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Krumme Gurken
Mythen der Europäischen Union

Vor 30 Jahren schrieb die Europäische Union die maximal zulässige Krümmung von Salatgurken vor. Bis heute ist das ein Symbol für den angeblichen Regulierungswahn Brüsseler Bürokraten. Dabei wurde die Verordnung längst abgeschafft. Und Brüssel war auch gar nicht die treibende Kraft dahinter.

Von Benjamin Dierks | 16.06.2018
    Eine Gemüsehändlerin zeigt am 30.06.2009 auf dem Isemarkt in Hamburg zwei krumme Gurken in Herzform.
    Die berüchtigte EU-Vorschrift zum Krümmungsgrad der Gurke wurde vor Jahren wieder abgeschafft. (picture-alliance / dpa / Kay Nietfeld)
    Wenn Stimmung gegen die EU gemacht wird, dann nennt man sie Bürokratiemonster oder man unterstellt ihr, sie wolle mit ihren Vorstößen einer gemeinsamen EU-Politik nationale Souveränität untergraben.
    Ein Klassiker zum Thema Brüsseler Regulierungswut ist die Geschichte von der Gurkenkrümmungsverordnung. Die würde dieses Jahr 30 - wäre sie nicht schon seit zehn Jahren Geschichte.
    Gesichter Europas nimmt das zum Anlass, einige Mythen über die EU mithilfe von Fakten geradezubiegen.
    Mythos Regulierungswahn: Erlässt die EU überzogene und nutzlose Vorschriften?
    Vor 30 Jahren erließ die EU die Verordnung Nummer 1677/88/EWG über die Maximalkrümmung von Salatgurken als europäisches Recht - auf Betreiben von Handelsverbänden und Agrarministern der Mitgliedsstaaten. Die Verordnung gibt es längst nicht mehr. Dennoch lebt das Ideal von der geraden Gurke weiter - in Gewächshäusern und bei Handelsketten.
    "Das ist eigentlich Kundenbedingung, so Rewe, Edeka, die legen das fest: So muss eine Gurke aussehen. Die greifen eigentlich immer noch zurück auf das EU-Verfahren", sagt der Gemüsebauer Kees Vahl.
    Praktische Gründe habe es aber auch: "Wir können einfach nicht in die Klasse I die krummen Gurken tun, weil die dann nicht mehr in die Kisten passen."
    Warum Europas Gurken auch ohne Verordnung gerade sind
    Mythos Bürokratiemonster: Verbringt die EU zu viel Zeit mit komplizierten Gesetzen und Verordnungen?
    Die jetzige EU-Kommission bringt rund 25 Gesetze pro Jahr auf den Weg. Bei der Vorgängerkommission waren es noch 150. Es gibt inzwischen sogar eine Meldeplattform für mutmaßlich zu komplizierte EU-Regulierung.
    "Die Kommission nimmt eine Generalüberholung vor", sagt der Arbeitgeber-Lobbyist Jens Hedström. "Sie gucken sich die gesamte Gesetzgebung an. Das ist die Chance für Bürger und Unternehmen, auf die Dinge hinzuweisen, die zu kompliziert sind, damit sich jemand darum kümmert."
    Auch die Verbraucherschützerin Ursula Pachl findet die Entwicklung interessant. Sie warnt aber: Unternehmen Bürokratie zu ersparen, könne in ein reines Deregulierungsprogramm zu Lasten der Verbraucher ausufern.
    Über die selbstverordnete Bürokratie-Entschlackungskur der EU
    Mythos Einmischung: Wünschen sich EU-Bürger so wenige Regeln aus Brüssel wie möglich?
    Es gibt viel Kritik, die EU würde sich bei zu vielen Themen einschalten. Umfragen ergeben aber, dass die Bürger sich bei Themen wie Datenschutz durchaus supranationale Einmischung wünschen.
    Der EU-Kommissionsvize Jyrki Katainen meint: "Obwohl man sagt, dass wir in Zeiten von Populismus und EU-Kritik leben, scheinen sich doch viele Leute dafür zu interessieren, in welche Richtung die EU sich bewegt - und sie haben ihre eigenen Vorstellungen davon, wo es hingehen sollte. Und wir hören zu."
    Auch der grüne EU-Parlamentarier Jan Albrecht glaubt, "dass die Leute sehen, die Europäische Union hat für sie einen Sinn, einen Mehrwert." Wenn man die Öffentlichkeit denn auch engmaschig einbinde.
    Über den Wunsch nach supranationaler Einmischung
    Mythos Geheimbund: Arbeiten EU-Abgeordnete als Volksvertreter transparent?
    EU-Parlamentarier kassieren aus Steuermitteln Geld, über dessen Verwendung man nichts erfährt? Tatsächlich sind die Abgeordneten etwa beim Ausgeben ihrer "allgemeinen Kostenvergütung" in Höhe von monatlich rund 4.300 Euro niemandem Rechenschaft schuldig.
    Der slowenischen Investigativjournalistin Anuška Delić gefällt dieser Zustand nicht: "Ich habe gar nichts dagegen, dass sie eine Aufwandsentschädigung erhalten. Aber ich habe schon etwas dagegen, dass niemand nachvollziehen kann, wofür sie sie ausgeben." Im "MEP Project" recherchiert sie mit Kollegen, was die Abgeordneten mit dem Geld machen. Und stieß bei manchen Abgeordneten auf verdächtig viel Widerstand. Manche antworteten ihr gar nicht ernst.
    Allerdings hätten inzwischen einige Abgeordnete ihre Ausgaben offengelegt, sagt Nicholas Aiossa von Transparency International. "Viele Delegationen im Parlament haben verstanden, dass sie schon irgendwie Rechenschaft darüber ablegen müssen, wenn sie Steuergeld ausgeben."
    Wofür EU-Abgeordnete Steuergelder ausgeben
    Mythos Diktat aus Brüssel: Macht die EU den Mitgliedsstaaten Vorschriften, die deren Souveränität untergraben?
    Viele Populisten, unter ihnen Ungarns Premier Viktor Orban, unterstellen der EU die Absicht, die Souveränität der Nationalstaaten auszuhebeln. Orban erzählt den Ungarn, Brüssel habe sich mit seinem Gegner George Soros verschworen, um Europa durch Masseneinwanderung zu schwächen und ihnen ihr Land zu nehmen.
    Orbans Rhetorik geht weit über eine Kritik an der angeblichen Regulierungswut der EU hinaus. "Er will eine ganz andere Europäische Union haben", sagt der Ungar Péter Niedermüller. Er ist als EU-Abgeordneter unter anderem für die Asylpolitik der EU zuständig.
    Er gelte regierungsnahen Kreisen in der Heimat damit als Feind und Verräter. Denn Orbans Regierung habe "eine ganz eigene Vorstellung von Demokratie: Alle müssen hinter uns stehen und alle diejenigen, die eine andere politische Meinung haben, die sind entweder Verräter oder unsere Feinde oder ich weiß nicht was."
    Nationalisten sehen Brüsseler Angriff auf ihre Souveränität