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Kunst
Todgeweihte leben länger

Unheilbare Krankheiten wertsteigern die Arbeit von Künstlern. Beispiele dafür sind Christoph Schlingensief oder auch Wolfgang Herrndorf. Tina Klopp untersucht in ihrem Essay die These, dass früher eher kollektive Unrechts- oder Leiderfahrung einem künstlerischem Werk Bedeutsamkeit verliehen, während es in der heutigen Wohlstandsgesellschaft vermehrt die persönlichen Erfahrungen und Leidenswege eines Künstlers sind.

Von Tina Klopp | 31.05.2015
    Der Regisseur Christoph Schlingensief, der 2010 an Lungenkrebs verstorben ist.
    Der Regisseur Christoph Schlingensief, der 2010 an Lungenkrebs verstorben ist. (imago/SKATA)
    Das Video zeigt eine Schwarz-Weiß-Aufnahme aus dem Körperinneren, irgendwelche Zellen, mikroskopiert, Lungenbläschen möglicherweise. Dazu die Stimme eines Mannes. Er erzählt von seiner Bronchoskopie. Und von den Möglichkeiten, die ihm jetzt noch blieben. Er denke darüber nach, alle Behandlungen abzubrechen und mit einem Haufen Schmerzmitteln im Koffer nach Afrika zu fliegen, sagt er. Oder dem Leben jetzt gleich ein Ende zu setzen. Wenn er nur wüsste, wie er das seiner Frau und seinen Freunden begreifbar machen sollte; wie erklären, dass es nichts mit ihnen zu tun hat.
    "[...] Dass es mir einfach an totaler Kraft fehlt, wahrscheinlich schon seit ein oder zwei Jahren, oder schon immer, ich kann mich eben nicht so lieb haben, wie ich mich vielleicht manchmal haben müsste, ich kann mich nicht so, in dem, was ich mache, als guten Menschen begreifen oder als jemanden, der..., also irgendwie bin ich mir vielleicht nie ganz wohl so in mir."
    Home-Video mit tragischer Dimension
    Zeitgenössische Kunst kennzeichnet, dass sie nicht mehr aus sich selbst heraus zu verstehen ist. Es ist weder das Bild der kranken Zellen, noch der Kirchennachbau selbst, der Schlingensiefs "Kirche der Angst" schon zur Kunst erklärte. Ihre Wucht bezieht diese Arbeit vielmehr daraus, dass der Betrachter um die Krebserkrankung des ehemaligen Messdieners und Künstlers Christoph Schlingensief weiß und an seinem persönlichen Schicksal teilhat.
    Goldener Löwe posthum für Schlingensief
    In diesem Rahmen gezeigt, gewinnt ein krisseliges Home-Video vom Schlingensiefschen Familienausflug ans Meer unvermittelt eine tragische Dimension: Der Vater zieht den Jungen an den Füßen eine Düne hinab, Strandhafer biegt sich im Wind, die Mutter breitet das Handtuch aus. Der junge Mensch, der da fröhlich durch den Sand pflügt, hatte seine ganze Zukunft vor sich. Aus Perspektive des Kindes muss sich die bevorstehende Zeit unendlich lang angefühlt haben. Jetzt, der 40. Geburtstag liegt noch nicht allzu lange zurück, geben die Ärzte Christoph Schlingensief nur noch wenige Monate zu Leben. Die Kraft ist verbraucht.
    Wer dann im sakral geschmückten Deutschen Pavillon in Venedig stand, wo dem Künstler posthum der Goldene Löwe für diesen Nachbau der "Kirche der Angst" verliehen wurde, hätte ein Herz aus Stein haben müssen, um von der Wirkung der Installation nicht ergriffen zu werden.
    Wertzuwachs biografischer Erzählungen
    Es war eigentlich schon immer so: Wer über die Biografie eines Künstlers, die Entstehungsgeschichte seines Werks und die Bezüge zu anderen Arbeiten Bescheid wusste, hatte meist mehr davon. Nur dass heute der Werkbegriff als Ganzes in Auflösung begriffen ist, während die Biografie des Künstlers an Bedeutung gewonnen hat. Wir leben im Zeitalter des Individuums, es gibt einen Hang zum biografischen Erzählen.
