Denn wenn dieses Verhältnis ausgewogen ist und stimmig, dann werden die Dinge mit uns alt, werden von uns gepflegt und instandgehalten, damit wir sie bis zur Neige verbrauchen und verzehren können.
    "Es sind Verhältnisse, die es ab und zu noch auf dem Land gibt oder außerhalb Europas. In ruralen, vorindustriellen Traditionen sind lebenslange Kumpaneien mit den Gegenständen keine Seltenheit."
    Treffen wir heute auf eine solche Kumpanei oder Komplizenschaft "feiert unser nostalgisch borniertes Verständnis diese allerdings prompt als Vorbild des Konsumverzichts, wo sie doch gerade eine solche des geglückten Konsums sind", bemerkt der Kunstsoziologe Walter Grasskamp in einem Essay, der den vieldeutigen Titel trägt: Die Ware Erlösung.
    "Versteht man nämlich unter Konsum nicht den Erwerb, sondern - im zutreffenden Sinn - den Verbrauch bzw. Verzehr von Gütern, dann sind die Verhältnisse ..."
    ... in denen wir leben, nicht die einer Konsumgesellschaft, weil eine solche den Gebrauchswert ihrer Produkte respektieren, optimieren und ausschöpfen würde, statt sie als Müll zu entsorgen.
    "Die Zeugung ist der biologische Ur-Akt jedweder Produktion."
    "Patina kommt also nur in einer tatsächlichen Konsumgesellschaft zustande, genauer: nur dann, wenn Konsumgüter eben nicht auf Anhieb als potentieller Müll betrachtet werden, sondern über Jahre oder Jahrzehnte in Verwendung bleiben. Patina spricht von der Faszination einer Welt, in der die Dinge noch Bedeutung haben."
    "Sie ist Ausdruck des Geltungskonsums."
    "Vor der Massenproduktion, also vor der Entwertung der Dinge durch ihre inflationäre Reproduktion wurde der Gegenstand von einer Person, nämlich dem Handwerker, produziert - und glich in seiner Eigenart und Individualität dem, der den Gegenstand verzehrte oder verbrauchte.
    Diese Ausgewogenheit der Verhältnisse ist durch die industrielle Produktion zerstört worden."
    Neben der Produktion der Sachen ist es aber auch unser Umgang mit ihnen, der tägliche Gebrauch, der sie zu Gliedern und Organen von uns macht. Wir empfinden die Dinge als Extension unserer selbst, als Erweiterung.
    Der Gebrauch des Eigentums hinterlässt Spuren
    "Dinge gehören zu mir - und im nächsten Schritt gehören sie mir."
    Die Sachen werden zu meinem Eigentum.
    "Sachen oder Dinge wachsen allerdings nicht auf Bäumen, von denen sie nur gepflückt werden müssten - zu ihrer Herstellung muss Arbeit aufgewendet werden.
    Nach John Locke und Adam Smith ist ein Ding darum nichts Anderes als ..."
    "... durch Arbeit angeeignete Natur. "
    "Wobei nach Marx gilt, dass der Arbeiter sein Leben in den Gegenstand legt; nun aber gehört es nicht mehr ihm, sondern dem Gegenstand."
    In jenem historischen Augenblick jedenfalls bekommt das Eigentum seine aparte Note. Das Leben des Arbeiters wird zum Eigentum des Gegenstands - und die Arbeit zum Eigentum desjenigen, dem die Produktionsmittel gehören.
    "Der Gebrauch des Eigentums hinterlässt Spuren, Gebrauchsspuren. Nach langen Jahren des sorgsamen Benutzens und Pflegens bildet sich ein Flaum, ein dünnes Häutchen - eben die Patina."

    Ursprünglich stammt der Begriff patina aus dem Lateinischen und bedeutet "Pfanne" oder "Pfannengericht". Daraus ging die Bezeichnung für den Besatz auf Pfannen hervor - und später für den auf metallenen Kochgeschirren überhaupt.
    Der deutsche Philosoph, Schriftsteller und Politiker Karl Marx in einer Aquatinta-Radierung von Werner Ruhner "Karl Marx in seinem Arbeitszimmer in London". Marx verfasste 1848 zusammen mit Friedrich Engels das "Kommunistische Manifest". Er ist der Begründer des modernen dialektisch-materialistischen Sozialismus, des Marxismus, aus dem heraus sich die Sozialdemokratie und der Kommunismus entwickelt haben. Marx wurde am 5. Main 1818 in Trier geboren und starb am 14. März 1883 in London.
