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Labour mit Corbyn in Großbritannien
"SPD könnte einen derart radikalen Kurs nicht fahren"

Verstaatlichung von Industrie und Daseinsvorsorge, Austritt aus der Nato - der Favorit für den Vorsitz der Labour-Partei in Großbritannien, Jeremy Corbyn, vertritt radikale Auffassungen. Der Politikwissenschaftler Stefan Schieren erkennt darin eine Sehnsucht nach den 70ern, "der besten Zeit der Sozialdemokratie". In der SPD seien derartige Entwicklungen aber nicht möglich, sagte Schieren im DLF.

Stefan Schieren im Gespräch mit Peter Kapern | 12.09.2015
    Der Kandidat für den Labour-Vorsitz, Jeremy Corbyn, spricht mit Reportern in London
    Der Kandidat für den Labour-Vorsitz, Jeremy Corbyn, erläutert Reportern in London seine Verstaatlichungspläne für die Bahn. (picture alliance / dpa/ Facundo Arrizabalaga)
    Das Ergebnis der Wahl des neuen Vorsitzenden der Labour-Partei in Großbritannien wird heute Mittag bekannt gegeben. Beste Chancen hat Umfragen zufolge Jeremy Corbyn, ein sehr weit links stehender Unterhaus-Abgeordneter, der sich für Verstaatlichungen, höhere Steuern für Unternehmen und Reiche sowie den Austritt aus der Nato einsetzt.
    Mit ihm besinnt sich die britische Labour-Partei nach Ansicht des Politikwissenschaftlers Stefan Schieren von der Katholischen Universität Eichstätt derzeit auf ihre alten sozialdemokratischen Traditionen der 70er-Jahre. Die Rezepte des Keynesianismus, die Rolle starker Gewerkschaften und das Unbehagen an der neuen Ordnung Europas würden wieder diskutiert. Kaum jemand rechne allerdings damit, dass Labour mit Corbyn Parlamentswahlen gewinnen werde, sagte Schieren. "Mit diesen radikalen Position lässt sich in einem großen Industrieland keine Politik machen." Es gehe momentan eher um einen Selbstvergewisserungskurs der Partei.
    Die Sehnsucht nach der reinen Lehre "in dieser radikalen Form" sei auf Großbritannien beschränkt, so Schieren. In der deutschen SPD hält er derartige Entwicklungen nicht für möglich, auch wegen einer anderen Parteistruktur mit starken Machtzentren in den Ländern. "Ich glaube nicht, dass die SPD einen derart radikalen Kurs fahren könnte."