    In der Literatur finden sich ganz ähnliche Mechanismen. Aufregende Lebensgeschichten von Menschen, die niemand kennt, verkaufen sich schlecht. Ganz anders verhält es sich mit Biografien von Prominenten, selbst wenn diese langweilig geschrieben sind. Ihr Erfolg hat mit den Qualitäten der Texte an sich nichts zu tun, der eigentümliche Wertzuwachs geschieht an anderer Stelle, irgendwo zwischen den biografischen Angaben auf der Rückseite und dem klangvollen Namen auf dem Cover des Buches.
    Der Prominenzfaktor mag auch erklären, warum es eine nachgelassene Platte von Michael Jackson auf Anhieb in die internationalen Top Five schafft, obwohl der Popstar darauf teilweise klingt, als habe er Grippe und improvisiere für einen Karaoke-Abend. Da es sich aber um die letzten Tonerzeugnisse eines Superstars handelt, spielen die üblichen Qualitätskriterien keine Rolle.
    "Wolfgang Herrndorfs Wunsch, diesen Roman zu Ende schreiben zu können, hat sich nicht verwirklicht. Seinen Wunsch, jemand anderes möge ihn zu Ende schreiben, hat auch niemand erfüllen wollen. Und so bleibt "Bilder deiner großen Liebe" das, was der Untertitel annonciert: ein unvollendeter Roman. Ein 'kaputtes' Werk, in dem der Leser den Autor aber doch findet - und nicht nur in der Figur des Mannes in der grünen Trainingsjacke auf dem Friedhof."
    Dieses Zitat von Marcus Gärtner und Kathrin Passig aus dem Vorwort des Herrndorf Romans ist ein weiteres Beispiel für diese interessante Fokusverschiebung: Wer über Romane von Wolfgang Herrndorf redet, wird dabei zwangsläufig auf den Hirntumor des Autors zu sprechen kommen. Und sei es nur, um sich und andere zu ermahnen, es mit den Dingen, die wichtig sind, wirklich ernst zu nehmen - schließlich könnte es ja schon morgen zu spät sein. Wer Bücher von Herrndorf kauft, erwirbt auch ein Stück Einsicht in die Endgültigkeit.
    Ein einfaches Gedankenspiel mag verdeutlichen, wie wichtig die persönliche Geschichte eines Künstlers heute für den Erfolg seiner künstlerischen Arbeit ist: Würde man sich etwa mit der posthum veröffentlichten Aufnahme von Michael Jackson unter fremden Namen bei einem Bandcontest bewerben oder den nachgelassenen Fragment-Roman von Wolfgang Herrndorf zur Prüfung bei einem Verlag einreichen, es wäre womöglich mit Absagen zu rechnen. Die "Fall-Videos" des mehrfach ausgezeichneten, niederländischen Künstlers Bas Jan Ader, der sich selbst dabei filmte, wie er vom Dach eines Hauses stürzt oder mit dem Rad geradewegs auf eine Gracht zufährt und ins Wasser fällt, könnte man problemlos bei einem YouTube-Wettbewerb um das schönste Spaßvideo einsenden, ohne dabei zwangsläufig unter Kunstverdacht zu geraten.
    Umgekehrt kann heute ein jeder zum Star werden, ohne zwangsläufig so etwas wie ein Werk vorzulegen. Andreas Reckwitz beschreibt das Phänomen in seinem Buch "Die Erfindung der Kreativität". Zum Prozess der gesellschaftlichen Ästhetisierung unter anderem am Beispiel moderner Promis. Man denke etwa an Paris Hilton: Ihr Name wurde zur Marke, obwohl sie kaum mehr getan hat, als sich auf Partys herumzutreiben. Die Weiterentwicklung dieser Logik spielt die Künstlerin Marina Abramović durch, wenn sie, wie in ihrer Ausstellung "The Artist is Present" im Museum of Modern Art nichts anderes präsentiert als sich selbst - bewegungslos auf einem Stuhl sitzend, 90 Tage lang.