    Karl Marx, hier in einer Aquatinta-Radierung von Werner Ruhner "Karl Marx in seinem Arbeitszimmer in London", unterschied bei der Ware Gebrauchswert und Tauschwert. (picture alliance / dpa)
    "Das Wort, das im 18. Jahrhundert nur für den Oxidüberzug auf der Oberfläche von Kupfer und Kupferlegierungen gebraucht wurde, wird später im weiteren Sinne für Edelrost und Alterungserscheinungen auch anderer Oberflächen und Materialien benutzt."
    "Der alte Wortgebrauch hat gewissermaßen Patina angesetzt, ist inzwischen veraltet."
    Heute stellt Patina einen Mehrwert da. Sie kann ein Argument für den Kauf oder Verkauf einer Ware sein.
    "Marx unterschied bei der Ware Gebrauchswert und Tauschwert. Doch inzwischen ist der Tauschwert - also die Attraktivität der Ware auf dem Markt - zum neuen Gebrauchswert geworden.
    Der Tauschwert ergibt sich aus sozialen Beziehungen; und die sozialen Beziehungen diffundieren in die Ware, werden in ihr gleichsam vergegenständlicht."
    "Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, dass sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtheit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis zu Gegenständen."
    Schreibt Karl Marx im Kapital.
    Mit anderen Worten: Die Begierde nach Waren macht blind - so dass im nächsten Zug die soziale Welt nach dem Modell äußerer Gegenstände konzipiert wird, also verdinglicht.
    Es gibt sie noch, die guten Dinge
    "Längst sind alle Bereiche des sozialen Lebens wie Kochen, Kinderbetreuung, Unterhaltung, Freizeitgestaltung ökonomisch erfasst und durchkapitalisiert."
    "Das Geld ist nicht so sehr mehr ein Tauschmittel, um an Waren zu gelangen, als dass vielmehr umgekehrt gilt: Die Ware ist ein Mittel, um das Geld zu vermehren."
    Ein eigentümlicher Vorgang, zu dem der kulturelle Aufstieg der Patina passt.
    "Man denke an den Erfolg von Manufactum, jene Edelladenkette, die sich ironischerweise der Otto-Konzern, ein Versandhaus für Massenartikel, einverleibt hat."
    Patina wertet in einem geradezu alchimistischen Prozess Gegenstände auf, veredelt sie, lässt sie begehrenswert erscheinen. Es gibt sie noch, die guten Dinge. Patina macht die Ware für den Markt brauchbarer, also wertvoller.
    "In Zeiten des ästhetischen Kapitalismus, wo Wachstum nur noch generiert werden kann, wenn er sich von einem System der Bedürfnisse - wie noch Hegel sagte - zu einem System der Begierden wandelt."
    Wachstum ist das Zauberwort, dem sich unsere Wirtschaft verschrieben hat und mit dem die Verselbständigung des Profitstrebens geheiligt wird.
    "Heute ist Ökonomie gleichbedeutend mit Entfesselung - mit unentwegt gesteigertem Wachstum.
    Ursprünglich umfasste der antike Begriff der Oikonomika Ordnung und Regeln des Hauses."
    "Der kanadische Ethnologe Grant McCracken bezeichnet in seinem 1988 publizierten Essay Culture and consumption ..."
    ... in dem auf beeindruckende Weise ethnologische Verfahren und Erkenntnisse auf unser Verhalten als Konsumenten bezogen werden ...
    "... die Patina als Eigenschaft einer materiellen Kultur - nämlich, dass das Altern der Dinge an ihrer Oberfläche langsam erkennbar wird."
    "Im 16. Jahrhundert hätte jemand, um seinen Anspruch auf sozialen Status zu befestigen, silberne Teller verwenden können - neue, ohne Patina.
    Tatsächlich aber - so McCracken - verwendete man Silbergeschirr mit Patina, denn erst durch die Patina wird von der Familie wortlos geltend gemacht, dass ihr Anspruch auf hohen sozialen Status bereits seit langem besteht."
    "... ergo berechtigt ist."
    Waren haben jetzt Inszenierungswert.
    "Zum kostbarsten Besitz der mittelalterlichen und frühmodernen Familie zählt die Ehre. Wenn es um sozialen Aufstieg geht, verbessert eine makellose Ehre die Verhandlungsposition entscheidend."
