Dienstag, 23. April 2024

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Krach in der Koalition
Parteienforscher warnt vor Abstrafung bei nächsten Wahlen

Die Politik habe die Kontrolle verloren und stehe ratlos vor der Flüchtlingskrise - davon gehe die Mehrheit der deutschen Bevölkerung momentan aus, sagte der Parteienforscher Oskar Niedermayer im DLF. Da die Asylpolitik der Koalition bei kommenden Wahlen eine sehr große Rolle spielen werde, könnten die Wähler sich anderen Parteien zuwenden, befürchtete Niedermayer.

Oskar Niedermayer im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 31.10.2015
    Sigmar Gabriel, Angela Merkel und Horst Seehofer bei der Vorstellung des Koalitionsvertrags
    Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) habe den Druck soweit aufgebaut, dass es nun zu irgendeiner Form von Kompromiss innerhalb der Koalition kommen müsse, betonte Parteienforscher Oskar Niedermayer im Interview mit dem Deutschlandfunk. (dpa / pa / Kumm)
    Tobias Armbrüster: Die Flüchtlingskrise bleibt auch an diesem Wochenende das beherrschende innenpolitische Thema hier bei uns in Deutschland. Seit Tagen kocht es in der Koalition, vor allem CSU-Chef Horst Seehofer fordert eine Kurskorrektur, er will den Zustrom von Flüchtlingen nach Deutschland strikt begrenzen. Er hat Angela Merkel deshalb in den vergangenen Tagen immer stärker unter Druck gesetzt, sogar von einem Platzen der Koalition war schon die Rede. Heute beraten nun SPD und Union erst mal getrennt über einen möglichen Ausweg aus dieser Krise, morgen sitzen dann die Spitzen der Koalition in Berlin zusammen an einem Tisch.
    Mitgehört am Telefon hat Oskar Niedermayer, Politikwissenschaftler und Parteienforscher an der Freien Universität Berlin. Schönen guten Tag, Herr Professor Niedermayer!
    Oskar Niedermayer: Ja, guten Tag!
    "Allen persönlichen Querelen zum Trotz geht es auch um die Sache"
    Armbrüster: Herr Niedermayer, geht es bei diesem Streit eigentlich wirklich noch um Sachfragen, wie zum Beispiel Transitzonen an der Grenze, oder ist das alles politische Show?
    Niedermayer: Das, was da in den letzten Tagen gemacht wurde, ist natürlich zum Teil auch, als Show würde ich es nicht bezeichnen, aber dazu gedacht, den Druck so weit zu erhöhen, dass es dann heute und vor allen Dingen dann morgen auch tatsächlich zu irgendeiner Form von Kompromiss kommt. Das ist eindeutig.
    Aber ich denke schon, allen persönlichen Querelen zum Trotz und ideologischen Unterschiedlichkeiten, dass es auch, wenn auch nicht nur um die Sache geht. Man muss ja auch durchaus sehen, dass Bayern mit Abstand die größte Last trägt bei der ganzen Geschichte und Seehofer natürlich von seinen Landräten, von seinen Bürgermeistern, von allen Kommunalpolitikern Druck bekommt, da etwas zu tun.
    Armbrüster: Wie könnte ein Kompromiss denn aussehen, wenn Horst Seehofer sagt, wir müssen den Zustrom strikt begrenzen, wir müssen Transitzonen an der Grenze schaffen, und die CDU und vor allem aber die SPD sagen, nein, das wollen wir nicht, wir schaffen das, und eine Begrenzung ist nicht möglich?
    Niedermayer: Zunächst ist es so, dass sich ja sogar Staatsrechtler darüber streiten, ob eine Obergrenze rechtlich möglich sei oder nicht, das sind also ganz schwierige Fragen, aber eine mögliche Kompromisslinie könnte ja sein, dass Angela Merkel nach diesem Sonntag dann deutlich macht, es gibt keine sozusagen theoretische Obergrenze, aber es gibt natürlich faktisch eine Grenze der Belastbarkeit. Ob die dann schon überschritten ist oder nicht, ist wieder eine andere Frage.
    Und bei den Transitzonen: Ich bin mir über die rechtlichen Fragen nicht wirklich klar, weil ich auch kein Jurist bin, aber wenn die SPD Zwangsmaßnahmen in solchen Zonen nicht mitträgt – und das scheint sie ja zu tun –, warum überlegt man dann nicht, zu sagen, okay, man richtet diese Zonen ein und macht den Flüchtlingen deutlich, wenn ihr nicht in dieser Zone verbleibt, bis euer Status endgültig geklärt ist, dann bekommt ihr eben keine Leistungen. Das wäre dann keine Zäune außen rum, aber doch ein deutlicher Anreiz für die Flüchtlinge, dann eben in die Transitzonen zu gehen und abzuwarten, bis ihre Verfahren beendet sind.