    Todesnähe verliehen einem Werk Gravität
    So wie auf dem Rücken eines jeden Buchs, das nach einem Platz auf den Bestseller- und Bestenlisten strebt, unter den Stationen des Autors wenigstens New York und Tokio und zudem ein ungewöhnlicher Nebenjob verzeichnet sein sollten, gibt es biografische Merkmale, die sich grundsätzlich wertsteigernd auf die Arbeiten eines Künstlers auswirken. Schwer zu überbieten sind dabei Merkmale aus der Sparte Tod und Sterben - höchstens tragische Liebe, brutale Gewalt, Wahnsinn, Mut, unermessliche Güte oder irrsinniger Reichtum können da mithalten.
    Zunächst bieten schwere Krankheit und Tod einen gewissen Schutz vor Kritik. Schon aus Pietät spricht man nicht schlecht über Kranke oder kürzlich Verstorbene. Und im Gegensatz zur allgemeinen Wahrnehmung, wonach ein wenig Großspurigkeit in Sachen Erfolg eigentlich nicht schaden kann, werden bedeutende Preise zum überwiegenden Teil an Menschen vergeben, die sich nach außen eher zurückhaltend präsentieren. Man denke etwa an die Literaturnobelpreisträger Alice Munro oder Patrick Modiano. In Wirtschaft und Politik mögen Stärke und ein ausgeprägtes Selbstwertgefühl Bewunderung auslösen, bei Künstlern und Intellektuellen führt ein gewisses Maß an Demut eher zum Ziel. Auch wenn über Alpha-Künstler wie Jeff Koons und Damien Hirst ständig berichtet wird, so geschieht das doch selten frei von Spott; die Liebe echter Kunstliebhaber lösen andere Persönlichkeitsstrukturen aus.
    Ein schweres persönliches Schicksal nimmt Konkurrenzgefühlen die Schärfe und ebnet schneller den Weg zu guten Rezensionen. Auf einen Menschen mit einer tödlichen Diagnose muss man nicht neidisch sein; er wird bald niemandem mehr etwas wegnehmen.
    Mitleid allein reicht natürlich nicht, um ein bedeutendes Œuvre zu begründen. Viel wichtiger ist, dass die Todesnähe einem Werk Gravität und Ernst verleiht, und zwar in einem Maße, das von einem quietschfidelen, jungen Künstler nicht so ohne Weiteres zu synthetisieren wäre. Das gilt insbesondere für die bürgerliche Nachkriegsgeneration, die in der Regel frei ist von Leiderfahrungen wie Krieg, Missbrauch oder Verfolgung. Höchstens noch die jüngere DDR-Geschichte wirkte etwa im Fall der Neuen Leipziger Schule noch wertsteigernd auf ein künstlerisches Werk, ansonsten müssen Exportkünstler wie etwa Pussy Riot oder Ai Weiwei her, um dieses Vakuum zu füllen. Für viele westliche Künstler bleibt stattdessen nur der Rückgriff auf individuelles Leid: Krebs statt Holocaust, Magersucht statt Nachkriegshunger. Leiden am Überfluss, am eigenen Erfolg, Darstellung von Selbstzerfleischung, kreativer Überarbeitung und Burn-out.
    Es ist daher ganz interessant, den Zugewinn an Gravität an konkreten Beispielen nachzuvollziehen, etwa an den Feuilleton Rezensionen zu Christoph Schlingensief und Wolfgang Herrndorf jeweils vor, während und nach Bekanntwerden ihrer Krebsdiagnose. Auch die Rezensionen zu Bas Jan Ader und Michael Jackson, denen die Todesnähe zumindest nachträglich ins Werk geschrieben wurde, sind aufschlussreich.
    Im Lexikon des internationalen Films heißt es über Schlingensiefs "Das deutsche Kettensägenmassaker" aus dem Jahr 1990:
    "Ein gewollt 'geschmackloser' und 'gewalttätiger' Film, der mit dem Holzhammer daherkommt, aber dabei weniger provoziert, als überwiegend banal erscheint."
    Und "Der Spiegel" schreibt über den "adretten Apothekersohn aus Oberhausen":
    "Seine brutalen Kunst-Bilder vom Elend der Welt und Zerfall aller Werte nutzen sich genauso ab wie die Bilder im Fernsehen, die er unverdrossen bekämpft."
    Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" spöttelt:"Der 32-jährige Schlingensief werkelt fleißig an seinem Ruf als Enfant terrible. [...] Auf der Bühne ein enervierendes Auf und Ab, ein ständiges Geschrei und Getöse, Aktionismus als purer Leerlauf. Mit dem Furor eines Pennälerulks setzt der Chaos Filmer die Theatermaschinerie in Gang. Nichts ist langweiliger als Radau und Remmidemmi en suite."
    Auch die "Frankfurter Rundschau" fühlt weniger den eigenen Konservativismus entlarvt, vielmehr entlarvt umgekehrt sie Schlingensiefs Tun als Effekthascherei:
    "Die Schockwellen, die von seinen Imitationen des Aktionismus und pornografischen Paraphrasen ausgehen, verebben irgendwo zwischen der Rampe und den Zuschauern."
    Es fehle bei allem Aktionismus an Analyse, an echter Kritik. Schlingensief sei lediglich von der Angst besessen, "irgendeine Regel des Theaters beachtet zu haben. [...] Er hantiert mit den schwersten Geschossen der einstigen Avantgarde, doch anders als in der Postmoderne üblich zitiert er nicht ironisch", urteilte der "Rheinische Merkur" im Oktober 1995. In der "Welt am Sonntag" darf sich der gleiche Kritiker ein Jahr später über die Inszenierung von "Begnadete Nazis" hermachen:
    "Schlingensief verfehlt jedenfalls die kritische Masse in jeder Hinsicht, die Aktionen - lahm, die verbalen Attacken - ungezielte Provokationsversuche, die seine Ohnmacht als Polemiker signalisieren."
    Erst viele Jahre später scheint Schlingensief mit Wagner dann sein Thema und endlich die breite Anerkennung gefunden zu haben. "Von Blut und Moden", von "oberflächlicher Aktualisierung" wolle er nun nichts mehr wissen schreibt Der "Tagesspiegel" 2006:
    "Schlingensief strahlt: 'Man versteht mich jetzt viel besser. Ich bin ja Christ und Wagnerianer, Mozart liegt mir ferner! Wenn Amfortas um seine Erlösung durch den Tod bittet, bin ich zu Tränen gerührt.'"
    "Macht Bayreuth krank?", fragt ihn der "Tagesspiegel" schon im Jahr 2004. Schlingensief bejaht.
    "Ich hatte das Gefühl, ich bin Jack Nicholson in Kubricks Film "Shining", der durch die Gänge des riesigen, leeren Hotels läuft und sich plötzlich auf einem Bild wiederentdeckt. Vielleicht bin ich schon tot, und das Bild ist eine Erinnerung an das letzte Leben. Ich bin der festen Überzeugung, dass ich nach Parsifal Krebs kriege, wie Heiner Müller."
    Mit dem Krebs kommt die Liebe der Medien
    Und das passiert dann auch, Schlingensief erkrankt wie Heiner Müller am Bronchialkarzinom. Von da an, man kann es nicht anders sagen, lieben ihn die Feuilletons. Selbst die Zeitungen, die vorher nur Schlingensief-kritische Texte druckten, schlagen plötzlich einen anderen Ton an. Aus dem "Remmidemmi" wird nach der Krebsdiagnose ein neutrales "Aufsehen erregen". Und hieß es 1995 in der "Frankfurter Rundschau "noch vernichtend: "Seine Anstrengung, sich immer wieder zu überbieten, scheitert am Grenzwertgesetz des immer geringeren Nutzens", so ist nun von einem physischen und psychischen An-die-Grenzen-gehen die Rede:
    "Er mutet sich, seinen Akteuren und dem Publikum schmerzhafte Erfahrungen zu."
    In der "Münchner Abendzeitung" heißt es gar:
    "Es ist fast eine Wiederauferstehung: Christoph Schlingensief (47) ist zurück."
    Keineswegs so etwas Banales wie Nikotinkonsum und persönliches Unglück seien schuld an der Erkrankung, sondern die Verausgabung in seiner Arbeit am "Parsifal", Wagners Weltabschiedswerk, das Schlingensief 2004 in Bayreuth inszenierte, diese Vorstellung wird vom Künstler selbst bestärkt.
