Kurt Andersen ist kein Prophet, aber eine leise Vorahnung hatte er schon länger. Als die Republikaner Donald Trump im Sommer 2016 zu ihrem Kandidaten kürten, da legte der damals 61-jährige Autor gerade letzte Hand an sein neues Buch. Nachgehen wollte er darin einer Methode, derer sich der Präsident in spe auf seinem Weg ins Weiße Haus geradezu systematisch bediente: da Grenzen zu verwischen, wo mit Wahrheit und Lüge, Fakt und Fiktion die Definition von Realität selbst auf dem Spiel steht.
"… alternative facts … it's somebody's version of the truth, not the truth … I want you all to know, that we are fighting the fake news, it's fake, phony, fake …"
Alternative Fakten? Für Andersen war das beileibe kein neues Phänomen: In Fantasyland, seinem 2017 erschienen Buch, seziert er in penibler Kleinarbeit das seit jeher eher kritische Verhältnis seiner Landsleute zur Wahrheit - integraler Bestandteil der "nationalen DNA", wie er schreibt. Diese Erkenntnis dekliniert er dann durch fünf Jahrhunderte US-Geschichte oder, so heißt es im Untertitel seines Buchs, "500 Jahre Realitätsverlust".
Erst die Puritaner, dann Trump
Von den ersten Siedlern über den psychedelischen Wahn der 1960er Jahre bis in die virtuellen Räume des Internets hinein: Auf dem Weg nach Fantasyland geraten die USA immer weiter aus der Spur. Das Phänomen Trump? Für Andersen nur ein vorläufiger Höhepunkt des amerikanischen Experiments:
"Ich würde es vielleicht nicht prophetisch nennen - aber dass da plötzlich dieser Typ war, der jeden einzelnen Faden meines Arguments verkörperte und dann sowohl zur Überraschung als auch zum Schreck aller zum Präsidenten gewählt wurde … Was ich sagen möchte: Wäre er nicht gewählt worden, dann wäre alles, was ich in diesem Buch behaupte, immer noch wahr, genauso wie es weiterhin wahr sein wird, sobald er aus dem Amt scheidet. So sehr ich diesen Tag herbeisehne, es wird dann sicher nicht heißen 'oh, super, jetzt wird alles gut', denn auf dem Weg, der uns bis hierher geführt hat, auf dem befinden wir uns schon sehr sehr lange."
Den Anfang genommen habe alles in den englischen Kolonien des 17. Jahrhunderts. Die protestantischen Auswanderer, Puritaner, die sich vom klerikalen Europa lossagten, folgten dem utopischen Versprechen, hier, am anderen Ende der Welt, das Land Gottes zu gründen. Über diverse Erweckungsbewegungen, den Goldrausch, Buffalo Bill, Scientology und die Traumfabrik Hollywood, bis hin zu den Impfgegnern und UFO-Sichtungen der Carter-Ära - Andersen wartet mit einer solchen Fülle an Beispielen auf, dass einem mitunter Angst und Bange um das Land wird. Wie tief dabei der Hang zur 'Fantasy' in der amerikanischen Gesellschaft wurzelt, das zeigt mit mehr als 700 Seiten allein der Umfang dieser Kulturgeschichte.
Was ich glaube ist wahr
Stein des Anstoßes, so Andersen, war dabei wie so oft die Aufklärung. Fantasy?, fragt er gleich zu Beginn des Buchs - ein Nebenprodukt der neuen Freiheit, sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Aus dem Recht zum Zweifel habe sich im Land der unbegrenzten Möglichkeiten jedoch rasch das Gegenteil entwickelt. Pseudowissenschaftliche Erkenntnisse und extreme Skepsis gegenüber jeglicher Form von Elite, so es ging laut Andersen mit Anlauf in das große Delirium. Das neue Motto: "Solange ich es nur glaube, ist es auch wahr":
"Die Art, wie gerade wir Amerikaner immer alles zu einer Form von Unterhaltung und Show-Business gemacht haben, das ist ein Teil der Geschichte, wie wir hier angelangt sind. Diese Idee, dass es, wenn es nur unterhaltsam ist, doch ganz egal ist, ob es stimmt oder nicht.":
Außer Kontrolle geraten sei das Ganze dann im Laufe des 20. Jahrhunderts. Den Urknall verortet Andersen dabei im Anything Goes, also dem Motto der liberalen 70er Jahre - oder genauer: in der Säkularisierung des extremen religiösen Glaubens, ganz gleich, ob es sich dabei nun um Engel, Homöopathie oder die Ideen der Antipsychiatrie handelte. Die Kernschmelze Internet habe dann spätestens seit den Nullerjahren jeder noch so absurden Idee und Verschwörungstheorie einen Raum verschafft, das Maximum an Freiheit, so Andersen, führte so zu einem Minimum an geteilter Realität.
"Mein Punkt ist, dass Donald Trump nicht die Ursache, sondern ein Symptom ist für das alles. Er in seiner gewitzten, rattenhaften … instinktiven Art - er hatte registriert, dass wir in diesem Land ein sehr zweifelhaftes Verhältnis zu Fakten und Realität entwickelt hatten - und diese Tatsache dann schamlos ausgenutzt."