    Doch Ehre ist ein empfindliches Gut: Sie kann ganz leicht verloren gehen, da genügt bekanntlich ein Fehltritt.
    "In der frühen Moderne funktioniert die Ehre als Treibstoff für soziale Mobilität, für rasanten gesellschaftlichen Auf- oder Abstieg."
    "In diesen Zeiten wird von den Familien nichts mehr ersehnt als der Wechsel vom gewöhnlichen Stand hinauf in den vornehmen."
    "In jener Zeit gilt die Fünf-Generationen-Regel: Fünf Generationen sind üblicherweise notwendig, um aus dem gewöhnlichen Stand in den vornehmen aufsteigen zu können."
    Im Kult der Patina können wir eine Art unsichtbare Tinte erkennen
    Wenn Familien nur lange genug durchhalten, Vornehmheit zu spielen, wird Vornehmheit für sie schließlich zur Realität, zum anerkannten sozialen Status.
    "Eine Art Self-fulfilling Prophecy - lange bevor der Begriff erfunden wird."
    "In Gesellschaften mit solch rigider Hierarchie wie die europäischen im 16. Jahrhundert spielt die Patina eine nur schwerlich zu überschätzende Rolle.
    Geschirr mit Patina belegt, dass die Familie von altersher einen hoffähigen Lebensstil pflegt."
    Gesellschaftlich betrachtet offenbart der Kult um die Patina einen Prozess, bei dem Geld in Status investiert wird - und die Ware letztlich mit der Fähigkeit ausgestattet, Geld zu generieren.
    "Um aber davor geschützt zu sein, dass plötzlicher Reichtum die soziale Ordnung durcheinanderwirbelt, installiert man den Kult um die Patina - und gewinnt die Dauer als Ausschlusskriterium."
    Mit anderen Worten: Neureiche müssen warten, bevor sie in den Stand der Vornehmheit aufsteigen können.
    "Patina ist der handfeste Beweis dafür, dass die Familie schon seit Generationen im Besitz der Teller ist, also nicht der Aufsteiger-Klasse entstammen kann."
    "Vornehme Herkunft ist nichts Anderes als alter Reichtum"
    "... bringt es Mitte des 16. Jahrhunderts der Baron Burghley auf den Punkt.
    In der relativ anonymen Gesellschaft der Großstädte, wo nicht mehr jeder jeden kennt, spielt die Repräsentation von Status und sozialem Anspruch eine bedeutsame Rolle."
    Im Kult der Patina können wir eine Art unsichtbare Tinte erkennen - ein Herkunftszeichen, mit welchem der Anspruch auf Vornehmheit ohne zu unterstreichen unterstrichen wird.
    "Einen ersten Bedeutungswandel erfährt die Patina im 18. Jahrhundert, als England den Konsum im modernen Maßstab entdeckt. Voraussetzung dafür ist die Rationalisierung der Produktion."
    Mit der Steigerung der Produktion entsteht die Freizeit
    Die industrielle Revolution nimmt Fahrt auf, nachdem im Barock die massenhafte Herstellung von Spiegeln die ersten Großmanufakturen hervorgebracht hat.
    "Zu dieser Zeit sind für die Produktion einer Stecknadel 18 Arbeitsgänge vonnöten. Ein Arbeiter, der alle 18 Arbeitsphasen hintereinander verrichtet, bringt es je nach Geschicklichkeit auf bis zu 20 Nadeln täglich."
    "Bemerkenswert ist, dass die letzten beiden Arbeitsvorgänge der Verpackung der Stecknadel dienen - also der Präsentation und Inszenierung auf dem Markt ..."
    ... was sich freilich damals noch darauf beschränkte, den Gegenstand Stecknadel als Stecknadel kenntlich zu machen. Anders als heute ging es noch nicht um den kultischen Charakter, den Fetisch, die Unbenutztheit.
    "Im Gegensatz zum Handwerk produzierten zehn Arbeiter in einer Manufaktur bis zu 48.000 Nadeln. Jeder Arbeiter hatte dabei nur ein oder zwei Handgriffe zu erledigen - und doch überstieg die rationalisierte Produktion das Handwerk insgesamt um mehr als das Zweitausendfache."
    "Mit diesem Stecknadel-Beispiel beginnt eines der berühmtesten Lehrbücher der Ökonomie, der Wohlstand der Nationen von Adam Smith aus dem Jahr 1776."