    "Die andauernde Beschäftigung über Jahre mit dieser Todesnähe [...], das wurde fast zu viel. [...] Ich habe mir in den Jahren in Bayreuth, als der Krebs schon zu wachsen begann, ein paar Dinge erlaubt, die nicht zu meinem Naturell gehören. Dagegen lehnt sich auch der Körper auf. Man fährt wahrscheinlich sehr oft nach Bayreuth nicht, um zu leben, sondern um zu sterben."
    Von da an kein hämischer Ton mehr in den Rezensionen, nicht einmal angesichts des Operndorfes in Burkina Faso, für das sich manch kerngesunder Künstler vermutlich heftigen Spott eingefangen hätte. Selbst die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" findet plötzlich liebevoll:
    "Als Regisseur leistete er leidenschaftlich und in einer fast kindlichen Offenheit Widerspruch."
    Und die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" erkennt im Nachhinein:
    "Schlingensief verstand, selbst wenn er sich dumm stellte, seine Kunst immer als Form von Exorzismus, mit dem er der Gesellschaft und noch mehr sich selbst etwas austreiben wollte: den in ihr und sich vermuteten Rassismus, die Dummheit, die Liebesunfähigkeit, die Angst."
    Wolfgang Herrndorf:
    "Es geht um zwei vierzehnjährige Jungs, und auf die Idee zu dem Buch bin ich gekommen, weil ich die letzten Jahre Bücher meiner Jugend wiedergelesen habe, also Sachen, die mir gefallen hatten. Und da ist mir aufgefallen, dass diese Bücher alle drei Gemeinsamkeiten hatten, nämlich erstens, die Erwachsenen werden sofort eliminiert, zweitens es geht auf eine große Reise, und drittens: aufs Wasser. Das schien ein gutes Rezept für ein Jugendbuch zu sein. Ich fragte mich dann, wie ich das heute in der Bundesrepublik des Jahres 2000 irgendwas machen könnte, wenn ich wollte, und da ist mir nichts eingefallen außer zwei Jungs klauen ein Auto und fahren herum."
    Diese Geschichte wurde sehr oft erzählt und sie ist fast unverbrüchlich mit dem Megaerfolgsroman verbunden: Erst die Krebsdiagnose, so geht die Lieblingsmär der Feuilletons, habe den Autor Wolfgang Herrndorf veranlasst, seinen Roman zu schreiben. Interessanterweise ist die lange Vorgeschichte, die Herrndorf als Autor schon vor "Tschick" vorzuweisen hatte, darüber nahezu in Vergessenheit geraten. Vielleicht, weil die überragende Qualität seiner Texte damals literarisch zu begründen war? Schriftstellerische Qualitäten haben im Gegensatz zu einer aufsehenerregenden Krankengeschichte das Problem, dass sie nicht jedem gleichermaßen in Erinnerung bleiben. Zumal sie sich nicht für den nächsten Party-Talk eignen.
    Schon vor mehr als zehn Jahren erschien "In Plüschgewittern", der erste Roman von Wolfgang Herrndorf, der, von zwei, drei positiven Besprechungen abgesehen, ziemlich unterging. Von einem "Stahlgewitter der Einsamkeit, dem sich dieser verzweifelte Romantiker aussetzt", ist da zum Beispiel in der "Frankfurter Allgemeine Zeitung" aus dem Jahr 2002 die Rede. Auch Herrndorfs Beitrag zum Bachmannpreis 2004 erfuhr dezente Anerkennung, da er "kühl von einer höchst unwahrscheinlichen Annäherung eines bindungsunfähigen, depressiven Mannes und eines pubertierenden Jungen" erzählte, wie die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" 2004 berichtete, und der Text ihm auch den Publikumspreis einbrachte. Im gleichen Jahr erschien ein - wenn auch nicht enthusiastisches, dann aber doch sehr wohlwollendes - Porträt in der "taz". Über den Erstling von 2002 heißt es darin:
    "In der Tradition von Pop-Romanen wie Krachts "Faserland" oder Stuckrad-Barres "Soloalbum" stehend, war dieses Debüt 'nicht unbedingt neu und originell', wie Herrndorf zugibt. Doch hatte das völlige Danebenliegen seiner Figuren viel Eigenes, zeichneten sie sich doch weniger durch Zynismus und Durchblickertum aus, als vielmehr durch Melancholie und Verzweiflung."