    Das Interview in voller Länge:
    Peter Kapern: Bei uns am Telefon ist Professor Stefan Schieren, Politikwissenschaftler an der Katholischen Universität Eichstätt. Guten Morgen!
    Stefan Schieren: Guten Morgen, Herr Kapern!
    Kapern: Herr Schieren, Jeremy Corbyn kommt vom linken Labour-Flügel, heißt es immer, aber was heißt das eigentlich auf Deutsch übersetzt, wo säße Corbyn im Bundestag – neben Sahra Wagenknecht, neben Andrea Nahles oder neben Peer Steinbrück, um mal drei Exponenten verschiedener Rottöne zu nennen?
    Schieren: Nach meiner Einschätzung würde er eindeutig neben Frau Sahra Wagenknecht sitzen. Die Pläne zur Verstaatlichung wichtiger Industriezweige oder auch von wichtigen Zweigen der Daseinsvorsorge, die Forderung nach Austritt der NATO, vor allen Dingen aber auch die innerparteiliche Forderung, den früheren Premierminister Tony Blair vor Gericht zu setzen – das sind alles sehr entschiedene, um nicht zu sagen radikale Auffassungen, die in dieser Form bestenfalls in der Linken ihren Platz finden würden.
    New Labour ist von großen Teilen der Partei nie mitgetragen worden
    Kapern: Nun ist Labour, sollte Corbyn tatsächlich an die Parteispitze rücken, einen erstaunlichen Weg gegangen, binnen weniger Jahre von Tony Blair zu Jeremy Corbyn, welche Erklärung haben wir für diesen Weg?
    Schieren: Also der Weg von Tony Blair zu New Labour ist von großen Teilen der Partei nie wirklich mitgetragen worden. Tony Blair hat vor allen Dingen wegen seiner unleugbaren Erfolge diese Reformen durchführen können, New Labour durchführen können, aber in der Partei hat es immer rumort, und der letzte Wahlsieg 2005 ist ja auch nicht wegen der Stärke von Labour, sondern wegen der Schwäche der Konservativen noch mal so gerade eben gewonnen worden. Und nun besinnt sich die Partei auf die alten Traditionen der 70er-Jahre, man könnte fast sagen, hier wird die Lage von 1979 noch einmal durchgespielt, als man ebenfalls einen radikal linken sozialistischen Kurs geführt hat in der Hoffnung, damit die Wählerstimmen für einen Wahlsieg zu erringen, wobei - das ist ja im Kommentar oder anfänglich gesagt worden – kaum jemand damit rechnet, dass Corbyn tatsächlich die Wahl gewinnen wird. Von daher ist es wohl eher ein Selbstvergewisserungskurs, damit die Partei wieder zu sich findet, um dann einen Nachfolger - Corbyn ist ja auch nicht mehr der Jüngste. mit einem Nachfolger selbstvergewissert wieder in die Regierungsmacht zu kommen.
    Leben wir im Zeitalter der Postdemokratie?
    Kapern: Aber da fehlt mir noch ein Erklärungsmoment, Herr Schieren. Es mag ja sein, dass diese Partei sich in ihrer Nostalgie gerade an sich selbst berauscht, aber erklärt das tatsächlich schon den Erfolg dieses Mannes, oder liegt das auch darin, dass die Zeit nach Rezepten aus den 70er-Jahren wieder ruft?
    Schieren: Wir können sicherlich auch - das ist in Sozialwissenschaften zurzeit heiß diskutiert - die Diskussion finden, ob wir nicht in einem Zeitalter der Postdemokratie leben und hier die Rezepte des jetzigen Zeitalters nicht mehr wirksam sind - die Finanzkrise ist ja auch im Beitrag angesprochen worden -, und dass man vielleicht doch wieder die 70er-Jahre - Keynesianismus, starke Gewerkschaften, Mitbestimmung in Betrieben - wieder aufgreifen muss, und das Unbehagen am jetzigen neoliberalen Kurs, an der neuen Ordnung Europas, wie Philipp Ther es beschrieben hat, ist ja auch mit Händen zu greifen. Insofern ist es nicht nur Nostalgie, sondern es ist die Sehnsucht nach einer Zeit, wie sie vor 40 Jahren tatsächlich ja auch die beste Zeit der Sozialdemokratie gewesen ist, und sicherlich auch das, was wir in den letzten Jahren mit der Finanzkrise erlebt haben, die Kritik daran, die diesen Aufschwung erklärt.
    Kapern: Diese Sehnsucht nach der reinen Lehre, ist die eigentlich auf die britische Sozialdemokratie beschränkt?
    Schieren: In dieser radikalen Form, denke ich schon. Ich habe nicht den Eindruck, dass in Deutschland, wenn wir jetzt mal die SPD nehmen, derartige Entwicklungen möglich sein würden. Das würde schon die Parteistruktur selbst nicht erlauben. Es ist ja dieses sehr eigentümliche Wahlverfahren, das nach meiner Einschätzung sehr maßgeblich für diese Entwicklung mitverantwortlich ist. Es ist aber auch so, dass in Deutschland andere Machtzentren in den Ländern existieren, sodass ich also nicht glaube, dass in Deutschland die SPD einen derart radikalisierenden, radikalen Kurs fahren könnte.
    Jetzt geht es um Selbstvergewisserung
    Kapern: Also New Labour war mal ein Vorbild für die SPD, aber dass very New Labour, was in Wahrheit very old Labour ist, auch wieder zur Blaupause für die SPD werden könnte, das schließen Sie aus?
    Schieren: Oder das new old Labour, das schließe ich aus, ja, genau.
    Kapern: Nun heißt es ja immer wieder, Wahlen werden in der Mitte gewonnen, heißt das im Umkehrschluss, Labour hat eine große Sehnsucht danach, bloß nicht wieder Regierungsverantwortung zu übernehmen?
    Schieren: Nein, Wahlen werden in der Mitte gewonnen. Diese Strategie wird sich auch wieder als richtig erweisen, da bin ich sicher, aber jetzt geht es um Selbstvergewisserung, darum, das Selbstverständnis wiederzuerlangen, um von diesem neuen Selbstbewusstsein, was man daraus gewinnt, den Kurs zurück in die Mitte wieder anzusteuern. Also mit diesen radikalen Positionen, vor allen Dingen auch mit diesen prinzipiellen Positionen, lässt sich in einem Land, einem großen Industrieland, glaube ich, keine Politik machen. Es wird sich überhaupt erweisen müssen, ob Corbyn innerhalb der Fraktion diesen Rückhalt bekommen wird, den er jetzt durch ein Votum möglicherweise erhalten wird. Wer sich mehrere Hundert mal gegen die eigene Fraktion gestellt hat, wird sich sicherlich damit schwertun, die Gefolgschaft in der Weise, wie das eigentlich in einer parlamentarischen Demokratie sicherlich sinnvoll wäre, einzufordern.
    Corbyn könnte nur ein Intermezzo sein
    Kapern: Wie muss man sich das ausmalen, was Sie uns da gerade versuchen auszumalen – eine Fraktion, die permanent dem neuen Vorsitzenden nicht folgt?
    Schieren: Kann schon passieren, ist ja auch schon passiert, ist ja keine Neuigkeit. Die Konservativen haben mit Iain Duncan Smith die Erfahrung gemacht, einen durch Mitgliedervotum gewählten Vorsitzenden zu bekommen, der dann nicht mal mehr die Möglichkeit bekommen hat, eine Wahl zu verlieren, weil man in der Fraktion so unzufrieden war. Da ist man in Großbritannien sehr leidenschaftslos, wenn es darum geht, wenn die Wahlchancen schwinden, dass man sich dann des Personals entledigt, das diese Chancen als nicht zu groß erscheinen lässt.
    Kapern: Das heißt, wir werden das Vergnügen, Jeremy Corbyn hören und erleben zu können, relativ kurz haben?
    Schieren: Halte ich für nicht ausgeschlossen, genau - nicht für sicher, denn man weiß ja nicht, Corbyn ist ein Profi, ein absoluter Politprofi, möglicherweise wird er sich auf diese neue Situation sehr gekonnt einstellen, aber für ausgeschlossen halte ich es nicht, dass es eine Episode, ein Interregnum oder ein Intermezzo wird.
    Kapern: Stefan Schieren, Politikwissenschaftler an der Katholischen Universität in Eichstätt. Herr Schieren, danke für Ihre Expertise, danke, dass Sie heute früh Zeit für uns hatten!
    Schieren: Ich danke Ihnen, Herr Kapern!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.