Freitag, 29. März 2024

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Kurs der SPD
"Erneuerung ist zur Leerformel geworden"

Die SPD will sich unter ihrer neuen Vorsitzenden Andrea Nahles erneuern. Der SPD-Politiker Christian Ude sagte im Dlf, es brauche nun konkrete Gesetzes- oder Reformvorhaben, um dem Wähler zu zeigen, was damit gemeint sei. Er forderte Nahles zudem auf, sich kritisch mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen.

Christian Ude im Gespräch mit Dirk Müller | 23.04.2018
    Christian Ude, ehemaliger Oberbürgermeister der Stadt München
    Christian Ude, ehemaliger Oberbürgermeister der Stadt München (dpa/Sven Hoppe)
    Es werde seit Monaten über Erneuerung geredet, ohne dass klar sei, was das sein soll, so Ude. Es gebe weder Gesetzes- noch Reformvorhaben, die konkret machten, was die Leute in Zukunft wählen sollen. Auch die Jusos brächten trotz ihrer Kritk an der Regierungsbeteiligung der SPD keine Initiativen oder Anträge. "Sie träumen davon, die Regierung verlassen zu dürfen und in die Opposition zu gehen - das haben wir in Bayern seit 60 Jahren und genießen es nicht." Ihm sei nicht klar, warum in der Opposition die "Erleuchtung" kommen solle.
    Die neue Parteivorsitzende Nahles würdigte Ude als erfolgreiche Sozialministerin. An ihrer Eignung für das Amt an der Parteispitze zeigte er Zweifel. Sie fordere Solidarität ein, obwohl sie diese selbst in der Vergangenheit vielen ihrer Vorgänger nicht gewährt hätte, so Ude. Sie sei an vielen Stürzen beteiligt gewesen. Nun müsse sie die Partei davon überzeugen, dass sie sich kritisch mit ihrer Rolle in der Vergangenheit auseinander setzen werde.

    Dirk Müller: Am Telefon ist nun der SPD-Politiker Christian Ude, viele Jahre lang Oberbürgermeister von München. Er gehört dem rechten Seeheimer Kreis seiner Partei an. Guten Morgen!
    Christian Ude: Ja, guten Morgen! – Aber ich muss leider korrigieren: Ich war am Anfang Jungsozialist und bin immer Vertreter der linken Mitte in der SPD gewesen. Ich spreche auch beim Seeheimer Kreis, das ist richtig, war aber nie dessen Mitglied.
    Müller: Dann haben wir Sie damit assoziiert. Dann muss ich das zurücknehmen, pardon! Wir haben es auch so eingetragen. Also noch einmal: Viele Jahre Oberbürgermeister in München. Guten Morgen, Herr Ude!
    Ude: Guten Morgen.
    Endlich anfangen mit Sachprogrammen
    Müller: Wäre es der beste Schritt der Erneuerung, mit dem Singen aufzuhören?
    Ude: Es ist tatsächlich ein Zeichen, das immer ein bisschen befremdet, vor allem, wenn so leidenschaftslos als Pflichtübung gesungen wird, was eigentlich zu einer anderen Stimmungslage passen würde. Aber ich glaube, dass wir endlich aufhören müssen, über solche Formalitäten uns den Kopf zu zerbrechen, statt endlich mal anzufangen mit Sachprogrammen. Das ist ja auch das Schlimme an der ganzen Debatte, dass jetzt schon seit Monaten über Erneuerung geredet wird, ohne dass klar ist, was die Erneuerung sein soll, welcher Beschluss, welcher Antrag, welche Gesetzesinitiative. Erneuerung ist zur Lehrformel geworden.
    Müller: Da bin ich froh, dass Sie sich diese Frage auch stellen. Das haben wir auch in der Redaktion gemacht. Denn was soll neu sein oder was soll neu werden in der SPD?
    Ude: Das ist ja das Quälende an dieser Diskussion, dass die Jungsozialisten auch keine Initiativen und Anträge bringen, an denen man das festmachen könnte, sondern sie träumten davon, endlich die Regierung verlassen zu dürfen und in der Opposition sein zu können, was wir hier in Bayern übrigens schon seit 60 Jahren haben und nicht gerade genießen. Wieso in der Opposition plötzlich die Erleuchtung kommen soll und wundersame Kräfte zuwachsen und die Straße des Triumphs beschritten werden kann, das versteht hier in Bayern buchstäblich kein Mensch. Aber es wird erzählt, in der Opposition komme man zu wundersamen Kräften. Und was die Erneuerung inhaltlich sei, habe ich auch nicht gehört. Das hat mit Globalisierung und mit Digitalisierung zu tun. Aber es gibt weder Gesetzesvorstellungen, noch Reformvorhaben, die das ganz konkret machen könnten, was die Leute in Zukunft wählen sollen.