    Herrndorf selbst bezeichnet sich in dem Artikel als "eine Art Unterhaltungsschriftsteller". Zugleich gibt sich der ehemalige Kunststudent als in Geschmacksfragen eher rückwärtsgewandt zu erkennen:
    "Ich fand es immer deprimierend, wie großartig die holländische Malerei des 17. Jahrhunderts gewesen war. Alles, was danach kommt, halte ich für Unsinn oder zumindest Lichtjahre davon entfernt."
    Vorbehalte gegenüber Avanciertem, aber auch Misstrauen gegenüber Akademikern, Journalisten, Intellektuellen - das klang bei Herrndorf immer wieder mal an. Auch in der viel zitierten Formulierung in seinem Testament:
    "Niemals Germanisten ranlassen. Freunde bitten, Briefe etc. zu vernichten. Journalisten mit der Waffe in der Hand vertreiben."
    Solche Vorurteile tragen dem Autor beim breiten Publikum natürlich Sympathien ein.
    "Doch Malerei hin, Literaturbetriebseigentümlichkeiten her",
    Schließt die "taz" ihr Porträt, "auch Herrndorf nimmt es gern in Kauf, vor lauter Schreiben so manche andere Dinge des Lebens nur noch am Rande wahrzunehmen."
    Herrndorf habe Wespen im Haus, komme aber vor lauter Schreiben nicht dazu, sie zu vertreiben, heißt es in dem Artikel. Das war 2004, wohlgemerkt, was die Behauptung, der Schreibwahn habe ihn erst nach der Krebsdiagnose ereilt, ein wenig relativiert.
    Nach Bekanntwerden der Diagnose kann man dann im "Spiegel" lesen:
    "Der Autor findet in der beinahe pausenlosen Arbeit am Computer die einzig sinnvolle Ablenkung von der Krankheit, begünstigt wird sein Furor durch eine Nebenwirkung der Hirnoperation: Er rede schneller und denke schneller als früher, stellt der Patient fest, er schreibe auch 'ungefähr dreimal so schnell wie sonst und zehnmal so viel'."
    Stärker kann sich eine tödliche Diagnose wohl kaum in ein Werk einschreiben. Spätestens mit dem Folgeroman "Sand" wird aus dem "Unterhaltungsschriftsteller" ein Philosoph. Dazu formuliert der "Focus":
    "Es geht in dem Buch gleichnishaft auch um die uralten Fragen der Philosophie: Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? Wozu diese seltsame Sache namens Leben?"
    Auch wenn Herrndorf an anderer Stelle gesteht, dass er "Sand" eigentlich schon vor Jahren angefangen habe, weil er dachte, er müsse Geld verdienen, wird selbst dem angenehm beiläufigen Humor des Autors unter dem Hinweis, dass "Sand" sein letztes Buch sein könnte, größtmöglicher Tiefgang abgerungen:
    "Er hat ein fabelhaftes komisches Talent, und vielleicht ist das Lachen die beste Reaktion auf die Erkenntnis, dass vielleicht alles, absolut alles, letztlich im Sand verläuft."
    Sakrale Züge der Rezensenten
    In einem späteren Artikel mit dem Titel "Wenn der Tod das Tempo vorgibt" weiß sich der "Focus" in seiner Anerkennung noch zu überbieten:
    "Seitdem er an Krebs erkrankt ist, gelingen ihm atemraubende Bücher."
    Sakrale Züge nimmt der Ton der Rezensenten dann anlässlich Herrndorfs nachgelassenen Romans "Bilder deiner großen Liebe" an. Das Buch ist teilweise Fragment geblieben und hält laut der "Süddeutschen Zeitung" den Vergleich mit den ganz Großen Stand, denn es gehöre schon jetzt in die Reihe jener Werke der Literatur, die den Begriff des Fragments umgewertet hätten:
    "Wie Franz Kafkas unvollendete Romane oder Georg Büchners "Woyzeck" haben sie aus dem, was vormals der Name eines Makels war, einer defizitären Form, ein eigenes literarisches Genre begründet."
