Christiane Kaess: Die Menschen in Venezuela, die seit Jahren unter der katastrophalen Versorgung im Land leiden, sie wünschen sich einen Machtwechsel, und seit der selbsternannte Übergangspräsident Juan Guaidó den autokratischen Herrscher Präsident Nicolás Maduro herausfordert, steigt die Hoffnung, dem Land stehe eine Entwicklung in Richtung Demokratie bevor. Die USA, einige lateinamerikanische Länder und auch das EU-Parlament haben unter anderem Guaidó, der Präsident der Nationalversammlung ist, als Präsidenten des Landes anerkannt. Mehrere europäische Staaten wie Deutschland, Frankreich und Spanien hatten Maduro am vergangenen Wochenende ein Ultimatum gestellt. Konstantin Kuhle von der FDP ist stellvertretender Vorsitzender der Parlamentariergruppe Andenstaaten, zu der Venezuela gehört, und er ist jetzt am Telefon. Guten Morgen, Herr Kuhle!
Konstantin Kuhle: Schönen guten Morgen!
Glaubwürdigkeit nicht verlieren
Kaess: Deutschland, Frankreich, Spanien, Portugal, Großbritannien, die Niederlande und Belgien, sie alle hatten Maduro dieses Ultimatum gesetzt. Gehen Sie davon aus, dass diese Staaten heute Guaidó als Präsidenten anerkennen?
Kuhle: Ich rechne damit, dass die Bundesrepublik Deutschland Juan Guaidó heute im Laufe des Tages als Übergangspräsident anerkennt. Das wäre jedenfalls erforderlich, um angesichts der Ereignisse in Venezuela die Glaubwürdigkeit nicht zu verlieren. Wenn eine solche Übergangsfrist von acht Tagen gesetzt wird, dann muss man sich anschließend auch daran halten. Nun hat ja Nicolás Maduro das Gegenteil von dem gemacht, was man von ihm erwartet hat. Er hat nämlich Neuwahlen des Parlaments angekündigt, also der einzigen Institution, die noch demokratisch legitimiert ist in Venezuela. Das ist nicht von ihnen zu erwarten, von ihm nicht zu erwarten, dass Neuwahlen der Präsidentschaft angesetzt werden. Das hat er nicht gemacht, und deswegen müssen heute Konsequenzen folgen.
Kaess: Wäre es eventuell noch ein stärkeres Signal gewesen, wenn die EU geschlossen Guaidó anerkannt hätte?
Kuhle: Ja, es wäre ein besseres Signal gewesen, wenn die Europäische Union das auch auf Regierungsebene getan hätte. Das Europäische Parlament hat ihn ja in einer Resolution schon in der vergangenen Woche anerkannt, und insofern wäre es richtig gewesen, wenn die Europäische Union hier auch mit einer Stimme gesprochen hätte. Gescheitert ist das Ganze an Italien, wohl an Abstimmungsschwierigkeiten innerhalb der italienischen Regierung. Es scheint so zu sein, dass ein Koalitionspartner das dort gewollt hat und der andere nicht, und dann hat man sich am Ende eben insgesamt gegen eine Anerkennung entschieden. Das ist ein schlechtes Signal, dass die Europäische Union hier nicht mit einer Stimme spricht.
"Guaidó ist der richtige Übergangspräsident"
Kaess: Trotzdem muss man ja auch fragen, wie legitim, bei aller verständlichen Sympathie im Westen für Guaidó, es ist, jemanden als Präsidenten anzuerkennen, der nicht als solcher gewählt wurde.