    Mit der Steigerung der Produktion entsteht die Freizeit - und mit ihr der Wunsch, diese sinnvoll füllen zu können.
    "Ein neuer Markt entsteht."
    Weil die Menschen in ihrer freien Zeit unterhalten werden wollen, beschleunigen sich die Zyklen der Mode, das Kommen und Gehen, das plötzlich viel häufiger wechselt.
    "Die Gegenwart wird damals in groben Zügen vorweggenommen."
    "Was einst zehn Jahre gehalten hat, hält nur noch ein Jahr - dann ist es aus der Mode. Und was einmal ein Jahr überdauert hat, währt nur noch eine Saison."
    "Währung und Gewährleistung geraten aus den Fugen. An die Stelle von Stabilität treten Wachstum, Dynamik, Steigerung, Akzeleration und Akkumulation."
    "Neue Techniken kreieren neue Stile und diskreditieren die vorangegangenen."
    Wir kennen das: Eckige Scheinwerfen lösen runde ab und umgekehrt. Und über dieses Facelifting wird das Auto alt. Und unser Smartphone sowieso.
    Das Neue wird zur Droge
    "Die Mode beginnt, massiv in den Konsumentenmarkt vorzudringen - die Ästhetik übernimmt in der Wirtschaft die Regie."
    "Für die Strategie der Patina ist diese Entwicklung zunächst katastrophal. Plötzlich kann mehr Reputation und Ansehen mit Dingen gewonnen werden, die neu sind, statt mit Dingen, die alt sind und an denen der Zahn der Zeit genagt hat."
    Das Neue wird zur Droge, die Neuigkeit zum unbedingten Hut der Saison - und mit ihr gewinnt der Journalismus an Bedeutung, der die News zur Ware macht.
    "Und währenddessen verliert die Patina dramatisch an Wert."
    "Mit einem Mal wird auch die rigide Hierarchie in der gesellschaftlichen Rangfolge durchlässig, denn wer über ausreichend Geschmack verfügt, kann auf der gesellschaftlichen Leiter so schnell nach oben steigen wie einer, der sein hohes Ansehen von den Generationen vor ihm geerbt hat."
    "Und nicht nur das. Jemand, dessen Vornehmheit unbestritten ist, kann seinen Rang über Nacht verlieren - dann nämlich, wenn sich zeigt, dass er über keinen Geschmack verfügt."
    Jemand, an dessen Wänden also die falschen Tapeten hängen und der die richtigen Namen nicht im richtigen Moment fallen lassen kann, der den falschen Wein im Keller hat und den falschen Krawattenknoten um den Hals und der die falschen Orte frequentiert.

    "Nun verlaufen die sozialen Abgrenzungen nicht mehr unbedingt vertikal und trennen die Klassen voneinander ..."
    Models präsentieren die Spring/Summer 2015 Ready to Wear Collection des Schweizer Modedesigners Albert Kriemler für Akris am 28.9.2014 bei der Paris Fashion Week.
    Mode, hier eine Show des Schweizer Modedesigners Albert Kriemler für Akris bei der Paris Fashion Week, löst Dauer als Statusschutz ab. (picture alliance / dpa / epa / Christophe Karaba)
    "... obwohl sie das natürlich auch tun ..."
    "... vielmehr bilden sich horizontal, also innerhalb der jeweiligen Klasse, Fraktionen. Die sprichwörtlich feinen Unterschiede kommen zum Tragen. Der kulturelle Adel erhebt sich über den Banausen - und das zum Beispiel einfach aufgrund der Wörter, die ihm zur Verfügung stehen. Pierre Bourdieu:"
    "Die Fähigkeit des Sehens bemisst sich am Wissen, oder wenn man möchte, an Begriffen, den Wörtern mithin, über die man zur Bezeichnung der sichtbaren Dinge verfügt und die gleichsam Wahrnehmungsprogramme erstellen. Von Bedeutung und Interesse ist Kunst einzig für den, der die kulturelle Kompetenz, das heißt den angemessenen Code besitzt."
    "Wer sklavisch der Mode folgt, gehört auf einmal zu den Gewinnern im Spiel um Ansehen und Status.
    Patina steht jetzt nur noch für das Alte
    Mode dynamisiert die Gesellschaft, die, vom Willen zur Disktinktion getrieben, enorm individualisiert wird, was wiederum den Warenumsatz erhöht und die Produktion steigert. Mode, das heißt der verordnete Wechsel, löst Dauer als Statusschutz ab."