    Der Schriftsteller Thomas Melle, vom Bayerischen Rundfunk nach seiner aktuellen Lektüre befragt, traut sich, das Fragment als das zu benennen, was es seiner Meinung nach eher ist - Fanliteratur.
    "'Herr Melle, was lesen Sie denn gerade?'
    "Ich tue mich wieder bei Nabokov um gerade und lese da ältere Erzählungen, die ich als Jugendlicher gelesen habe und schaue, ob die noch taugen. Tun sie. Und ansonsten bin ich bei Herrndorf gerade, "Bilder deiner großen Liebe" und schaue mir das an, wie da sozusagen der Bonus von "Tschick "von statten geht.'
    "Und funktioniert es, ist es so gut?'
    "Bilder deiner großen Liebe?" Es ist was für Fans, würde ich sagen, ja. Es funktioniert, aber man muss schon das Ganze sehr, sehr mögen, um das mitzumachen. Also, ich bin nicht ganz so überzeugt oder berauscht wie der Rest der Leute."
    Zeitalter der individuellen Überhöhung
    Michael Jackson hatte keinen Krebs. Doch glaubt man den Feuilletons, so wurde auch er gegen Ende seines Lebens innerlich von etwas zerfressen. Bei ihm war es das Starsein als solches, das im wahrsten Sinne an die Substanz ging. Da sein Vater ihn schon von frühester Kindheit an auf Erfolg getrimmt hatte, litt Jackson an einem ständigen inneren Widerspruch, der sich auch körperlich manifestierte. Er hatte sich zahlreichen Schönheitsoperationen unterzogen, zu einer Zeit, als das noch weit unüblicher war als heute. Und so mutmaßte die halbe Weltöffentlichkeit in kurioser Schaulust, ob ihm wohl eines Tages die eigene Nase aus dem Gesicht fallen würde.
    Kein Wunder, dass eine solch substanzielle Frage die zeitgenössische Kunst inspirierte. So schreibt etwa das "Art-Magazin", die Südafrikanerin Candice Breitz habe Michael Jacksons Sterben schon 2005 vorweggenommen:
    "Für "King - A Portrait of Michael Jackson" filmte Breitz in Berlin 16 Jackson-Fans, wie sie sämtliche Titel des Albums lauthals mitsingen, während sie über Kopfhörer das Original hören. Obwohl der Star weder in Bild noch Ton anwesend ist, atmet die kollektiv-einsame Performance seiner Jünger ganz seinen Geist. Längst haben sich seine Songs und Choreografien ins kulturelle Unbewusste eingefressen."
    Vom Fressen und Gefressen werden ist auch in Zusammenhang mit "Michael Jackson Fucked Up (Big Head)" die Rede, einer Arbeit des Amerikaners Paul McCarthy von 2002:
    "Mit den deformierten Köpfen findet McCarthy eine Form für die Unwucht und das Angefressene, das Jacksons Bild in den Medien längst angenommen hat."
    Jacksons Krankheit lässt sich im Zeitalter der individuellen Überhöhung in eigentümlicher Fortsetzung zu den gemalten Gesichtern lesen, die der sterbenskranke Alexej Jawlensky aufgrund seiner verkrüppelten Hand nur noch in geraden Linien und Flächen malen konnte und denen von Kritikern regelmäßig eine besondere Ausdruckskraft bescheinigt wird. Bei Michael Jackson war diese Transformation von Krankheit auf Leinwand nicht mehr nötig, die Störung, die übergeraden Linien, zeichnete er sich ins eigene Gesicht.
