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Kritische Stimmen
"Erdogan hat die Türkei gespalten"

Wer den türkischen Präsidenten Erdogan kritisiert, muss mit "Sanktionen" rechnen. So wie der Schauspieler Levent Üzümcü, der nach deutlichen Worten sein Engagement am Theater verlor. Doch viele Künstler sehen, dass die Lebenswelten in ihrem Land immer weiter auseinanderdriften. Klar, dass viele von ihnen am kommenden Wahlsonntag vor allem die Opposition unterstützen.

Von Thomas Bormann | 28.10.2015
    Der türkische Präsident Erdogan.
    Der türkische Präsident Erdogan. (dpa/picture-alliance/Martti Kainulainen)
    Das Städtische Theater Istanbuls: Levent Üzümcü ist Schauspieler mit Leib und Seele. Nicht nur auf der Bühne zeigt er Engagement, sondern auch, wenn er sich mit seinen politischen Gegnern auseinandersetzt, und das sind die Politiker der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP; allen voran Staatspräsident Erdogan. Schauspieler Üzümcü hat die Reden Erdogans genau untersucht und kommt zu dem Schluss: Erdogan wolle alle Bürger der Türkei bevormunden:
    "Wie viele Kinder wir bekommen sollen, was wir trinken und was wir nicht trinken sollen, wie Satire zu sein hat, wie weit Kritik gehen darf, wer moralisch korrekt ist und wer nicht. Erdogan sieht sich dazu berechtigt, darüber zu urteilen."
    Erdogan habe die Türkei gespalten, so der Schauspieler Levent Üzümcü:
    "Die Türkei ist heute ein Land, das von ihrem politischen Führer so weit polarisiert wird, dass sich die Menschen heute überall in zwei Lager aufteilen: auf den Straßen, in den Schulen, am Arbeitsplatz, in Fußballstadien, vor dem Computer und sogar zu Hause."
    Die Kritik am Präsidenten hatte Folgen für den beliebten Schauspieler Levent Üzümcü: Er wurde fristlos entlassen, tritt nun nicht mehr im Städtischen Theater auf.
    Manche Schauspieler und Künstler halten sich denn auch mit Kritik zurück. Schon ein Witz über Erdogan, den man auf der eigenen Facebook-Seite veröffentlicht, könnte Folgen haben.
    Umso klarer beziehen prominente Künstler Stellung, wie der Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk. Er meint, die Radikalisierung der Politik erreiche eine neue Dimension - und auch er gibt der Regierung und dem Präsidenten Erdogan die Schuld daran.
    Im Südosten der Türkei nun wieder gekämpft und nicht mehr verhandelt, hier wird die Radikalisierung der Politik besonders deutlich.
    "Für Erdogan ist alles, was er tut, legitim"
    Aber auch in Alltagsfragen zeigt sich, dass die Regierung keinen Dialog mit den Bürgern sucht, wie der Streit um das Design der neuen Bosporus-Fähren in Istanbul zeige, so Orhan Pamuk:
    "Vor acht Jahren hatte die AKP-Stadtverwaltung bei der Ausschreibung neuer Bosporus-Fähren die Bürger noch gefragt, wie diese Fähren denn aussehen sollen. Heute fragen sie die Bürger gar nichts mehr. Das zeigt, in welche Richtung sich die AKP entwickelt hat."
    Er hat den Kamerablick: Der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk bei einer Lesung in Krakau 2012
    Der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk bei einer Lesung. (dpa / picture alliance / Jacek Bednarczyk)
    Orhan Pamuk blickt pessimistisch in die Zukunft, und auch die 75-jährige Schriftstellerin Oya Baydar glaubt nicht, dass es zwischen der Künstler-Szene und der islamisch-konservativen Partei von Recep Tayyip Erdogan jemals einen Dialog geben wird. Im Gegenteil, Erdogan sei immer stärker davon überzeugt, im Recht zu sein, so die Schriftstellerin Oya Baydar:
    "Das ist Tayyip Erdogans Wunsch: Er möchte alles bestimmen."
    Das kommt nicht von ungefähr: Erdogan stammt ja aus der islamischen Bewegung. Dort werden Führer als Personen betrachtet, die von Gott mit besonderen Fähigkeiten ausgestattet wurden. Erdogan sieht sich selbst als eine solche Person. Dies zu verstehen, mag uns schwer fallen. Doch er selbst sieht sich so. Und deshalb ist aus seiner Sicht alles, was er tut, legitim und berechtigt.
    Erdogan lebt in einer anderen Welt als die meisten Künstler in der Türkei – diese beiden Welten driften immer weiter auseinander. Klar, dass viele türkische Künstler am kommenden Wahlsonntag vor allem den Oppositionsparteien die Daumen drücken.