Kuhle: Richtig. Nach der venezolanischen Verfassung ist es nun mal so, dass der Präsident des Parlaments die Funktion des Übergangspräsidenten übernimmt, wenn es keinen Präsidenten gibt, und das ist nun nicht der Fall, weil die Präsidentschaftswahl aus dem letzten Jahr nicht ordnungsgemäß abgelaufen ist. Maßgebliche Oppositionskandidaten konnten nicht kandidieren. Es gab keine unabhängige Wahlaufsichtsbehörde, und die Wahl ist nicht beobachtet worden aus dem Ausland. Also maßgebliche Kriterien sind nicht erfüllt. Damit gibt es keinen Präsidenten, und Guaidó ist der richtige Übergangspräsident. Allerdings muss man bedenken, dass er natürlich nur der Übergangspräsident sein kann und sein Auftrag zunächst einmal nur darin besteht, Neuwahlen zu organisieren. Also das kann sozusagen keine Dauerlösung sein. Er kann am Ende dann auch kandidieren, aber er ist erst mal nur dafür da, um Neuwahlen zu organisieren.
Kaess: Also noch mal nachgefragt, Herr Kuhle, die Missstände, die Sie gerade genannt haben, das reicht als Legimitation für die internationale Anerkennung Guaidós?
Kuhle: Ja, das ist die Rechtslage nach der venezolanischen Verfassung, und an die müssen sich alle Beteiligten halten, und das ist auch immer eine … Wir sprechen ja viel darüber, ob es sich hier um eine unbotmäßige Einmischung der internationalen Gemeinschaft handelt. Man muss sich klarmachen, dass da jeden Tag 5.000 Menschen das Land verlassen und seit 2014 drei Millionen Venezolaner das Land verlassen. Das ist keine rein nationale Angelegenheit mehr, sondern längst eine internationale Krise, und dann muss man sozusagen auch reagieren und ein starkes Zeichen setzen. Man darf vor allen Dingen jetzt dem Druck auf Maduro nicht nachgeben. Insofern ist es richtig, dass nach dem Treffen, das heute stattfindet, der sogenannten Libra-Gruppe am Donnerstag dann sich die Kontaktgruppe mit der Europäischen Union im Montevideo das erste Mal trifft. Überall muss das Signal ausgehen, es ist nicht die Europäische Union oder die Vereinigten Staaten, die über Venezuela entscheiden, sondern allein das venezolanische Volk.
Erste Risse innerhalb des venezolanischen Militärs
Kaess: Mehr Druck sagen Sie, trotzdem von außen, was bringt das aber, was bringt diese Anerkennung Juan Guaidós als Übergangspräsident in Venezuela, denn bisher hat sich ja nicht viel bewegt?
Kuhle: Das würde ich nicht sagen. Es ist schon so, dass innerhalb des venezolanischen Militärs erste Risse erkennbar sind. Juan Guaidó macht das sehr geschickt, indem er auch Öffentlichkeitsarbeit betreibt, die dosiert über mehrere Tage erfolgt. Er hatte in der vergangenen Woche seinen sogenannten "Plan Pais" vorgestellt, also seinen Plan für eine Reform des Landes, bei dem es ihm zuallererst darum geht und in der Vorstellung darum ging, die Versorgungskrise Venezuelas zu lösen, und das muss ja das oberste Ziel sein, auch um die Migrationskrise zu lösen, die Hyperinflation zu beenden, die Unterversorgung der Bevölkerung zu beenden und aufzubrechen, dass man Mitglied in einer Parteiorganisation sein muss, um an der Wohlfahrtsorganisation zu partizipieren. Insofern läuft da schon einiges, und ich glaube, das muss jetzt international begleitet werden.
Kaess: Auf der anderen Seite warnt Maduro wiederum in einem Interview vor einem Bürgerkrieg, und er hat ja tatsächlich noch viele Anhänger. Wie groß ist diese Gefahr, und wird die eventuell auch unterschätzt von außen?
Kuhle: Man kann das nicht genau sagen, weil die letzte Präsidentschaftswahl sozusagen nicht frei und fair gelaufen ist. Schätzungen zufolge gibt es mindestens eine stabile Anhängerschaft des Tradismus von um die 30 Prozent in der Bevölkerung. Die würden sicherlich –
Kaess: Das ist viel.