    Nicht nur Perspektive, sondern realistische Erfahrung
    Müller: Aber jetzt soll diese Erneuerung, Modernisierung – wir beide wissen es im Moment nicht genau, was damit gemeint ist – in der Regierung passieren, mit vielen Kompromissen, die die SPD machen muss gegenüber den Unions-Parteien, mit vielen Sachzwängen, in denen die Sozialdemokraten stecken werden. Ist das wirklich eine realistische Perspektive, besser zu werden?
    Ude: Das ist ja nicht nur eine Perspektive; das ist eine realistische Erfahrung, die wir gemacht haben. Ich bin 1966 eingetreten in die SPD, vor über 50 Jahren. Da haben auch die Jungsozialisten (und ich gebe zu, ich war dabei) gegen die Große Koalition demonstriert. Aber Willy Brandt hat bewiesen, man kann gleichzeitig in der Regierung sein und Seriosität und Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen und große Reformprojekte beschreiben, die dann bei der nächsten Wahl die Zustimmung erhalten. Er hat als Außenminister eines CDU-Kanzlers gezeigt, was Ostpolitik sein soll und wie Friedenspolitik aussehen müsste und wie er das Verhältnis zum Osten gestalten will, und ist dann dafür gewählt worden. Also das geht! Aber man muss dann deutlich machen, wofür man eintreten wollte und würde, wenn man den Kanzler stellen könnte.
    Müller: Wenn Sie Willy Brandt jetzt hier in die Waagschale werfen, Herr Ude, das ist der ganz, ganz, ganz große Name. Größer geht’s ja gar nicht mehr in der SPD. Was soll Andrea Nahles jetzt damit anfangen?
    Ude: Andrea Nahles ist eine sehr erfahrene und gute Sozialministerin, die von der Fachwelt und sogar von der politischen Konkurrenz geschätzt wird. Es müsste ihr jetzt gelingen, das Thema soziale Gerechtigkeit durch Gesetzentwürfe, durch Vorschläge zu erläutern, so dass man sieht, was wird die SPD in der Koalition leisten - da gibt ja der Vertrag sehr viel her – und was würde sie darüber hinaus tun, wenn sie könnte, wenn sie beim nächsten Mal die erforderlichen Mehrheiten dafür bekäme oder erringen könnte. Aber diese Konkretheit fehlt mir. Es wird immer nur debattiert, ob wir uns entschuldigen sollen für Hartz IV, oder ob wir uns bis zum Ende unserer Tage deswegen gegenseitig den Kopf einschlagen, dass das passiert ist, statt mal deutlich zu machen, was ist unter heutigen finanziellen Bedingungen zu korrigieren und was ist nicht zu korrigieren, weil es aus finanziellen Gründen, aus sozialpolitischen Gründen leider erforderlich ist.
    Eine ganze Reihe von Nahles-Opfern
    Müller: Herr Ude, reden wir noch mal über Andrea Nahles. Sie haben sie jetzt gelobt. Viele sagen, wenn wir über einen verkrusteten Machtapparat reden, wenn wir über Mauscheleien reden und Hinterzimmerpolitik, einer der großen Vorwürfe an die Parteiführung, in den vergangenen Jahren immer wieder und zuletzt auch im vergangenen Jahr, Martin Schulz und Folgen, war auch immer seit vielen Jahren Andrea Nahles beteiligt. Warum und wie kann das jetzt anders werden?
    Ude: Ich habe die Sozialministerin gelobt, die einfach eine gute Leistungsbilanz vorzuweisen hat. Ich hätte auch die Generalsekretärin loben können, die eine positive Rolle gespielt hat. Aber Sie haben vollkommen recht: Bei Andrea Nahles denkt man natürlich auch an ihre Rolle, die sie schon bei etlichen Stürzen von Vorsitzenden gespielt hat. Da gibt es ja schon eine ganze Reihe von Opfern und natürlich hat sie nicht die solidarische Unterstützung für den amtierenden Vorsitzenden gewährt in vielen Fällen, die sie jetzt einfordert und erhofft, und das ist sicherlich ein Problem.
