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Kritik am Kreml
"Russen sind gehorsame Biomasse"

Russland befinde sich in der Isolation, sagte der russische Schriftsteller Wladimir Sorokin im DLF. Wladimir Putin habe als Präsident die Reputation des Landes international zerstört - und irgendwann würden ihm die Russen das sehr übelnehmen.

Wladimir Sorokin im Gespräch mit Sabine Adler | 14.01.2015
    Der russische Schriftsteller Wladimir Sorokin
    Der russische Schriftsteller Wladimir Sorokin (Imago / Itar-Tass / Artyom Geodakyan)
    Niemand habe in Russland die sowjetische Vergangenheit begraben, sagte der russische Schriftsteller Wladimir Sorokin im DLF. Nun sei sie wie ein Zombie wieder auferstanden und erschrecke die Welt. Der Ukraine-Konflikt habe gezeigt, dass "Europa mit einer neuen Art Mittelalter" konfrontiert werde. Und Europa habe keine Mittel, wie es darauf reagieren könne. Zum militärischen Kampf sei es nicht bereit - und dies mache sich Putin zunutze.
    Der russische Präsident habe in den vergangenen Jahren aus den Russen eine gehorsame Biomasse gemacht - deswegen ginge jetzt auch angesichts des Terrors in Paris niemand in Russland auf die Straße. Der Wohlstand, den die Russen unter Putin erlangt haben, habe allen Widerstand erdrückt. Doch irgendwann werden Sorokins Landsleute Putin die Isolation, in die er das Land geführt habe, übelnehmen.

