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Kursiv Klassiker
John Maynard Keynes: "Die wirtschaftlichen Folgen des Vertrags von Versailles"

Kein Student der Volkswirtschaftslehre kommt an seinen Werken vorbei: John Maynard Keynes gehört zu den wichtigsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts. In "Die wirtschaftlichen Folgen des Vertrags von Versailles" von 1919 analysiert er, warum Europa auf einen neuen Krieg zusteuert. Nun erscheint der Klassiker in einer neu übersetzten Fassung.

Von Caspar Dohmen | 08.09.2014
    Juli 1944: John Maynard Keynes (l) während der Tagung von Bretton Woods in einem informellen Gespräch mit dem chinesischen Finanzminister H.H. Kung.
    John Maynard Keynes auf der Bretton Woods-Tagung im Juli 1944 (dpa/ picture alliance )
    "Denn wenn wir bewusst auf die Verarmung Mitteleuropas hinarbeiten, dann wird – das wage ich vorherzusagen – die Rache nicht auf sich warten lassen. Nichts kann dann mehr lange den letzten Bürgerkrieg zwischen den Mächten der Reaktion und den verzweifelten Zuckungen der Revolution aufhalten, jenen Bürgerkrieg, angesichts dessen die Schrecken des Krieges mit Deutschland ein Nichts scheinen werden, jenen Krieg, der, ganz gleich wer siegt, die Zivilisation und den Fortschritt unserer Generation vernichten wird."
    Prophezeite John Maynard Keynes in seinem 1919 veröffentlichten Buch "Über die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages". Dessen Entstehung hatte er – als Mitglied der britischen Delegation – kurz zuvor hautnah in Versailles erlebt. Keynes behielt mit seiner düsteren Prophezeiung Recht. Zwanzig Jahre später begann mit dem Überfall Nazideutschlands auf Polen am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg: Es gab Flächenbombardements, den Holocaust, zahllose Kriegsverbrechen und 60 bis 70 Millionen Tote.
    Vorausschauende wirtschaftliche Analyse
    Alleine schon wegen der klaren Weitsicht von Keynes lohnt es sich, heute noch zu dem Buch zu greifen. Faszinierend ist die hervorragende ökonomische Analyse, mit der Keynes seine Prognose untermauert. Man lernt, wie unendlich gefährlich übertriebene politische Maßnahmen sein können, die in ein wirtschaftliches und soziales Geflecht eingreifen.
    "Hier bekommt jeder Leser wirklich ein erschütterndes Bild davon. Und von jemandem, der es sehr genau wusste und sehr genau beschreiben konnte, wie das ökonomische und politische Flechtwerk ausgesehen hat, das Europa vor 1914 komplett miteinander verbunden hat. Hier kann jemand ein klares Bild bekommen, was dieser fürchterliche Krieg bis heute unwiederbringlich kaputt gemacht hat."
    Sagt Verleger Heinrich von Berenberg. Europa war vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wahrlich ein kompliziertes Geflecht: Die Nationen tauschten Kohle und Stahl und handelten Maschinen und Nahrungsmittel. Möglich war dies dank eines verzweigten Transportsystems, konvertibler Währungen und niedriger Zölle. Das deutsche Kaiserreich war die größte Wirtschaftsmaschine auf dem europäischen Kontinent. Es versorgte seine Nachbarn nicht nur mit Waren, sondern auch einem großen Teil des für deren Entwicklung notwendigen Kapitals. Keynes spricht von Deutschland als der "zentralen Stütze des Systems", um das sich der Rest des europäischen Wirtschaftssystems gruppierte. Durch den Krieg war das wirtschaftliche Geflecht zu großen Teilen zerstört worden.
    Keynes selbst verhandelte in Versailles – vergebens
    Keynes warb bei den Verhandlungen in Paris für geringe Reparationen, eine internationale Anleihe für den Wiederaufbau Europas und die Gründung einer Freihandelsregion. Eine Chance bekamen solche Ideen erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Nach dem Ersten Weltkrieg geschah das Gegenteil. Bei der Lektüre von Keynes' Sicht der Dinge spürt man dessen Verzweiflung über ignorante Politiker, die die wirtschaftlichen Folgen ihres Tuns ausblendeten. Und dies umso besser in der neuen Übersetzung, meint Heinrich von Berenberg:
    "Der Unterschied liegt im Ton, der Ton ist zeitgenössischer, der Ton ist weniger pathetisch. Das Pathos in der alten Übersetzung lag natürlich auch darin, dass es von der Verliererseite aus übersetzt worden ist, und dass die Kritik an dem Versailler Frieden dankbar aufgenommen wurde hier in Deutschland. Und da hat Jo Kalka durchaus ein bisschen, im keynesianischen Sinne sagen wir mal, ein wenig die Luft raus gelassen."
    Unterhaltsame Charakterstudien eines Zeitzeugens
    Keynes ist nicht nur ein grandioser Ökonom und ein spannender Zeitzeuge gewesen, sondern auch ein großartiger Schriftsteller. Er analysierte brillant und nüchtern und schrieb trotzdem unterhaltend. Fesselnd charakterisierte er beispielsweise die drei entscheidenden Politiker in Versailles: Frankreichs Präsidenten Georges Clemencau, den US-Präsidenten Woodrow Wilson und den britischen Ministerpräsident Lloyd George. Über das Verhältnis zwischen dem Amerikaner und dem Briten schrieb er:
    "Welche Chance hatte ein derartiger Mann gegen Lloyd Georges nie versagendes, fast tranceartiges Vermögen der Einfühlung in alle, die um ihn waren? Als der britische Premier diese Versammlung betrachtete und mit sechs oder sieben Sinnen, die dem gewöhnlichen Menschen versagt sind, Charakter, Motivation und unbewussten Antrieb bei jedem Anwesenden registrierte, wahrnahm, was jeder dachte, und sogar, was er demnächst sagen würde, mit telepathischem Instinkt die Argumentationsstrategie entwerfend, welche die Eitelkeit, die Schwäche oder den Egoismus des jeweiligen Gegenübers am sichersten träfe, da musste er erkennen, dass der arme Präsident in dieser Versammlung bloß Blindekuh spielen konnte."
    Keynes grandiose Beschreibung des Innenlebens der Weltpolitik elektrisiert den Leser. Aber man wird auch nachdenklich bei der Lektüre und fragt sich: Wiederholen die Politiker in Europa heute bestimmte Fehler, beispielsweise in Form der rigiden Sparpolitik, mit der die Eurokrise bekämpft wird, zu Lasten großer Teile der Bevölkerung.
    John Maynard Keynes: "Krieg und Frieden. Die wirtschaftlichen Folgen des Vertrags von Versailles."
    Neue Übersetzung von Joachim Kalka
    Berenberg Verlag, 160 Seiten, 20 Euro
    ISBN 978-3-937834-75-7