Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Lage der Flüchtlinge in Bosnien
"Bankrotterklärung der Humanität"

Neben den Behörden vor Ort trage auch die EU eine Verantwortung für die Situation der Flüchtlinge im Nordwesten Bosniens, sagte die SPÖ-Politikerin Nurten Yilmaz im Dlf. An der Grenze zu Kroatien komme es immer wieder zu illegalen Zurückweisungen. Das könne man so nicht hinnehmen.

Nurten Yilmaz im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 30.12.2020
Flüchlting in der Nähe des Flüchtlingscamps Lipa nache Bihac in Bosnien
"Verheerend" sei die Lage der Flüchtlinge in Bihac, sagt Nurten Yilmaz im Dlf (picture alliance / AA / Amar Mehic)
Das Flüchtlingslager Lipa in Bosnien ist vor Weihnachten von der Internationalen Organisation für Migration geräumt worden, nachdem die bosnischen Behörden es nicht winterfest gemacht hatten. Daraufhin wurden mehrere Zelte in Brand gesteckt. Seitdem harren die Menschen in unwürdigen Bedingungen dort aus. Berichten zufolge bringen die Behörden nun zahlreiche obdachlos gewordene Migranten aus dem Lager in feste Unterkünfte im Landesinneren.
"Die Situation der Flüchtlinge ist unbeschreiblich verheerend", sagte Nurten Yilmaz im Dlf. Die Politikerin ist seit 2013 für die SPÖ Mitglied des Nationalrates in Österreich und Bereichssprecherin für Integration im SPÖ-Parlamentsklub. Sie hat das Lager bereits besucht und hat Kontakte zu Hilfsorganisationen vor Ort. Sowohl die Europäische Union als auch die nationalen Behörden würden für diese Situation die Verantwortung tragen, so Yilmaz. Auch zur österreichischen Regierung dringe sie nicht durch. Sie frage sich, was mit dem Geld passiere, das die EU angeblich für die Flüchtlinge in Bosnien-Herzegowina bereitstelle.

Hilfsorganisation Care kritisiert Zusammenarbeit mit Behörden

Die Zusammenarbeit mit den bosnischen Behörden sei auf allen Ebenen extrem schwierig und "oft frustrierend", schildert auch Felix Wolff , Balkankoordinator der Hilfsorganisation Care. Es sei wichtig, dass Kompetenzrangeleien nicht auf dem Rücken der notleidenden Menschen ausgetragen würden. Dass die Organisation IOM das Camp Lipa geschlossen habe, sei "eine schwer nachvollziehbare Entscheidung" gewesen, denn viele Flüchtlinge hätten so den zumindest minimalen Schutz verloren.

Das Interview im Wortlaut:
Dirk-Oliver Heckmann: Wie beurteilen Sie die Situation der Flüchtlinge vor Ort? Wir haben es gerade schon gehört, die lokalen Behörden haben gestern einige Hundert Betroffene zumindest versucht, in feste Unterkünfte zu verlegen. Wie ist da Ihr Stand?
Nurten Yilmaz: Ja, ich habe gestern noch um circa 18 Uhr mit einem Aktivisten der NGO SOS Balkanroute, die vor Ort jetzt mit zwölf Leuten sind und den Flüchtlingen helfen und sie unterstützen, telefoniert, und der hat mir gesagt, dass circa 700 Leute in Busse gesetzt wurden und seit sechs Stunden die Busse nicht weggefahren sind. Ich kann das bestätigen, was der Herr Wolff gesagt hat, dass die Unterbringung noch nicht vollzogen war, zumindest gestern am Abend. Und was jetzt heute schon oder über Nacht passiert ist, weiß ich nicht, aber die Situation der Flüchtlinge ist unbeschreiblich verheerend.
Heckmann: Unbeschreiblich verheerend, können Sie das ein bisschen konkreter schildern, was Ihr Gewährsmann von SOS Balkanroute, einer aktivistischen Hilfsorganisation, Ihnen da berichtet hat, wie sieht es da aus, wie ist die Situation genau?

"Bankrotterklärung der Humanität"