Wissen statt fühlen, Fakten statt Meinung
Im akademischen Diskurs macht Andersen dabei den extremen Relativismus der 80er Jahre verantwortlich - verantwortlich für ein Weltbild, in dem Thesen wie "Konsensrealität" oder "Realität als soziales Konstrukt" gesellschaftlich bedenklichen Entwicklungen Vorschub geleistet hätten. Theoretiker wie Michel Foucault oder Jean Baudrillard sieht er dabei als die postmodernen Erben der 70er-Jahre-Gegenkultur. Zusammen mit der Anti-Establishment-Haltung vieler Amerikaner und deren notorischem Hang zum Superlativ hätte das in einem Land, in dem mehr als ein Drittel der Bevölkerung nicht an den Klimawandel glaubt, zur Spaltung geführt. Politisch nimmt er hierbei sowohl die Rechte als auch die liberale Linke in die Pflicht. Doch wo ist der Ausweg? Für Andersen, einen Empiriker der alten Schule, ist die Lösung klar:
"Ich zögere etwas, von 'Objektivität' zu sprechen, aber vielleicht eine empirische Realität oder Wahrheit, die nicht Gegenstand politischer Meinung ist."
Wissen statt Fühlen also, Fakten statt Meinungen; auf in ein "realitätsbasiertes Amerika" - auch gegen eine Art "kulturelles Weicheiertum" will Andersen so zu Felde ziehen. Genau hier aber stößt seine Diagnose vom Realitätsverlusts an ihre Grenzen. Denn dass Gefühle und Emotionen neben Rationalität und Wissenschaft nicht nur valide Instrumente des täglichen Weltzugangs sind, sondern eben auch für interessante und neue Perspektiven sorgen, davon zeugt momentan ein gesellschaftlicher Diskurs, der Vielfalt und Pluralismus als Antipoden zu der einen dominanten Sichtweise aufbaut. Als Mittel der Bereicherung können alternative Erzählweisen so auch von einem Mehr an Demokratie zeugen - und eben nicht immer nur ausschließlich von ihrer Gefährdung. Bewegungen wie jüngst #MeeToo wurden ja erst durch die Möglichkeiten des virtuellen Raumes in die Lage versetzt, marginalisierten Stimmen ein Gehör zu verschaffen.
Ein unvermeidlicher Superlativ
Literatur im Zeitalter der Kognitionswissenschaften, Affekttheorie, World Building oder Storytelling - auch im akademischen Raum ist für mehr Platz als nur für Empirie und Vernunft. Und ohnehin: Stehen Falschheiten und Täuschungen, Magisches Denken oder Wahnwitz nicht auch für eine lange Tradition literarischen Spekulierens? Narrativ ist alles und alles ist Narrativ - auch Andersens Supertheorie könnte man letztlich als ein - wenn auch sehr aufwendig - konstruiertes Gefäß verstehen, in das er sorgsam sein historisches Material einpasst. Zu dieser Feststellung gelangt nach mehr als 700 Seiten auch der Autor selbst und schlägt vor, zu unterscheiden: zwischen handelsüblicher Fantasy, die als wohl dosierte Utopie die Geister beflügelt, und solcher, die großen Schaden anrichtet. Nur ein Rezept, wie eines vom anderen zu trennen wäre, das hat auch Andersen nicht.
Dennoch: Immer da, wo Fantasy die Realität nicht komplexer macht, sondern mit simplen Antworten vereinfacht, wird es, wie Andersen zeigt, brenzlig. Mit Blick auf den Brexit, grassierende Übel wie Islamfeindlichkeit, Ausländerhass oder die Mär von der Lügenpresse ist Andersens Buch auch durchaus für europäische LeserInnen relevant:
"Was Europa anbelangt und den Rest der Welt: Ich glaube, dass es dort, wie auch immer man das finden mag, im Vergleich zu den USA etwas robustere Institutionen gibt, ein robusteres Establishment, zentrale Regierungen, Universitäten, und so weiter. Und ich glaube, dass unser stark dezentralisiertes Föderalsystem hier in den USA eines der Dinge ist, die das, wovon ich in Fantasyland spreche, erst ermöglicht haben"
Denn obwohl Andersen in seinem Buch ein dezidiert amerikanisches Phänomen beschrieben haben will, sind die USA hier am Ende wieder mal - wie so oft - vielleicht nur der Ausschlag ins Extrem, der unvermeidliche Superlativ, der, so weiß man spätestens seit der Lektüre dieses Buchs, eben in der nationalen DNA steckt. Auch deswegen ist Fantasyland, das jetzt in deutscher Übersetzung erscheint, unbedingt lesenswert.
Kurt Andersen: "Fantasyland. 500 Jahre Realitätsverlust"
aus dem Amerikanischen von Kristin Lohmann, Johanna Ott und Claudia Amor
Goldmann Verlag, München, 735 Seiten, 18 Euro
aus dem Amerikanischen von Kristin Lohmann, Johanna Ott und Claudia Amor
Goldmann Verlag, München, 735 Seiten, 18 Euro