    Müller: Haben Sie jetzt Zweifel daran, dass das jetzt besser wird und transparenter?
    Ude: Ich glaube, dass sie überzeugen muss, dass sie sich auch mit ihrer eigenen Rolle in der Vergangenheit kritisch auseinandersetzt und dass Solidarität ein Ziel ist, dem sie auch selber näherkommen muss im Umgang mit anderen Sozialdemokraten, das sie nicht einfach einfordern kann, weil sie jetzt die Person an der Spitze ist. Das allein würde nicht reichen.
    Scholz-Mehrheit, die gar nicht mehr möglich erschien
    Müller: Jetzt muss ich Sie noch was fragen, Herr Ude. Sie haben auch immer kritisch reflektiert über die Selektionskriterien innerhalb der Partei. Wann wird einer ganz nach oben gehievt und wann eben nicht. Wenn wir uns das Wahlergebnis von Andrea Nahles anschauen, zugegeben in der Eifel – das ist jetzt nicht München und es ist nicht Berlin -, 27 Prozent hat sie dort in ihrem Wahlkreis bekommen. Ein anderer Name ist mir noch aufgefallen: Heiko Maas, 32 Prozent im einst so starken sozialdemokratischen Saarland. Dann gucken wir auf Sigmar Gabriel: Der verliert Niedersachsen. Peer Steinbrück verliert Nordrhein-Westfalen. Danach werden beide ganz groß in der Partei, Spitzenkandidat, Parteichef. Steinmeier hat noch nie eine Wahl gewonnen, dafür wird er dann Fraktionschef am gleichen Abend noch nach der großen Niederlage, Außenminister und schließlich Bundespräsident. War Gerhard Schröder der letzte Gewinner in der Partei?
    Ude: Er war der Letzte, der in diesem Ausmaß persönlich auf Landesebene gute Ergebnisse einfahren konnte. Aber Olaf Scholz zum Beispiel hat noch eine absolute Mehrheit erobert, was schon gar nicht mehr möglich erschien. Das hat schon auch sehr viel zu tun mit der örtlichen Situation, aus der man kommt. In Niederbayern kann kein Mensch Mehrheiten holen, in München und Nürnberg ist es schon vielen Sozialdemokraten gelungen. Da muss man schon auch die strukturellen Verhältnisse in den Wahlkreisen oder den Bundesländern sehen. Aber Sie haben recht: Gerhard Schröder war der Letzte, von dem ausdrücklich erwartet wurde, man muss erst zuhause zeigen, welche Akzeptanz man bei der Bevölkerung hat, ehe man von der Partei auf den Schild gehoben wird für größere Aufgaben.
    Müller: Das hat Gerhard Schröder ja gemacht.
    Ude: Ja, Schröder hat es gemacht. Da hieß es ja noch in dem Telefonat von Oskar Lafontaine mit ihm, willkommen Kanzlerkandidat, weil er eine Landtagswahl gewonnen hatte. Diesen Zusammenhang zwischen eigenen guten Ergebnissen zuhause und Aussichten in der SPD hat man leider aufgelöst.
    Nachdenken über die Stimmenverluste
    Müller: Der ist verloren gegangen?
    Ude: Der ist verloren gegangen, auch aus Mangel an Gelegenheit. Man bräuchte viele Gewinner von Landtagswahlen, um darunter eine Auswahl vorzunehmen. Wir haben im Moment zwei Ministerpräsidenten, einen früheren Oberbürgermeister, der es in Niedersachsen geworden ist, der Landesvater, aber da ist die Auswahl nicht sehr üppig zurzeit. Das ist aber auch kein Wunder in einer Zeit, in der die SPD nicht nur an die Grünen und die Linken Stimmen verliert, sondern auch noch an die rechtsradikale AfD. Darüber müsste man aber auch mehr nachdenken. Wie kann es sein, dass die Sozialdemokratie wie übrigens auch Die Linke Parteien direkt an die AfD verliert? Das ist in manchen ostdeutschen Ländern in großem Stil geschehen und es darf nicht einmal ausgesprochen werden, ganz zu schweigen davon, dass nicht darüber nachgedacht wird.
    Müller: Herr Ude, ganz pünktlich vor den Nachrichten haben Sie aufgehört. Vielen Dank dafür, dass Sie für uns Zeit gefunden haben und so pünktlich rausgegangen sind. Ihnen noch einen schönen Tag! – Der SPD-Politiker Christian Ude, viele Jahre Oberbürgermeister von München.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.