    Das Interview in voller Länge:
    Jasper Barenberg: Der Schriftsteller Wladimir Sorokin gehört zu den bekanntesten und zu den wichtigsten Autoren Russlands, ein wortmächtiger Kritiker auch der neuen Eliten, die die alten sowjetischen Machthaber abgelöst haben. Seine oft düsteren Utopien gefallen beileibe nicht jedem; immer wieder eckt er in Russland mit seinen Texten an. Mancher würde Wladimir Sorokin wohl am liebsten verbieten. Widerstand gegen sein Werk hat er schon zu Sowjet-Zeiten erlebt. Sabine Adler hat ihn gestern in Berlin getroffen, um mit ihm über die Anschläge von Paris zu sprechen und auch über die Politik des Kreml in der Ukraine-Krise.
    Sabine Adler: Wladimir Sorokin, Sie haben das selbst erlebt: Ihre Bücher sind in Moskau vor dem Bolshoi Theater öffentlich verbrannt worden. Als vorige Woche die Karikaturisten der Satirezeitschrift "Charlie Hebdo" überfallen worden sind, getötet worden sind, was ist Ihnen da durch den Kopf gegangen?
    Wladimir Sorokin: Ein Schriftsteller oder Karikaturist sollte seine Arbeit ehrlich machen. Als in den 80er-Jahren Breschnew starb und Andropow an die Macht kam, bereitete mir der KGB ziemliche Schwierigkeiten. Da habe ich eine Sache verstanden: Dem Schriftsteller bleiben nur zwei Möglichkeiten: Entweder er fürchtet sich, oder er schreibt. Es ist wie beim Bergsteigen. Wer Höhenangst hat, sollte zu Hause bleiben. Unsere Literatur hat eine Reihe Beispiele, wie jemand wegen seiner Überzeugungen leiden musste.
    "Putins Anwesenheit wäre fehl am Platz gewesen"
    Adler: Am Wochenende sind in Paris Millionen auf die Straße gegangen. Die Staats- und Regierungschefs der meisten europäischen Länder waren mit dabei. Wladimir Putin, der russische Präsident, hat gefehlt. Er hat stattdessen den Chefdiplomaten des Landes, Außenminister Sergej Lawrow geschickt. Was war das für eine Geste?
    Sorokin: Vielleicht war es ihm klar und auch den Europäern dort, das seine Anwesenheit fehl am Platz gewesen wäre. Während der Putin-Regierung haben viele Menschen wegen ihrer Überzeugungen leiden müssen. Bekannte Personen wie von der Band Pussy Riot, es gab Anklagen, Prozesse und so weiter.
    "Russland treibt weg von Europa"
    Adler: Sie haben Russland verglichen mit einer Eisscholle, die losgebrochen ist und jetzt ohne Steuerung auf dem freien Meer schwimmt. Diese Eisscholle hat naturgemäß keinen Kapitän. Ist Putin nicht mehr der Präsident des Landes?
    Sorokin: Russland ist in einer schwierigen Situation. Russland ist in der Isolation und treibt tatsächlich wie eine Eisscholle weg von Europa. Wie ein Phantom. Das ist traurig. Ich erinnere mich an den Anfang der 90er-Jahre, an das Interesse Europas für Russland, an die Hoffnung, dass Russland jetzt den Weg in Richtung Westen nimmt. Wie wunderbar man damals mit uns Russen umging! Die 14 Jahre Putin-Herrschaft haben das und die Reputation Russlands zerstört. Putin hat eine Zeitmaschine schaffen wollen, zurück in die sowjetische Vergangenheit. Und das hat sich als ein teures Vergnügen herausgestellt. Russland stehen schwere Zeiten bevor. Die Krise wird verstärkt durch die Sanktionen. Die nächsten Jahre werden schwer und dramatisch werden. Mit dem Wohlstand ist es vorbei und die Leute, die gewohnt waren, teure Autos zu fahren und in Europa Urlaub zu machen und das bald nicht mehr können, sie werden das der Regierung sehr übel nehmen.
    "Eine gemeine und zynische Propaganda"
    Adler: Wladimir Sorokin, es hat vor vier Jahren etwa wirklich große Massendemonstrationen gegeben, bei denen vor allem Vertreter der Mittelklasse, Menschen aus der Mittelklasse auf die Straße gegangen sind. Jetzt gibt es diverse Demonstrationen in Europa, die größte in Paris, gestern eine große Demonstration in Berlin. Warum gehen die Menschen jetzt in Russland nicht auf die Straße?
    Sorokin: Sie sind auf die Straße gegangen, sehr viele sogar, und das hat der Regierung ziemlich Angst eingejagt. Doch der Regierung hat der Wohlstand geholfen, alles zu erdrücken. Das 20. Jahrhundert hat das Volk mit Angst und Gewalt in eine gehorsame Biomasse verwandelt. Diese Angst steckt tief in den Menschen. Und Putin und seine Mannschaft machen sich das zunutze. Zusätzlich macht das russische Fernsehen aus den Bürgern Zombies. Eine derart gemeine und zynische Propaganda gab es nicht einmal zu Breschnew-Zeiten. Das Fernsehen feuert wie eine Kanone. Verstrahlt wie mit Radioaktivität die Massen: Aber eine solche Paranoia hält nicht ewig. Die Ernüchterung kommt ziemlich schnell.
    "Europa wird konfrontiert mit einer neuen Art Mittelalter"
    Adler: Sie haben in Ihren Büchern unterschiedliche, aber jeweils immer sehr finstere Zukunftsvisionen von Russland gezeichnet. Was darin nicht vorkam, war eine Annexion der Krim, war Krieg in der Ostukraine, war überhaupt Krieg zwischen Russen und Ukrainern. Hat Ihre Phantasie dafür nicht gereicht? Hätten Sie sich das vorstellen können?
    Sorokin: Vor zwei Jahren habe ich das Buch "Telluria" geschrieben, das in diesem Sommer in Deutschland erscheint. Das ist ein Buch über das neue Mittelalter in Europa und in Russland. Und Leute, die das Buch gelesen haben, sagen, dass sich darin alles entwickelt, wie es gerade jetzt geschieht. Als Autor freut mich das, aber als Bürger alarmiert es mich, wenn ich sehe, was in Paris geschehen ist oder in der Ostukraine. Europa wird konfrontiert mit einer neuen Art Mittelalter. Europa weiß, dass es, wenn es darauf antworten soll, hart zuschlagen und nach den Regeln wie im Mittelalter vorgehen müsste. Dazu ist Europa aber nicht bereit. Die Ereignisse in der Ostukraine haben gezeigt, dass die Europäer unter keinen Umständen kämpfen werden, und das macht sich Putin zunutze.
    "Dafür wird Russland zahlen müssen"
    Adler: Wladimir Sorokin, würden Sie sagen, dass Putin mit dieser Vorgehensweise gegen die Ukraine, gegen den Westen Ihnen Ihre Heimat nimmt?
    Sorokin: Das ist schon früher geschehen, schon zu Sowjetzeiten. Schon da habe ich Russland und die Regierung voneinander getrennt. Russland – das waren nicht Breschnew, Stalin oder Putin. Aber das ist eine schmerzhafte Angelegenheit. Denn das macht einen intelligenten Menschen schizophren. In den 90er-Jahren hatten wir noch die Illusion, dass sich Russland in eine Demokratie verwandelt. Der Fehler bestand darin, dass niemand die sowjetische Vergangenheit begraben hat. So wie Deutschland das getan hat.
    Man begrub die Nazi-Vergangenheit. Bei uns hat man die Leiche in eine Ecke gelegt und gedacht, sie verwest von selbst. Doch statt zu verwesen, erhob sich die sowjetische Vergangenheit wie ein Zombie und erschreckt die ganze Welt. Das Machtsystem von Stalin und noch weiter zurück ins Mittelalter, ist bis heute das gleiche. An der Spitze erscheint irgendeine zufällig dort hingelangte Person, deren psychische Verfassung, deren Komplexe dann Staatspolitik werden. Und dafür wird Russland zahlen müssen.
    Barenberg: Der russische Schriftsteller Wladimir Sorokin im Gespräch mit der Kollegin Sabine Adler.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.