    Der Kult der Patina verliert mit dem Aufstieg der Mode die seine. Patina steht jetzt nur noch für das Alte, Abgenutzte, Verbrauchte, Hässliche.
    "Mit der wachsenden Bedeutung von Mode und Ästhetik beginnt folgerichtig auch die Verpackung, Funktion und Wesen zu ändern. Was einmal dazu diente, die Ware vor Beschädigung beim Transport zu schützen, soll nun ihre Jungfräulichkeit und Unberührtheit ausstellen."
    Mit der Verpackung werden die Sachen förmlich versiegelt.
    "Mit dem Erbrechen des Siegels, von dem angezeigt wird, ob die Verpackung noch intakt ist oder nicht mehr, verliert die Ware ihren Wert der fabrikneuen Unberührtheit. Tatsächlich vom Käufer-Konsumenten unberührt und unbenutzt, wird die nagelneue Sache durch das Auspacken zur Sache zweiter Hand."
    Sagt der Historiker Wolfgang Schivelbusch in seinem Essay Das verzehrende Leben der Dinge. Versuch über die Konsumtion. Heute zeigt das Design, dass es bei den Sachen weniger um ihre Zweckdienlichkeit, sondern vielmehr um ihre Verpackung geht, ihren Inszenierungswert - auch wenn das designte Produkt natürlich seinerseits verpackt werden muss.
    "Die Ware ist jetzt Statussymbol. Sie dient der Möblierung und Ausstattung der Existenz. Immer raffinierter und aufwendiger wird das Kauferlebnis inszeniert. Im Shoppen selbst passiert der Lebensvollzug."
    "Gebrauchswert und Tauschwert fallen im ästhetischen Kapitalismus zusammen."
    Die Verfallszeiten der Konsumgüter werden kürzer
    I shop therefore I am. In der Gegenwart leben wir in einer paradoxen Welt. Je bedeutender Dinge für uns werden, desto bedeutungsloser werden sie als Ding an sich, als materieller Gegenstand.
    "Der Marktwert eines teuren Handys oder eines Computers tendiert schon nach wenigen Jahren gegen Null. Die Verfallszeiten der Konsumgüter werden kürzer - der Verdacht gewollter und geplanter Obsoleszenz ist kaum mehr von der Hand zu weisen."
    Es sind Zeiten, in denen der Inszenierungswert der Ware beinahe diese selbst ersetzt - was an der Tatsache deutlich wird, dass auf den Gegenstand praktisch verzichtet und uns an dessen Stelle das virtuelle Double verkauft wird, das bloße Zeichen von ihm.
    "Der Bedeutungsverlust der Dingwelt provoziert eine Gegenreaktion. Gerade weil das Einzelding auf seine Funktionalität reduziert und dadurch beliebig ersetzbar geworden ist ..."
    "... sind wir ständig auf der Suche nach authentischen Dingen - nach Kunstwerken, Antiquitäten, Unikaten - nach Dingen mit - Patina."
    Das Hier und Heute, die Gegenwart, ist der historische Moment, in dem der Kult der Patina wiederauflebt.
    "War die Patina einst Ausdruck materieller Kultur - wird sie nun selbst zu einem kulturellen und ästhetischen Gut mit eigener Ökonomie und eigener Logik."
    "Patina ist nun der Name einer Strategie, mit der aus ganz normalen Gebrauchsdingen sakrale Objekte gemacht werden."
    Und das sakrale Objekt ist, ethnologisch gesehen, dazu da ...
    "... um Bedeutungen zu generieren."
    "Patina verleiht dem bedeutungslosen Ding wieder Bedeutung.
    Als ästhetisches Gut verstanden, tritt an ihr der ikonographische Zug in den Vordergrund."
    "Ein icon ist ein Zeichen, das manche der Eigenschaften reproduziert, die diejenige Sache aufweist, die von ihm bezeichnet wird."
    Sagt Charles Sanders Peirce - und meint damit zum Beispiel onomatopoetische Wörter wie "klatschen", "schnuppern" oder "Kuckuck".
    "Das Wort "klatschen" erinnert an die Sache selbst, an das Klatschen."