    "Die SPD streitet intern genauso wie die Union"
    Armbrüster: Was bedeutet dieser Streit denn eigentlich bislang für die SPD, steht sie hier als sozusagen solide Partei da, weil der Krach ja vor allem zwischen CDU und CSU ausgetragen wird?
    Niedermayer: Ja, ich denke, dass die SPD ja intern genauso streitet wie die Union intern, die CDU intern und die CDU mit der CSU, nur wird das natürlich nach außen nicht deutlich, weil sich alles jetzt auf den Streit zwischen den beiden Unionsparteien stürzt.
    Denn wenn man die verschiedensten Stimmen von der Kommunalpolitik bis hin zum Bundesvorstand aus der SPD sieht, dann ist sie sich erstens auch intern nicht so wirklich einig, wie die Linie ist. Und es ist ja auch keine konkrete Linie zu erkennen, wo man sagen würde, da ist ein ganz klarer politischer Gegenentwurf zu Seehofer oder zu sonst wem, den die SPD dann auch offen nach außen vertreten könnte. Mit allgemeinen Floskeln von wegen Realismus und Zuversicht ist es ja nicht getan.
    Armbrüster: Das heißt, Sie würden sagen, Horst Seehofer hatte ja einen lange überfälligen Streit angestoßen, eine lange überfällige Diskussion in der Koalition.
    Niedermayer: Ich denke, man kann über Seehofer denken und sagen, was man will – das eine ist richtig: Er hat durch seine Aktivitäten eben den Druck so weit aufgebaut, dass man jetzt tatsächlich diese Diskussion führen muss, und die Bevölkerung erwartet ja auch, dass diese Diskussion geführt wird und zu einem sinnvollen Kompromiss führt.
    Denn wenn man sich die Umfragen anschaut, ist die Stimmung ja deutlich umgeschlagen, und vor allen Dingen ist es ganz schlecht, dass jetzt die Mehrheit der Bevölkerung denkt, die Politik habe die Kontrolle verloren und stehe eben ratlos vor diesem Problem. Und wenn sich dieses Meinungsbild festigt, dann kann es zu dramatischen Konsequenzen bei den nächsten Wahlen kommen.
    "Die Stimmung in der Bevölkerung ist umgeschlagen"
    Armbrüster: Heißt das, die Wahlen tatsächlich und auch die Umfrageergebnisse rücken hier in dieser Flüchtlingskrise langsam immer stärker ins Blickfeld dieser Protagonisten?
    Niedermayer: Natürlich denken Politiker nicht nur an die Sache, sondern auch an die nächsten Wahlen, das ist doch ganz klar, denn sie wollen ja wiedergewählt werden. Wir haben im Frühjahr dann in zwei großen Ländern – Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz – Landtagswahlen, und da wird diese Thematik die große Rolle spielen, das ist allen klar. Und das führt zum Beispiel auch dazu, dass Herr Kretschmann sich anders verhält als der grüne Bundesvorstand, weil der ja eben in Baden-Württemberg als Ministerpräsident Verantwortung trägt.
    Armbrüster: Könnte es denn nicht auch sein, Herr Niedermayer, dass sich eine Mehrheit der Wähler durchaus auch hinter diese neue Willkommenskultur schlägt und sagt, das ist eigentlich der Kurs, den wir lieber möchten und den eher Antikurs von Horst Seehofer, den lehnen wir ab?
    Niedermayer: Also ganz am Anfang, Anfang September mit der Geste von Frau Merkel, die in Ungarn festsitzenden Flüchtlinge nach Deutschland zu holen, da gab es noch durchaus zwei Drittel Zustimmung in der Bevölkerung, aber jetzt ist, nach den neueren Umfragen jetzt im Oktober die Stimmung durchaus umgeschlagen.
    Also die Mehrheit sagt jetzt, Deutschland kann einen weiteren Zustrom nicht mehr verkraften, die Mehrheit hat Angst vor diesen hohen Zahlen, die da kommen, die Mehrheit befürchtet negative Konsequenzen in vielen verschiedenen Bereichen, und vor allen Dingen eben sagt sie, Deutschland hat die Kontrolle über die ganze Geschichte verloren.
    Das wird natürlich, wenn die Bevölkerung zunehmend den Eindruck bekommt, man wird auch nicht gehört von den Regierungsparteien mit den eigenen Ängsten, Bedürfnissen, Wünschen, dann kann es natürlich durchaus passieren, dass man sich anderen Parteien zuwendet, was wir ja alle nicht wollen.
    Armbrüster: Sagt hier bei uns im Deutschlandfunk der Politikwissenschaftler Oskar Niedermayer. Vielen Dank für das Gespräch!
    Niedermayer: Bitte schön!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.