    Viel unmittelbarer, nämlich bei der Ausübung seiner Kunst ums Leben gekommen, ist Bas Jan Ader, der bei einem Segeltörn spurlos verschwand. Im Juli 1975 war Ader in Cape Cod an der Ostküste der USA aufgebrochen, um allein über den Atlantik zu fahren. Die Dokumentation dieser Überquerung in Fotos, Filmen und Texten sollte der nächste Teil von "In Search of the Miraculous" werden und in eine Ausstellung in den Niederlanden münden. Doch Ader kam nie in England an. Man fand sein Boot sechs Wochen später vor Irland auf dem Meer treibend, leer. Die "Süddeutsche Zeitung" schreibt anlässlich einer posthumen Werkschau im Jahr 2000, man hätte in Aders Unterlagen im Nachhinein eine Notiz entdeckt. Sie enthielt den Plan für ein nächstes Kunstwerk: "Mein Körper, das Ertrinken praktizierend".
    "Die Frage, ob ihm dieses Werk nun gelungen ist oder nicht, hat er uns als Rätsel hinterlassen." Als wäre von der Ikarusmythe nur der traurige Schluss übrig geblieben - so benahm sich der passionierte Untergeher, der nicht davor zurückschreckte, auch das Innerste aus seinem stelenhaften, schwarzgewandeten Leib nach außen zu kehren."
    Maximaler Einsatz für die Kunst, an der Grenze zum Tod - das bedient ein Verlangen nach Spektakel, womit die Kunst in die Fußstapfen von Hinrichtungen und Gladiatorenkämpfen getreten ist. Wie könnte es weitergehen? Eine Wiedergeburt wäre vermutlich die einzige Möglichkeit, den todgeweihten Künstler an Aufmerksamkeit noch zu überbieten.
    Immerhin titelte die F.A.Z. zu einer Ader-Ausstellung aus dem Jahr 2003 verspielt:
    "Schiffbruch ohne Zuschauer. Der Verschollene, dessen Kunst immer wieder auftaucht."
    In einem nächsten Schritt wäre das Gerücht zu streuen, nicht nur seine Kunst tauche immer wieder auf, sondern Ader selbst lebe noch. Auch hier liefert ein Blick auf die Nachbardisziplinen mögliche Anregungen.
    Bei einigen Größen der Pop-Kultur etwa hält sich hartnäckig die Legende, sie seien in Wirklichkeit nicht gestorben, sondern nur untergetaucht. So argwöhnt man bei Elvis Presley, sein Verschwinden sei lediglich inszeniert worden, um ihn dem Zugriff der gierigen Massen zu entziehen. Der Ausspruch "Elvis lebt" verfügt sogar über einen eigenen Wikipedia-Eintrag. "Ich habe Elvis leibhaftig gesehen!" lautete nämlich eine Titelstory der "Weekly World News" aus dem Jahr 1988. Zumindest der Zeitung brachte diese Wiedergeburt Rekordumsätze, wie der Eintrag in der Wikipedia behauptet:
    "Im Zentrum der Geschichte stand eine Hausfrau aus Michigan, die Presley angeblich über ein Jahrzehnt nach seinem Tod bei einer Burger-King-Filiale in Kalamazoo traf. Die betreffende Ausgabe verkaufte sich 1,2 Millionen Mal und wurde damit zur bestverkauften in der Geschichte des Blattes."
    Ob nun in Form einer eher als klassisch zu bezeichnenden Wiedergeburt, also wie Jesus vor Jüngern in der Nähe der leeren Grabstätte, oder in der zeitgenössischen Variante, schlagzeilenträchtig in einer Burger-King-Filiale vor einer Hausfrau aus Michigan - Populärkultur und die lange Erzähltradition des Christentums könnten einmal mehr den Weg zu den Plots weisen, mit denen auch in der Kunst das größte Interesse zu erzielen wäre. Ein erster Schritt dorthin mag Venedig mit der Verleihung des Goldenen Löwen 2011 an Christoph Schlingensief gewesen sein. Der Titel eines F.A.Z.-Artikels dazu lautete: "Der Abwesende". Sollte es Bas Jan Ader irgendwie gelingen, bei der nächsten Biennale im holländischen Pavillon als "Der Wiederaufgetauchte" zu erscheinen, die goldene Raubkatze wäre ihm sicher.
    Tina Klopp, geboren 1976, ist Featureredakteurin beim Deutschlandfunk und schreibt als Autorin für verschiedene Medien, unter anderem für die "Die Zeit".