    "Nicht die Patina selbst ist also von Belang - von Belang ist nur das, was die Patina bedeutet. Diese Bedeutung wird den Waren im ästhetischen Kapitalismus appliziert wie ein Etikett."
    In Zeiten des Massenkonsums erweckt Patina den Schein von Adel
    Restaurants lassen ihre Wände in Wände verwandeln, die aussehen, als seien sie nicht frisch gestrichen worden, sondern imprägniert von der Aura jahrzehntelang servierter Speisen und Nacht für Nacht geführter, hitziger oder vertrauter Gespräche zwischen ungezählten Gästen.
    "Nach der Lehre der griechischen Atomisten sind es hauchdünne Schichten, Häutchen, Bilderchen ..."
    "Griechisch: eidola, Idee ..."
    "... die die Oberfläche der Dinge ausmachen und die - von den Dingen abgelöst - als deren Abbilder vom menschlichen Auge absorbiert werden und Wahrnehmung ermöglichen."
    Die Idee ist so gesehen selbst eine Art Patina - eine dünne Schicht, ein Besatz, ein Häutchen, das die Dinge umschließt, wie eine Verpackung versiegelt.
    "Um die Waren nun zu veredeln und ihren ökonomischen Tauschwert bzw. den Gewinn zu steigern, wird die Patina von ihrem materiellen Untergrund abgelöst, um sie ganz anderen Sachen - nämlich Sachen ohne jede Patina - als Idee anzuhängen."
    "In einer Welt, die das Junge, Frische, Neue und Unverbrauchte anbetet, verleiht die Patina, sofern sie nicht sie selbst, sondern bloß ihre Bedeutung ist, ihre Idee, besonderes Ansehen. In Zeiten des Massenkonsums erweckt Patina den Schein von Adel."
    "Es ist eine Forderung des ästhetischen Kapitalismus, der vorrangig am Inszenierungswert der Dinge interessiert ist, dass den Waren eben nicht angesehen werden darf, dass jeder Gebrauch eigentlich Verbrauch bedeutet."
    Patina muss die Anmutung des Alten haben - dabei aber frisch und neu aussehen.
    "Forever young".
    Der Retro- oder Vintage-Kult mit seinen auf antik getrimmten Lederjacken und Möbeln; den Wänden, deren Verputz suggeriert, man hätte darunter uralte Fresken entdeckt; die Verblendung funktionaler Gebäude mit Klinker; der Kult um gewienerte Mechanik, die eine herablassende Resistenz gegenüber allem Elektrischen und Elektronischem zur Schau stellt - all das beruht auf dem materiell gewordenen Paradox ...
    "... welches nagelneue Waren aussehen lässt, als wären sie gemäß der Fünf‑Generationen-Regel Erbstücke aus dem Besitz einer vornehmen Familie. "
    Ungebraucht gebraucht.
    "Patina ist nun ideell, reine Behauptung - eine dürre Anmutung an die symbolischen Beziehungen, die die Lebenden einst in der Tradition mit den Toten unterhalten haben."
    Nichts ist mehr so, wie es mal war - es sieht nur noch so aus.
    "Zwischen den Dingen und uns besteht ein magisches Verhältnis. Gewöhnlich bringen wir den Gegenständen, mit denen wir uns umgeben, Aufmerksamkeit entgegen, zuweilen sogar Liebe."
    Mit Hingabe pflegen wir die Sammlerstücke
    Es scheint, als würden die Gegenstände, mit denen wir vertraut sind, etwas von uns annehmen - als würden sie und wir uns wechselseitig durchdringen und transformieren.
    "Im 19. Jahrhundert ist niemand von der Polarität zwischen Konsumtion und Produktion so überzeugt wie Karl Marx."
    "Er sieht darin eine Art Stoffwechsel, bei dem der Konsument das verbraucht, was der Produzent zur Verfügung stellt."
    "Jeder Gegenstand einer Konsumtion ist Nahrung."
    Manche Sachen oder Gegenstände sammeln wir - und das mit hoher Ausdauer und unter nicht unerheblichem Einsatz von Zeit und Geld. Mit Hingabe pflegen wir die Sammlerstücke - polieren sie, stellen sie zurück in die Vitrine oder holen sie einmal im Jahr aus der Garage.
    "Vergessen wir nicht: Es gibt auch Dinge, die wir schlagen oder treten, wenn sie partout nicht tun wollen, was sie tun sollten."
    "Es ist jedenfalls ein Gefühlsverhältnis, das Mensch und Ding aneinanderbindet."
