Freitag, 19. April 2024

Archiv

Kontroverse um "Mein Kampf"
"Dieses Buch beinhaltet noch eine Gefahr"

Der Germanist Jeremy Adler findet es skandalös, dass man sich Adolf Hitlers "Mein Kampf" künftig als "Klassiker" offen in die Bücherregale stellen könne. Das Münchner Institut für Zeitgeschichte legt heute eine wissenschaftlich kommentierte Neuausgabe vor. Damit verbreite es eine Hetzschrift, die "rechtswidrig sein dürfte", sagte Adler im DLF.

Jeremy Adler im Gespräch mit Jasper Barenberg | 08.01.2016
    Man sieht, wie jemand eine Ausgabe von Hitlers "Mein Kampf" aus dem Jahr 1933 aus dem Regal zieht.
    "Mein Kampf" rufe nur "Ablehnung und Verstörung" hervor, sagte der Germanist Jeremy Adler im DLF. (picture-alliance / dpa / Matthias Balk)
    Der Wissenschaftler am Londoner King's College befürchtet, dass "Mein Kampf" demnächst in Deutschland zum Bestseller wird. Im DLF sagte Adler: "Die Virulenz, die einmal in dem Buch steckte, steckt noch immer in dem Text." Wenn man eine wissenschaftliche Auseinandersetzung wolle, brauche man "Mein Kampf" nicht zu drucken. Auch zum besseren Verständnis sei es unlauter, da es bei einem solchen Buch kein richtiges Verstehen gebe. Es gebe nur "Ablehnung und Verstörung."
    Das Institut für Zeitgeschichte in München präsentiert am Freitag eine wissenschaftlich kommentierte Neuauflage von Hitlers Hetzschrift "Mein Kampf". Die Urheberrechte für das Buch waren Ende 2015 erloschen. Sie lagen beim Freistaat Bayern, der eine Neuauflage bisher verhindert hatte.
    Adler schlug als Alternative vor, Videos und Broschüren mit kleinen Auszügen zu veröffentlichen - oder ein Lexikon für Wissenschaftler.
    Das Interview in voller Länge:
    Jasper Barenberg: Kann eine kommentierte Auflage von Hitlers Kampfschrift einen Beitrag zur Aufklärung leisten? Kann die Lektüre gar unsere Wachsamkeit gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus heute schaffen? So argumentieren die Befürworter des Projekts, ganz anders der Germanist Jeremy Adler vom King's College in London. In einem Artikel in der "Süddeutschen Zeitung" verurteilt er die kommentierte Edition vehement. Zitat: "Das Böse lässt sich nicht edieren." Vor dieser Sendung habe ich mit Jeremy Adler darüber gesprochen.
    Jeremy Adler: Prinzipiell bin ich dagegen, dass man aufrührerische, rassistische Texte wieder auflegt und verbreitet. Man kann nicht bestimmen, wie eine solche Botschaft, wie eine solche Mitteilung aufgenommen wird, man kann nur die Verbreitung vermehren.
    Barenberg: Das heißt, Sie befürchten, dass es auch Futter sein könnte, neue Nahrung für Rechtsradikale, für Neonazis und andere dieser Geisteshaltung?
    Adler: Ganz gewiss. Hier werden sie neue Fundstellen finden, hier werden sie in einer zweibändigen Ausgabe, die sie getrost in die Bücherregale stellen dürfen, einen Klassiker finden, den sie anbeten dürfen in aller Öffentlichkeit. Das finde ich skandalös.
    "Virulenz steckt immer noch im Text"
    Barenberg: Was sagen Sie denn dazu, dass Beobachter der rechten Szene, wenn es um dieses Thema geht, oft sagen, dass dieses Buch von Hitler eigentlich gar kein Klassiker in dem Sinne ist für Neonazis oder Rechtsradikale, sondern längst nur noch so etwas wie ein Mythos, ein Werk, was gar keine Rolle mehr spielt in der derzeitigen Auseinandersetzung?
    Adler: Ich kenne natürlich nicht die genauen Untersuchungen und Gespräche mit Rechtsradikalen. Ich kenne nur das Umfeld. In Russland ist das Buch verboten, weil man darin eine Gefahr sieht, in der Türkei ist das Buch ein Bestseller, aus mir unverständlichen Gründen. Und in unseren Gefängnissen zirkuliert das Buch unter den Insassen als bedeutendes Werk. Das heißt, die Virulenz, die einmal in dem Buch steckte, steckt noch immer in dem Text.
    Gewissenhafte Institutionen dürfen keine Hetzschriften verbreiten
    Barenberg: Nun wissen wir ja, dass der Text heute schon zugänglich ist, es braucht nur wenige Klicks, dann kann man ihn sich im Internet besorgen. Was Deutschland angeht, wissen wir, dass natürlich viele der millionenfachen Auflagen und Ausgaben noch immer im Umlauf sind auf Dachböden oder wo auch immer. Das Institut für Zeitgeschichte in München startet ja mit einer Auflage von 4.000 Exemplaren, vor allem für wissenschaftliche Bibliotheken und auch für Gedenkstätten. Ich habe noch nicht verstanden, wo Sie die große Gefahr sehen. Denn es wird ja nicht in jedem Buchladen in der Auslage liegen.