Kuhle: – an einer erneuten … Das ist sehr viel, und das ist auch so, dass die natürlich an einer erneuten Wahl, wenn sie dann unter den Vorzeichen Maduros organisiert würde, auch teilnehmen würden. Das heißt, wenn man das Ganze sozusagen aus Sicht des Regimes richtig organisiert, dann kann man eine solche Wahl auch gewinnen. Wenn eine Wahl frei und fair abläuft und – das ist der entscheidende Punkt – die Opposition sich auf einen Kandidaten einigt und nicht zersplittert ist, dann hätte Maduro wohl keine Chance, und diese Chance, dieses Fenster ergibt sich jetzt sozusagen, aber die Sache ist noch nicht ausgemacht. Also man kann nicht sagen, dass es jetzt eine schiefe Ebene ist, an deren Ende am Ende die Ablösung Maduros steht, sondern jetzt muss der Druck aufrechterhalten werden. Die Ankündigungen, die er bisher gemacht hat bezüglich einer Neuwahl des Parlaments, sind eine absolute Farce.
Trump tut Juan Guaidó keinen Gefallen
Kaess: Und den Druck, den hält ja auch US-Präsident Trump aufrecht. Er hat gestern noch mal wiederholt, Truppen nach Venezuela zu schicken, das bleibe für ihn durchaus eine Option, und Maduro, der hat gekontert, ich zitiere ihn da mal: "Wir leben in unserem Land und verlangen, dass sich niemand in unsere internen Angelegenheiten einmischt, und wir bereiten uns darauf vor, unser Land zu verteidigen", und er sagt, in den Fabriken, in den Universitäten sei das Volk dabei, sich zum Schutz der Regierung zu bewaffnen. Halten Sie diese Aussagen für … ja, muss man die ernst nehmen?
Kuhle: Also mit diesen Ankündigungen tut Trump jedenfalls Juan Guaidó keinen Gefallen, weil es in ganz Lateinamerika bestimmte Schutzmechanismen und Reaktionen auslöst, wenn die Vereinigten Staaten sich so klar und eindeutig positionieren. Da ist die Positionierung der Europäischen Union tatsächlich ausgewogener gewesen, erst mal eine Druckposition aufzubauen und dann eine Frist zu setzen. Nur muss die Europäische Union jetzt auch liefern nach acht Tagen und darf jetzt nicht heute vor einer Anerkennung Guaidós zurückschrecken. Tatsächlich halte ich die Drohung einer militärischen Intervention zum jetzigen Zeitpunkt eher für fernliegend.
Kaess: Schauen wir zum Schluss noch auf die ganz andere Seite kurz, zu Russland, China, die Türkei, Kuba, Bolivien und Nicaragua – die stehen hinter Maduro, die fürchten auch zum Teil um ihren Einfluss im Land, denn es gibt ja dort sehr viel Erdöl. Wie sehr kann sich der Konflikt eigentlich noch ausweiten?
Kuhle: Auch hier muss man beachten, dass diese Front der Länder, die bisher zu Nicolás Maduro stehen, sehr brüchig ist. Die Regierungen insbesondere von Russland und China haben finanzielle Unterstützung geleistet für Venezuela und haben sich das bezahlen lassen durch Erdölschulden, und diese Schulden ist Venezuela derzeit nicht in der Lage zu bedienen. Das heißt, insbesondere was die Kooperation mit China angeht, stehen die nicht so fest an der Seite von Nicolás Maduro, wie es den Anschein macht. Es könnte durchaus sein, dass es auch hier zu einem Umschwenken kommt, wenn es sich ökonomisch für die Chinesen lohnt.
Kaess: Sagt Konstantin Kuhle von der FDP. Er ist stellvertretender Vorsitzender der Parlamentariergruppe Andenstaaten, dazu gehört auch Venezuela. Vielen Dank für das Gespräch heute Morgen!
Kuhle: Sehr gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.