Yilmaz: Es ist alles so aussichtslos, weil es auch keine Informationen gibt. Die Leute werden in Busse gesetzt zu 700, wissen nicht, wo sie hingebracht werden, frieren, haben keine entsprechende Kleidung. Wie wir wissen, hat es dort in der letzten und dieser Woche dort geschneit, es hat Minusgrade. Und was passiert dort: Es gibt keine menschliche Betreuung, wo sie auch erfahren – nicht einmal der Innenminister des Kantons weiß, wo sie hingebracht werden. Er wird zitiert mit dem, er ist froh, dass das jetzt passiert und die Leute nicht frieren müssen, aber wo sie hingebracht werden, weiß er nicht. Es gibt keine medizinische Versorgung, nahezu null. Und man muss auch bedenken, dass vor Ort die Stadt Bihac nur einen Rettungswagen hat, und zwar für die Gesamtbevölkerung – sowohl für Flüchtlinge als auch für die einheimische Bevölkerung. Deswegen ist es so unbeschreiblich, die Situation, sowohl für Flüchtlinge als auch für die einheimische Bevölkerung. Es ist eine große Überforderung, und von einer humanitären Krise kann man nicht mehr sprechen, es ist eine Bankrotterklärung eigentlich, was Humanität und für Europa, das ja Friedensnobelpreisträgerin ist, jetzt vor unseren Augen … Es betrifft mich umso mehr, weil es sind dreieinhalb Autostunden von Österreich entfernt.
Die Lage um das ehemalige Flüchtlingscamp in Bihac in Bosnien ist angespannt
Flüchtlinge in Bihac: "Die Menschen sind weiterhin Wind und Wetter ausgesetzt"
Die Lage rund um das ehemalige Flüchtlingscamp in Bihac sei bedrückend, berichtet die ARD-Korrespondentin Andrea Beer aus Bosnien. Hunderte Menschen hätten nur noch ein Zelt zur Verfügung, heftiger Regen habe den Boden aufgeweicht. Hilfe für die Menschen gebe es kaum.
Heckmann: Wer trägt aus Ihrer Sicht die Hauptverantwortung für diese Situation?
Yilmaz: Alle. Alle, sowohl die Europäische Union als auch die nationalen Verantwortlichen und Regierungen, selbstverständlich auch meine Regierung, zu der ich keinen Zugang finde, um Gehör zu verschaffen, dass wir da nicht zuschauen können. Es ist vielleicht kein Unionspartner, Bosnien und Herzegowina, aber das passiert alles auf europäischem Boden. Ich lasse es auch nicht zu, dass sie sagen, das ist nicht Europäische Union und so weiter, aber diese Verantwortung passiert auch in Griechenland nicht.

EU verantwortlich "weil auch Push-Backs passieren"

Heckmann: Ich wollte gerade sagen, Bosnien-Herzegowina ist ja nicht Teil der Europäischen Union. Weshalb halten Sie jetzt die Europäische Union für mitverantwortlich? Kann man denn der EU da eine Mitverantwortung zuschieben sozusagen, für Zustände, die die lokalen Behörden und auch die Zentralregierung in Bosnien-Herzegowina zu verantworten hat?
Yilmaz: Ja, weil auch Push-Backs passieren, die wir immer mehr – das waren Gerüchte vor eineinhalb Jahren noch, vor einem Jahr, und da ist die Verantwortung der EU schon auch zu besprechen. Es ist nachgewiesen, dass Push-Backs in Kroatien passieren …
Busse stehen in der Nähe des aufgelösten Flüchtlingslagers Bihac in Bosnien bereit. Sie sollen die Flüchtlinge dort in andere Unterkünfte evakuiere
Busse stehen in der Nähe des aufgelösten Flüchtlingslagers Bihac in Bosnien bereit. Sie sollen die Flüchtlinge dort in andere Unterkünfte evakuieren (picture alliance / AA / Amar Mehic)
Heckmann: Also illegale Zurückweisung an der Grenze, das sind die Push-Backs.
Yilmaz: Ja, illegale Zurückweisungen. Und da machen alle mit. Und alle wissen anscheinend davon. Diese Ignoranz ist einfach nicht zum Aushalten. Und wenn wir jetzt von Verantwortung der Europäischen Union sprechen, was macht die Europäische Union eigentlich in Griechenland? Inwieweit wird Griechenland zur Verantwortung gezogen, wo sie ja finanzielle Unterstützung auch bekommen? Angeblich bekommt ja Bosnien-Herzegowina auch von der EU finanzielle Unterstützung für die Betreuung der Flüchtlinge, ist okay, aber ist damit alles beendet? Was passiert mit dem Geld, was ist bis jetzt geschehen? Warum ist die Situation der Flüchtlinge in Bosnien-Herzegowina derart elendig? Ob da überhaupt …

"Kein Land gibt zu, dass es Push-Backs macht"

Heckmann: Pardon, wenn ich da einhake, wir haben nicht mehr ganz so viel Zeit, bis die Nachrichten kommen, trotzdem würde ich gerne eine Frage noch loswerden. Die kroatische Regierung, die weist das natürlich zurück, dass es illegale Push-Backs, wie Sie sagen, Zurückweisungen an der Grenze gibt, dennoch: Wir haben das ganze Jahr über diskutiert über eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik, muss man jetzt an dieser Stelle festhalten, davon ist nicht die Spur die Rede mehr?
Yilmaz: Genau. Es sind nur Lippenbekenntnisse. Kein Land gibt zu, dass sie Push-Backs macht, kein Diktator gibt zu, dass in dem Land, wo es die Vorwürfe gibt, gefoltert wird. Das ist das Problem. Wir müssen ein bisschen realistischer sein und nicht immer sagen, ja, gut, Kroatien weist das alles von sich zurück. Es gibt Videos, es gibt Berichte von Journalist*innen, es gibt auch Berichte von Menschenrechtsorganisationen aus Kroatien. Nehmen wir mal ein bisschen ernst diese Angelegenheit, so geht es auf jeden Fall nicht weiter. Das kann ich nicht so hinnehmen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.