    Adler: Sie können lesen in einem Zeitungsartikel von einem Historiker, der dieses Unterfangen unterstützt, dass er erwartet, dass dieses Buch demnächst in Deutschland zum Bestseller wird. Wenn man eine wissenschaftliche Analyse und Auseinandersetzung mit diesem Buch will, dann braucht man ja den Text gar nicht drucken, der liegt vor. Was man braucht, ist ein Kommentar in digitaler Form nach den höchsten Ansprüchen der Wissenschaft. Das Institut für Zeitgeschichte will ganz bewusst dieses Buch unters Volk bringen. Das steht auf ihrer Website, das hat der Direktor mehrmals wiederholt. Es geht also nicht um ein rein wissenschaftliches Werk, sondern um ein Werk, das Volkserfolg haben sollte.
    Barenberg: Und was spricht dagegen? Denn das berührt ja die Kernfrage, die lautet: Trauen wir es den Lesern heute zu, mit dem historischen Bewusstsein, was wir alle haben, sich mit dieser Hetzschrift, mit dieser Kampfschrift vernünftig auseinanderzusetzen?
    Adler: Damit geht es gar nicht. Es geht darum, dass man als gewissenhafte Institution keine Hetzschriften zu verbreiten hat, die eventuell – und die Rechtslage ist noch ungeklärt – rechtswidrig sein dürfte. Das erste Prinzip ist also Recht und dass hier möglicherweise ein rechtswidriges Werk veröffentlicht wird.
    Barenberg: Und das gilt auch für den Fall, Jeremy Adler, dass ja jeder Gedankengang in diesem Buch kommentiert wird, dass er kontrastiert wird oder die vielen Behauptungen und Annahmen in dem Buch kontrastiert werden mit den tatsächlichen Ereignissen, mit den tatsächlichen Entwicklungen?
    Adler: Aufklärung – und dieses Buch will Aufklärung erreichen – heißt den Leser selbst denken lassen. Wie will man dann gleichzeitig vorbestimmen, was der Leser zu denken hat? Hier ist ein Grundkonflikt in der Anlage des Buches, der sich nicht überwinden lässt.
    Barenberg: Und dass Sie auch nicht so offen stehenlassen können, wenn ich Sie richtig verstehe, und noch mal auf diese Frage zurückzukommen, dass Sie jedem zutrauen, das Buch richtig zu verstehen, richtig einzuordnen?
    Adler: Ich weiß nicht, was hier richtig sein soll. Was ist richtig verstehen bei einem solchen Buch? Da gibt es kein richtiges Verstehen, da gibt es nur Ablehnung und Verstörung.
    Barenberg: Aber würden Sie nicht auch zum Beispiel sagen, dass diese Schrift insofern eine wichtige Quelle ist, nicht nur um das Denken Hitlers nachzuvollziehen und zu begreifen, sondern auch weil es viele Entwicklungen der Zeit aufnimmt, die Radikalisierung des Antisemitismus, den Nationalismus, den Rassismus und auch eine gewalttätige, mörderische Seite der Moderne und es insofern Sinn macht, sich mit diesem Text auseinanderzusetzen?
    "Dieses Buch beinhaltet noch eine Gefahr"
    Adler: Wir wissen das alles schon seit mehr als 50 Jahren, warum soll man das Buch noch einmal auflegen?
    Barenberg: Gerade weil es sich zu einem Tabu entwickelt hat durch das Verbot, durch die Tatsache, dass es 70 Jahre lang nicht gedruckt werden durfte und es vielleicht Zeit ist – so sagen die Befürworter –, dieses Tabu zu brechen?
    Adler: Nein, das Wort Tabu wird von den Herausgebern hier völlig falsch angewendet. Die Gesellschaft hat Tabus, um Gefahren zu bannen. Und dieses Buch beinhaltet noch eine Gefahr. Man muss also diesen Inhalt noch weiterhin unter Tabu setzen. Wenn nicht, fließt alles durch.
    Lexikon ohne den Text für Wissenschaftler ist sinnvoller
    Barenberg: Sie haben auch geschrieben, dass es andere Mittel braucht, andere Möglichkeiten, um Aufklärung zu betreiben mit Blick auf das Buch und mit Blick auf die NS-Herrschaft. Was stellen Sie sich vor?
    Adler: Ich stelle mir vor: Filme, Videos, kleine Broschüren, die sich unters Volk bringen lassen, wo einige Auszüge aus dem Buch gebracht werden mit guten Bildern, mit klugen Einleitungen, etwas größere Bücher für solche, die sich besser informieren wollen. Und dann freilich vielleicht sogar ein Lexikon ohne den Text für den Wissenschaftler. Aber der Text, den sollte man nicht wieder drucken.
    Barenberg: Sagt Jeremy Adler, Germanist am King's College in London. Danke für das Gespräch, Herr Adler!
    Adler: Okay, danke!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.