    "Wir werden die Sofas, auf denen wir sitzen, und die Sofas werden wir."
    Heißt es im Technischen Manifest der futuristischen Malerei aus dem Jahr 1910.
    "Das Gefühlsverhältnis zwischen Ding und Mensch kommt zum Ausdruck in der Tradition - im Stolz, den Umgang mit einem Ding oder einer Sache über lange Zeit eingeübt zu haben."
    Doch Traditionen sind etwas, das das Kapital behindert an der unentwegten Akkumulation seiner selbst.
    "Nicht alles kann überall gleich rentabel erzeugt werden, nicht alles von überallher gleich effektiv verkauft."
    "Was ist Globalisierung anderes als der groß angelegte Versuch, Raum und Zeit zu homogenisieren. Traditionen werden eingeebnet, um genau diese Rentabilität und Effektivität zu gewährleisten - überall und von überallher."
    Weshalb die Warenlager und Shopping-Center gern auf der grünen Wiese errichtet werden - im raum- und zeitlosen Niemandsland.
    "Künstliche Paradiese, von der gewachsenen Welt blickdicht abgeschirmt."
    "Die Fassadenästhetik der Patina ist da geradezu prädestiniert, um den radikalen Verlust der Tradition durch den bloßen Anschein davon abzumildern. Repräsentierte Patina einst den langen Anspruch der Familie auf soziale Distinktion und Status gewissermaßen durch sich selbst, durch das eigene Alter - repräsentiert Patina unter den Bedingungen des ästhetischen Kapitalismus Tradition als ob."
    "Als ob es Tradition noch gäbe."
    Patina hat heute dieselbe Funktion, die die Sound-Atmosphäre in den modernen Passagen, den Shopping-Malls und Einkaufszentren hat, wo uns mit plätschernden Brunnen und Vogelgezwitscher vorgegaukelt wird, dass wir eigentlich "draußen" sitzen.
    Wie die Menschen dürfen Waren nicht alt aussehen
    "Patina als ästhetisches, ideelles Gut spannt imaginäre Räume auf, die in echt nirgends existieren - es sind virtuelle Räume, in denen es sie noch gibt, die guten Dinge: die Tradition, die Bedeutung, das ehrwürdige Alter, der Adel."
    Aber nur als Halluzination.
    "Die imaginären oder ideellen Räume sind Treibhäuser, die zugleich etwas darüber aussagen, welche Lebensform in ihnen gedeiht, welche durch sie überhaupt nur noch ermöglicht wird."
    Diese Lebensform ist die des unendlichen Konsums und des ewigen Konsumenten.
    "So, wie das Alter von der Gesellschaft nicht mehr ernst genommen wird - so nimmt auch die Patina ihr eigenes Alter nicht mehr ernst."
    Sie ist nichts weiter als ein Etikett, ein Preisschild, ein Versprechen.
    "Dank der Patina erhöht sich der Inszenierungswert der Waren - und die Schraube der Profitmaximierung macht eine weitere Drehung. Georges Bataille begriff die Verschwendung als Korrektiv der Kapitalakkumulation. Ähnlich dem Krieg ..."
    "... jenem Gott, dem nach Ansicht Werner Sombarts die Ökonomie huldigt ..."
    "... ist Verschwendung produktive Kapitalvernichtung, die - so im Zweiten Weltkrieg - zu einer Gesundung der kapitalistischen Verhältnisse führt."
    Wie die Menschen dürfen Waren nicht alt aussehen - sie dürfen aber über die Anmutung des Alters verfügen, über dessen Glanz. Die Anmutung des Alters, nicht das Alter selbst, macht sie begehrenswert.
    "Patina dient heute einzig und allein dem Zweck, Dinge, die nicht mehr alterungsfähig sind, mit Alterungsfähigkeit zu verblenden. Wobei, dialektisch betrachtet, das Besondere darin besteht, dass die Patina selbst keine Patina hat, sondern funkelnagelneu ist - gemacht."
    "Patina ist heute endgültig zum icon ihrer selbst geworden."
    Wenn Dinge heute mit Patina ausgestattet sind, ist diese immer gefälscht. Patina ist eine Verkaufsstrategie, die banale, bedeutungslose Dinge mit einem Heimweh versieht, das nur so aussieht, als wäre es eines.
    "Es ist aber kein Heimweh. Es ist nur unheimlich."